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Von Freund zu Feind

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Mit steifen Beinen stand er auf dem Bürgersteig. Vor ihm versperrte Mankowski den Weg nach Hause. Robin sah ihn nicht oft. Aber wenn er ihn sah, endete es jedes Mal mit einer Flucht seinerseits in das nächste Gebüsch oder auf den nächstbesten Baum. Der Mann hob seinen Gehstock und schimpfte:

„Da bist du wieder, du Biest. Ihr grabt meine Beete um, ihr bepinkelt und verätzt meine Rosen, ihr jault nachts, und ich kann nicht schlafen!“

Robin machte einen Buckel und stellte seinen Schwanz steil auf. Dann sträubte er seine Haare entlang des schwarzen Haarstreifens auf seinem Rücken und seinen grau-schwarz getigerten Schwanz machte er buschig wie einen Staubfeudel. Er knurrte. Mit diesen Drohgebärden hatte er bisher jeden Rivalen in die Flucht geschlagen.

„Was? Willst du etwa frech werden?“ Der Alte schrie auf Robin ein und ging einen Schritt auf ihn zu. Kein anderer Kater, den Robin kannte, hielt so lange einem schreienden Menschen stand. Als der alte Mann mit erhobenem Stock auf Robin zukam, war es auch ihm zu viel. Er machte aus dem Stand einen Sprung, drehte sich um 45 Grad in der Luft und rannte in weiten Sätzen auf den großen Kastanienbaum zu, der in dem Garten des Hauses stand, das seit einiger Zeit sein Zuhause war. Mit einem gewaltigen Satz landete er einen Meter hoch an dem dicken Stamm und kletterte bis zum ersten Ast. Seine Vorderbeine hatte er dabei breit ausgefahren, als wollte er den Stamm umarmen. Mit den Hinterbeinen stieß er sich immer wieder kräftig ab. Dann sprang er von Ast zu Ast, bis er auf den Balkon des vierten Stocks springen konnte. Vor der Balkontür setzte er sich hin, hob die rechte Vorderpfote und klopfte an.

Durch die Scheibe sah Robin, wie Johanna Schöning mit einem Geschirrtuch über der Schulter aus der Küche kam. Sie lächelte, als sie ihn erblickte und öffnete die Balkontür. Robin wollte in die Küche laufen. Da fiel ihm ein, dass er sich noch nicht gedrückt hatte. Drücken mochten seine Besitzer besonders gerne. Also lief er zurück und drückte sich an Johannas Beine. Sie beugte sich hinunter und streichelte über seinen Rücken. Das wiederum mochte Robin gerne. Er buckelte der streichelnden Hand entgegen.

Das Telefon klingelte. Johanna lief in den Flur, Robin in die Küche. Es war Zeit fürs Abendessen. Er spähte in die Ecke hinter der Tür, wo seine Fressnäpfe normalerweise standen. Nichts. Robin hob den Kopf und schnüffelte. Er roch Fisch. Johannas Stimme kam immer noch aus dem Flur. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, auf die Arbeitsplatte zu springen. Nicht, dass es zu hoch wäre. Es war verboten. Deshalb tat er es nur, wenn niemand seiner Besitzer in der Nähe war. Sein Magen war leer, die Maus war ihm vorhin entwischt. Zwar hatte er sie schon zwischen seinen Zähnen, schlaff hing sie in seinem Maul, der Kopf zur einen Seite heraus, der Schwanz zur anderen. Doch als er sie absetzte, um ihr den Kopf abzubeißen, war sie plötzlich auf und davon geflitzt.

Mit einem Satz war Robin auf der Holzplatte. Dort lagen drei Forellen auf einem Teller. Der Kater schnappte sich eine und wollte mit ihr unter dem Tisch verschwinden.

„Oh nein!“, rief Johanna, die just in diesem Moment in die Küche kam. Sie schwenkte das Geschirrtuch.

„Gehst du da runter!“, rief sie noch lauter, als Robin nicht von dem Fisch lassen wollte. Das Tuch sauste auf sein Hinterteil nieder. Es tat nicht weh, aber es war unangenehm. Er ließ den Fisch Fisch sein, sprang von der Arbeitsplatte und setzte sich in die Mitte der Küche. Er hatte Hunger und Johanna war sauer. Wenn sie sauer war, gab es kein Futter. Also musste er Johanna versöhnen, damit er sein Abendessen bekam. Er begann zu schnurren. Johanna ignorierte ihn und spülte die Fische unter dem Wasserhahn ab. Robin ging zu ihr und presste sich an ihre Beine. Johanna schob ihn zur Seite und trocknete den Fisch mit einem Papiertuch ab. Robin war einen Schritt weiter. Wäre sie noch sehr ärgerlich, würde sie ihn aus der Küche verbannen. Er warf sich auf den Küchenfußboden, der dank der Fußbodenheizung warm war, und rollte sich hin und her. Dann streckte er sich und miaute auffordernd. Johanna grinste. Robin hatte gewonnen. Zum Abendessen gab es für ihn Forelle mit Gartenkräutern.

