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IV.

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Der Schreck traf ihn wie kaltes Wasser.

- Mummy, rief Darwin mit lauter, heiserer Stimme, die mit der Schwächlichkeit seines Körpers kontrastierte, und lief eilig ins Haus, in der einen Hand den aufgerissenen Umschlag, in der anderen das Schreiben von Wallace. Seine Stimmung war von einer Sekunde zur anderen umgeschlagen.

Als Emma Darwin sah, dass ihr Mann am ganzen Körper zitterte und völlig verstört war, drückte sie ihn so zärtlich, wie es ihrer kämpferischen Natur möglich war, auf die Couch im Wohnzimmer und legte ein ammoniakgetränktes Tuch auf seine Stirn.

Die Porträts der Verwandten, in einer Reihe über dem englischen Buffet altarähnlich drapiert, blickten ernst auf das Paar herab. Sie hatten, so schien es, ihren wohlwollenden Gesichtsausdruck verloren. Emma nahm ihrem Mann wortlos den Brief von Wallace aus der Hand, aber außer Freundlichkeit, einer gewissen Selbstverliebtheit und Freude an der Beschreibung von Farbe und Form fiel ihr nichts weiter auf. Wortlos zeigte Darwin auf den letzten Abschnitt des Schreibens. Dort erklärte Wallace, dass er den Brief in einem kleinen Haus in der Nähe des Vulkankraters des Santubong auf Borneo geschrieben habe. Er sei sehr einsam, klagte der Kollege, und er habe während der langen Abende und sehr nassen Tage in der Regenzeit nichts anderes zu tun gehabt, als seine alten Papiere zu ordnen, Bücher von Alexander von Humboldt und Charles Lyell zu lesen und über Dinge nachzudenken, die ihn schon lange interessiert hatten. Das Ergebnis seiner Bemühungen, die Einsamkeit zu vertreiben, war ein Essay über Evolution, den er beilege. Er würde gern wissen, was er, Darwin, der erfahrene und geschätzte ältere Kollege, von dieser Arbeit halte. Emma Darwin verstand nicht, was daran problematisch sein sollte und sah ihren Mann noch immer fragend an.

Draußen hatte es zu regnen begonnen. Darwin hielt es nicht auf dem Sofa. Er sprang auf und lief unruhig umher.

- Es ist der schwärzeste Tag meines Lebens. Wallace hat in seinem Essay genau das formuliert, was ich geschrieben habe. Er hätte keine bessere Kurzfassung meiner eigenen Ideen geben können, wir verwenden sogar ähnliche Begriffe und Überschriften. Er schwieg und fuhr dann traurig fort:

- Wie kommt es, dass zwei Leute an unterschiedlichen Orten in der Welt zu denselben Schlussfolgerungen kommen?

Darwin nahm den Text des Konkurrenten in die Hand und las mit nervöser Ergriffenheit, die in steigende Verbitterung überging, Stichwörter aus Wallace’ Text vor. Es war ihm völlig egal, ob seine Frau nachvollziehen konnte, worum es ging.

- Arten, die durch Zucht entstanden sind, sind instabil, natürliche Arten ebenfalls, deklamierte er.

- Das Leben der wilden Tiere basiert auf einem Existenzkampf, in dem der Schwächere unterliegt. Der Schwächere kann der Jüngste, der Ältere, der Kranke sein. Nur derjenige überlebt, der sich bester Gesundheit erfreut und am lebenstüchtigsten ist, der am besten Nahrung erreichen und die Feinde abwehren kann.

Darwin bemerkte nicht, wie seine Frau blass wurde und sich sogar bekreuzigte, als er die Kranken erwähnte, die im Kampf ums Dasein unterliegen würden.

- Es gibt ein bestimmtes konstantes Verhältnis zwischen den Tieren, fuhr Darwin fort, es muss weniger Fleischfresser als Pflanzenfresser geben, es kann niemals so viele Adler und Löwen geben wie Tauben und Antilopen, die Wildpferde der tatarischen Steppen können nicht die ähnliche Anzahl der Pferde erreichen wie die nahrungsreichen Prärien und Pampas Amerikas. Einige, wenn nicht sogar alle Änderungen der typischen Form einer Spezies müssen einen definierten Effekt auf das Verhalten oder, allgemein gesprochen, auf die Kapazitäten des Individuums haben. Jede kleine Änderung der Farbe kann von Bedeutung für das Überleben sein, weil sie die Sicherheit beeinträchtigt, auch mehr oder weniger Haare können das Verhalten beeinträchtigen.

Darwin machte eine Pause, als stehe er auf einer Theaterbühne. Er verbeugte sich. Dann griff er wieder nach dem Text des Konkurrenten, als wolle er sich selbst quälen. Mit finsterer Miene zitierte er Wallace’ Hinweis auf Antilopen mit schwächeren Beinen, die es hinnehmen müssten, häufiger von Raubkatzen attackiert zu werden als ihre stärkeren Artgenossen. Auch Tauben ließ er nicht aus, jene mit weniger starken Schwingen hätten Nachteile bei der Nahrungsbeschaffung zu erleiden. Überhaupt hatte sich Wallace offenbar besonders für Vögel interessiert, Vögel, die sangen, balzten und alle vertrieben, die weniger gut singen und balzen konnten.

- Er hat recht, rief Darwin aus, ich habe es gesehen. Die Blaufußtölpel auf Galápagos zeigen mit dem Schnabel, der Schwanzspitze und den Flügeln zum Himmel und außerdem präsentieren sie dem Weibchen ihre riesigen blauen Füße. Sie verbrauchen ihre ganze Kraft, laufen um das Weibchen herum und führen einen eigenartigen Tanz auf.

Auch die Fregattvögel waren ihm als prächtige Studienobjekte für das Recht des Stärkeren erschienen. Diese Räuber, die, so schien es im Flugbild, aus lauter Dreiekken zusammengesetzt waren und niemals selbst fischten, sondern nur anderen Vögeln die Beute wegnahmen, bliesen ihren roten Kehlsack auf und legten im Nest die Schwinge um die Umworbene. Der rote Kehlsack machte Eindruck. Die Landwarane verfärbten sich vor dem Paarungsritual, etwa so wie ein Mensch, der rot wird, und umkreisten dabei schnüffelnd, so schien es, das Weibchen. Zwischendurch knabberten sie mit gespielter Langeweile an den herzförmigen Blättern der Opuntien.

Um Gottes willen, dachte Emma Darwin und blickte zu den Kindern. Aber die, gerade vom Spielen hereingekommen, dachten an nichts anderes als an eine große Theatervorstellung.

Darwin schwieg und sah aus, als erinnerte er sich sehr genau daran, wie er sich auf einen Lavabrocken in den Schatten gesetzt und zugeschaut hatte. Paarungen, Geburten, Sterben, fressen, gefressen werden, das war es im Wesentlichen, was auf Galápagos passierte. Die Landwarane, die stets aussahen, als lächelten sie, weil sie ein breitgezogenes Maul hatten, ließen sich mit der Paarung Zeit, zogen allerdings den Kreis um das weibliche Tier immer enger. Dabei richteten sich die Hautausstülpungen am Kopf auf, die wie ein Kamm mit groben Zinken aussahen. Es konnte stundenlang dauern. Irgendwann, Darwin hatte inzwischen Wasser getrunken, seine Frühstücksbrote verzehrt, sein Haar gekämmt, seine Kleidung, die vom Kot der Tölpel verschmutzt war, notdürftig gereinigt, seine Aufzeichnungen ergänzt und ein wenig geschlafen, hatte sich das weibliche Tier blau und rot gefärbt und mit dem Kopf genickt. Na also, hatte Darwin gedacht und registriert, dass nur die Riesenschildkröten für das Paarungsritual noch viel länger gebraucht hatten.

Auch der Schlussfolgerung, die der junge Wallace aus seinen Beobachtungen gezogen hatte, konnte Darwin nur zustimmen: Am Ende all dieses Konkurrenzkampfes stand die Ausbildung einer neuen Varietät, die den Lebensbedingungen, wo auch immer, besser angepasst war, die alte Spezies verdrängte und schließlich unwiderruflich ersetzte. Niemals konnte sie sich zurückentwickeln.