Eine Stunde später saß Robin drei Stockwerke unter der Wohnung von Schönings in der Braunfelsschen Wohnung im Flur. Hier hoffte er auf einen Nachschlag. Weil Johanna meinte, er sei zu dick, bekam er gerade so viel, dass der ärgste Hunger gestillt war.

„Ich weiß nicht, Jens“, sagte Elke Braunfels gerade in der Küche.

„Wieso denn nicht?“, fragte Jens. „Überleg mal: Es ist nicht nur so, dass wir uns um sie kümmern müssen. Sie kümmern sich auch gewissermaßen um uns.“

„Katzen?“ fragte Elke mit erhobener Stimme. „Wie sollten sich Katzen um uns kümmern?“

Jens seufzte. „Hör´ mal, meinst du, ich merke nicht, wie du seit … seit damals traurig bist?“

„Ich kann nichts für die Fehlgeburt“, sagte Elke mit schriller Stimme. „Ich …“

„Das habe ich doch auch gar nicht gesagt! Mein Gott, schon so oft haben wir darüber gesprochen und jedes Mal enden wir am selben Punkt.“

Robin ging zur Küche, blieb auf der Türschwelle sitzen und beobachtete das Paar. Jens und Elke bemerkten ihn nicht. Sie schwiegen. Saßen steif am Tisch und starrten sich an. Sie mussten in Kampfstimmung sein, dachte Robin. Wenn er einen Artgenossen derartig anstarrte, lag Spannung in der Luft.

„Du hast selbst gesagt, dass du dich manchmal alleine fühlst“, sagte Jens in beruhigendem Tonfall. „Gerade mittags, wenn du aus der Blumenhandlung kommst und hier niemand ist, in der Wohnung, meine ich.“

„Glaubst du, dass mir Katzen Gesellschaft leisten könnten?“ Elke schaute vom Fenster zur Tür. „Ach, wo kommst du denn her?“, sagte sie überrascht und Jens folgte ihrem Blick. Er lachte. „Wenn man vom Kater spricht.“

„Bestimmt hast du wieder die Balkontür im Wohnzimmer nicht richtig zugemacht“, sagte Elke schnippisch. Jens antwortete nicht, sondern ging zum Kühlschrank und goss Katzenmilch in eine Schale. Robin trank. Die Milch war zwar kalt, aber sie füllte den Magen.

„Vielleicht hast du recht“, sagte Elke und beobachtete ihrerseits den Kater. „Er hat etwas Beruhigendes. Und wie er mich anschaut. Als ob er verstehen würde, was ich sage.“

„So ist es“, miaute Robin bestätigend.

Elke lachte.

„Aber wenn schon, dann gleich zwei. Eine Katze und einen Kater. Und Junge sollen sie haben.“ Robin hörte auf, die Milch zu schlabbern, setzte sich auf und spitzte die Ohren.

„Geht das nicht etwas schnell?“, fragte Jens. „Zuerst willst du gar keine und auf einmal eine Katzenzucht?“

„Ich hab´s dir nicht gesagt, Jens, aber ich denke darüber schon eine Weile nach.“ Elke stand auf und ging ins Nachbarzimmer. Kurz darauf kam sie mit einem Prospekt in der Hand wieder rein. „Hier. British Shorthair. Sehen die nicht knuffig aus?“

Jens blätterte in dem Prospekt.

„Wie ein Teddy, selbst als ausgewachsene Katze noch“, antwortete er. „Und so eine Art Hamsterbacken haben sie, dadurch sehen sie wirklich drollig aus.“

Robin plusterte seine Backenhaare auf. Er miaute vorwurfsvoll. Rassekatzen! In all den Jahren, die er im Tierheim verbracht hatte, hatte er schon einige von ihnen kommen und gehen sehen. Das Gehen war bei ihnen immer schneller gegangen als bei den anderen. Mischlinge wie er, Europäisch Kurzhaar zwar, aber mit einem Schuss Perser, hatten schlechtere Karten, von dort wegzukommen. Vor allen Dingen mit einer Allerweltszeichnung wie er, oben grau-schwarz getigert, Brust, Bauch und Beine weiß. Wenn er es sich genau überlegte, so schlecht war es gar nicht gewesen. Die Tierpflegerinnen und Tierpfleger waren nett, besonders die eine, er konnte sich ob seiner Größe unter all den anderen Katzen und Katern gut behaupten und zu Fressen gab es auch genug – zumindest wenn man sich beeilte, an den großen Napf zu kommen, der für mehrere Katzen reichen musste. Deshalb drängte er sich nie in den Vordergrund, wenn Besucher kamen. Man wusste nie, an wen man geriet. Dann wurde er zum Lebensretter des Kätzchens, weil Flora sich nicht gekümmert hatte. Dieser Tag veränderte alles. Nie hatte Robin viel für Katzenwürfe übrig. Aber dieser kleine Kerl lag hilflos auf dem kalten Betonboden, da konnte er nicht anders als sich um ihn kümmern. Überall wackelte der Welpe hinter ihm her, sobald er laufen konnte. Robin kam sich wie ein Vater vor.

Als der Kleine etwa sechs Monate alt war, erzählte er Robin von seinem Verdacht: Dass sein Geschwisterwelpe keines natürlichen Todes gestorben sei, dass er zwar noch keine Beweise habe, aber schon wisse, wo er ansetzen müsse. Einen Monat später verschwand er plötzlich. Am helllichten Tag, ohne ihm Lebewohl zu sagen. Vermutlich im Kofferraum des Mannes, der regelmäßig das Futter brachte, wie Robin die Tierpflegerinnen untereinander hatte reden hören.

An diesem Tag fasste Robin einen Entschluss: Er würde den Schwarz-Weißen finden und er würde ihm helfen herauszufinden, warum dessen kleiner Bruder gestorben war. Dafür musste er das Tierheim verlassen. Die Gelegenheit war da, als die Schönings kamen um sich eine Katze auszusuchen. Kaum hatte sich Stefan in die Mitte all der Katzen auf einen Hocker gesetzt, sprang Robin auf seinen Schoß. Er hatte sich seine Besitzer ausgewählt.

„British Shorthair?“, fragte Elke und riss Robin aus seinen Gedanken.

„Also gut“, stimmte Jens zu.

Robin rümpfte die Nase. Dann lief er in den Flur und miaute fordernd vor der verschlossenen Wohnungstür. Jens ließ den Kater ins Treppenhaus.

Die Schönings waren mit dem Abendessen fertig. Stefan bestückte die Spülmaschine, wusch zwei Töpfe mit der Hand. Johanna saß am Esstisch im Wohnzimmer und las die Wetterauer Zeitung.

„Na, was ist los in unserer Kleinstadt?“ fragte Stefan.

„Och, das Übliche halt. `Auto gerammt und weg´, `Landfrauen feiern 20-Jähriges´, `Erwin Rosbach gewinnt zum dritten Mal bei Allgemeiner Rassegeflügelschau´.“

Stefan grinste. „Beschaulich geht´s zu bei uns. Das liebe ich.“

„Na ja, mir ist das manchmal zu beschaulich.“

„Aber für Robin gerade gut“, sagte Stefan. „Besonders hier in der Freiherr-von-Stein-Straße. Sackgasse, kein Durchgangsverkehr, viele Gärten.“

Johanna wiegte den Kopf. „Das schon, aber die B 3 ist nicht weit. Hoffentlich passiert ihm da nichts.“

„Glaub´ ich nicht. Hast du schon mal gesehen, wie viel Angst Robin vor Autos hat? Bestimmt wagt er sich nicht einmal in die Nähe der Bundesstraße.“

Johanna blätterte weiter in der Zeitung.

„Oh!“, sagte sie erschreckt.

„Was ist?“

„`Totgeburt im Tierheim´, hier ist im Tierheim Amalienhof“, Johanna hielt inne und schaute Robin an, der mit einem Mal auf der Türschwelle saß.

„Wo warst du schon wieder, hm?“

„Futter fassen“, miaute Robin vorwurfsvoll. „Du gibst mir ja nicht genug.“

Johanna las weiter.

„`Vor einem Monat hatte eine Katze im Tierheim Amalienhof in Butzbach eine Frühgeburt. Vier Wochen vor dem Geburtstermin kamen drei Welpen zur Welt. Sie überlebten nur mit viel Mühe der Tierpfleger. Vor einem Jahr hatte die gleiche Katze schon einmal eine Fehlgeburt, dabei war ein Kätzchen bei der Geburt gestorben. Die Mitarbeiter haben Grund zu der Annahme, dass äußere Einflüsse der Grund für die Früh- und Totgeburten sein könnten. Bisher reichen die Beweise jedoch nicht aus, um damit zur Polizei zu gehen. Die Tierpathologie in Gießen müsste die Katze untersuchen, diese Untersuchungen sind teuer. Das Tierheim bittet nun um Spenden. Spendenkonto und so weiter.´“

Robin hatte mit gespitzten Ohren Johannas Worten gelauscht. Tierheim Amalienhof, die Kätzchen. Er knurrte bei dem Gedanken an den kleinen Schwarz-Weißen, dem er sieben Monate lang ein Vater gewesen war und der sich dann einfach aus dem Staub gemacht hatte.