- Er hat recht, er hat recht, rief Darwin noch einmal aus, schlug auf den Tisch und brachte damit die Sauciere mit den Lotosblumen, das einzige Porzellan, das Darwin aus der Firma der Familie seiner Frau im Wohnzimmer geduldet hatte, zum Tanzen.

- Um Gottes willen, trink etwas Wasser, sagte Emma und schob ihrem Gatten ein Glas hin.

Der wirkte zusehends zerzaust, beachtete das Glas nicht und zitierte noch Wallace’ Ausführungen über den Unterschied zwischen Haustieren und Wildtieren. Die Wildtiere kamen, so schien es, aus moralischen Gründen viel besser weg als die Haustiere, mussten sie sich doch in der freien Natur durchsetzen, sich behaupten, während die verhätschelten Haustiere mit ihren abgestumpften Sinnen nur auf Futter aus Menschenhand warteten. Dabei war ihre Spezies nicht einmal stabil.

Die Kinder schauten inzwischen ein wenig ängstlich drein.

Darwin zitierte wörtlich: Domestizierte Tiere sind abnorm, unregelmäßig, künstlich; sie sind Abweichungen unterworfen, welche nie im natürlichen Zustande vorkommen können: ihre Existenz ist ganz und gar von menschlicher Sorgfalt abhängig. Selbst Polly, der Hund, oft Objekt der Verhaltensstudien des Hausherrn, blieb völlig still und verkroch sich, eingedenk seiner Nichtsnutzigkeit und Unwürde, unterm Sofa. Was nützte es, dass er gerade gelernt hatte, auf zwei Beinen zu stehen und sich im Kreis zu drehen wie ein Zirkuspferd? Hatte nicht auch er jeden Instinkt abgelegt, der ihn zum Überleben in freier Wildbahn befähigen würde? Nahm er nicht sogar vom Hausherrn kandierte Veilchen an?

Darwin setzte sich erschöpft nieder.

Schaute ihn gerade der Teufel mit seinen Heerscharen an, wie er es als Illustration in Miltons »Lost Paradise« gesehen hatte? War er es nicht, der die Beziehung zwischen Starken und Schwachen gestaltete? War nicht der Teufel die eigentliche Hauptperson? Darwin dachte an seinen Finanzberater und daran, dass er, Charles Darwin, zuweilen für eine halbe Stunde unter eine Wolldecke kroch, um über den Kauf oder Verkauf von Aktien nachzudenken.

- Charles, hast du deine Tabletten genommen?, fragte seine Frau sanft und besorgt und fühlte ihm den Puls.

Darwin verzog das Gesicht und benahm sich so, als zittere sein Puls dünn und schwach wie eine Spinnwebe, was aber nicht stimmte.

- Unsere Zeit ist so nüchtern, ein Drama ohne Helden und ohne Begeisterung, sagte er plötzlich, da ist es gut, dass so etwas geschieht. Alle lachten, Darwin selbst am lautesten. Haustiere. Na und. Was ist so schlimm daran? Draußen modulierten die Amseln einen kapriziösen Nachmittagsgesang, der Schatten einer dünnen, zerzupften Sommerwolke lag zitternd auf der Grasfläche im Garten. Was für eine Kraft hat doch das Licht, dachte Darwin für einen Moment, und wie trügerisch ist der Frieden!

Im letzten Tageslicht, das schräg ins Wohnzimmer einfiel und jedes der tanzenden Staubkörner beleuchtete, wurden die tiefen Falten in Darwins Gesicht sichtbar, sein ganzer Körper wirkte plötzlich schlaff, mutlos und verbraucht. Er hob die Arme wie jemand, der ein höheres Wesen anflehen wollte und ließ sie plötzlich entmutigt sinken, als sähe er ein, nicht auf Beistand hoffen zu können. Mehr als zwanzig Jahre lang hatte er über das Thema »Evolution« nachgedacht, und nun kam ihm ein junger Mann zuvor, der auf dem Malayischen Archipel ähnliche Beobachtungen gemacht hatte wie er selbst auf seiner Reise durch Südamerika.

- Ich werde ihm den Vortritt lassen, beschloss Darwin bitter, nicht ohne Hang zur Dramatik, und erhob sich mit einem Schwung aus dem Sessel, in den er sich kurz vorher knurrend geworfen hatte. Dann fiel ihm ein, dass er eine ähnliche Situation schon einmal erlebt hatte – 1846 publizierte sein Kollege Edward Forbes eine Theorie der Entstehung der Eiszeit, die er selbst, Charles Robert Darwin, Jahre zuvor ausgearbeitet, aber nicht veröffentlicht hatte. Es ging um die Erklärung des Vorhandenseins der nämlichen Arten von Pflanzen und einigen Tieren auf entfernten Berggipfeln und in den arktischen Regionen mit Hilfe der Eiszeit. Er hatte damals gelernt, was Enttäuschung ist. Aber nun kam es ihm vor, als sei dieses frühere Erlebnis eher eine kleine, unwichtige Enttäuschung im Gegensatz zu jener, die seine wissenschaftliche Arbeit der letzten 15 Jahre in Frage stellte. War er zu bescheiden? Zu nachgiebig? Sollte er sich verdrängen lassen und alles würde sich wiederholen?

- Ich werde ihm den Vortritt lassen. Diesen Satz wiederholte Darwin den ganzen Abend lang mit Pathos, das er als christlich empfand, Stunde um Stunde wie ein Schauspieler, der seinen Text auswendig lernt. Generös, Lehrer, Schüler, Jugend, traurig, diese Vokabeln, die seine Kollegen aussprechen würden, purzelten in seinem Kopf durcheinander und hinterließen ein Gefühl von Erhabenheit. Aber wer würde sein Opfer zur Kenntnis nehmen? Und vor allem: Wäre Wallace überhaupt in der Lage, alle jene Beweise anzuführen, die er, Charles Robert Darwin, gefunden hatte?

Emma Darwin sagte zunächst nichts, weil sie wusste, dass es momentan keinen Zweck haben würde. Sie gab sich aber viel Mühe, ihren Mann abzulenken. Sie spielten Billard und Backgammon, nur konnte Darwin sich nicht konzentrieren und sie brachen ab.

Gegen Mitternacht erlitt Darwin einen Anfall, sein Gesicht war geschwollen, über und über mit roten Flecken bedeckt und er litt an Atemnot. Emma Darwin kannte diese Zustände, die nach seiner Schilderung mit feurigen Speichen und dunklen Wolken vor den Augen begannen und in heftigem Frösteln und Übelkeit mündeten. Diesmal schien es besonders schlimm zu sein. Er sah seine Frau mit dem Ausdruck tiefster Mattigkeit an und gab sich Mühe, tief und ruhig zu atmen, wie sie und der Arzt es ihm beigebracht hatten. Dann stand er mit ihrer Hilfe vorsichtig auf, schlurfte in sein Arbeitszimmer und sie begannen mit der Kaltwasserkur. Das Prinzip dieser Kur bestand darin, durch den Wechsel von Hitze und Kälte die Durchblutung anzuregen. Dr. Gully, Wasserspezialist aus Great Malvern, hatte das die »Blutgefäße zum Turnen bringen« genannt. Eigentlich hatte diese Kur nach einem von Dr. Gully entwickelten strengen Ritual abzulaufen und Darwin litt jedes Mal an schlechtem Gewissen, wenn er die Prozedur vereinfachte. Er ließ sich drei Minuten lang von seiner hochschwangeren Frau mit einem kalten Handtuch abreiben, danach schrubbte sie hinten, er vorn. Anschließend trank er ein Glas Wasser, kleidete sich so rasch wie möglich an und ging für zwanzig Minuten lang im Haus auf und ab, wobei er eine Kompresse aus einem breiten, zusammengefalteten nassen Leinentuch trug, die durch einen gummierten Stoff abgedeckt wurde. Diese Kompresse, die Neptun-Gürtel hieß, wurde alle zwei Stunden erneuert. Zu seinem Leidwesen durfte Darwin während der Behandlung keine Süßigkeiten essen, keinen Tabak schnupfen, überhaupt nichts tun, was ihm Spaß machte. Das Schlimmste aber war der Spott seiner Kinder, die ihren Vater mit einem feuchten Frosch verglichen.

Darwin

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