Johanna und Stefan blickten überrascht zu ihrem Kater.

„Was hat er denn?“ fragte Stefan.

„Keine Ahnung, vielleicht ist ihm mal wieder eine Fliege entwischt“, antwortete Johanna.

„Wenn ihr wüsstet“, brummte Robin wütend.

„Ich muss noch Unterricht vorbereiten“, sagte Johanna und stand auf.

„Ich auch“, sagte Stefan und hängte das Geschirrtuch an die Hakenleiste hinter der Tür.

„Wer fährt morgen mit Robin zur Tierärztin wegen der Impfung?“, fragte Johanna. „Kannst du das machen? Ich habe morgen Abend noch eine AG.“

„Meinetwegen. Aber dann musst du die Getränke einkaufen.“

„Schon wieder? Immer diese Schlepperei“, nörgelte Johanna.

„Warum beschwerst du dich? Es sind nur die paar Schritte vom Auto bis zum Eingang, und dort kannst du die Kisten und Flaschen in den Aufzug stellen.“

Johanna seufzte.

„Unseren Vorbesitzern aus der Hotellerie sei Dank.“

„Nicht nur denen. Erinnerst du dich an die Eigentümerversammlung vor drei Jahren, als die früheren Bewohner aus dem zweiten Stock den einstigen Speisenaufzug ausbauen lassen wollten?“

„Was ein Glück, dass sie sich damit nicht durchsetzen konnten.“

„Stimmt“, entgegnete Stefan. „Aber ein Gutes hatte ihr Vorstoß. Seit dem sind die hässlichen Knöpfe für die Bedienung des Aufzugs weg. Die hölzernen Verzierungen, die sie ersetzen, passen viel besser.“

Robin brummte und verließ die Küche. Er sprang auf seinen Kratzbaum und legte sich auf das oberste Podest. Den Kopf legte er auf seine Vorderpfoten, schaute zur Balkontür hinaus und sinnierte. Zur Tierärztin ging es immer abends. Wenn er zu spät von seinem Ausgang zurückkam, bliebe ihm dieser Weg vielleicht erspart. Eine Amsel setzte sich auf das gusseiserne Balkongeländer. Robin beobachtete den Vogel ohne großes Interesse. Satt und schläfrig schloss er die Augen und hörte die Amsel zwitschern. Minuten später rannte er durch eine Wiese, deren Gräser höher als er selbst waren. Es war Sommer, überall standen Blumen, blaue und weiße und diese hohen, grünen Gewächse mit den Stacheln. Aus dem Stand sprang er in die Höhe und dabei immer wieder ein paar Zentimeter weiter. Als er nach einem solchen Satz neben einem der stacheligen Gewächse landete, saß dort der kleine Schwarz-Weiße. Er piepste weinerlich. Robin wollte auf ihn zugehen, aber plötzlich war sein früherer Gefährte nicht mehr dort, sondern schwebte ein paar Meter weiter über dem hohen Gras.

„Hilf mir“, piepste er. „Hilf mir, ich schwebe davon.“

„Warte, bleib hier, warte auf mich“, rief ihm Robin nach.

„Ich kann nicht“, rief der Kleine.

„Warum nicht?“

Als keine Antwort kam, sprang Robin mit einem hohen Satz in die Luft, um den Schwarz-Weißen festzuhalten. Aber er griff mit seinen Vorderpfoten ins Leere und fiel von seinem Podest auf das darunterliegende. Er schüttelte sich, schaute im Wohnzimmer umher um sich zu vergewissern, dass dort kein anderer Kater herumschwebte.

Kein Wunder, dass er diesen Traum hatte. Seit er bei den Schönings war, war es ihm nicht gelungen, eine Spur von seinem einstigen Schützling zu finden. Keine der anderen Katzen in der Gegend hatte einen Kater gesehen, auf den die Beschreibung passte. Morgen würde er seinen Suchradius auf außerhalb seines Reviers ausdehnen müssen. Sein Rückenhaar sträubte sich unwillkürlich bei dem Gedanken, dass der Schwarz-Weiße alleine da draußen unterwegs war und denjenigen suchte, der seinen Bruder auf dem Gewissen hatte.

Robin hob seinen Kopf und schnüffelte in der Luft. Eine Meise hatte sich unvorsichtig auf dem dicken Ast der Kastanie, der bis an das Balkongeländer reichte, niedergelassen. Robin duckte sich an den Boden und schlich an das Geländer, das mit Schilfrohr umkleidet war. Die Meise konnte ihn nicht sehen. Er schnellte aus dem Stand nach oben auf das Geländer, doch der Vogel flatterte aufgeregt zwitschernd davon. Mit sicheren Pfoten schritt er auf dem Ast bis zum Baumstamm und kletterte durch das Geäst kopfüber nach unten. Auch das machte ihm kaum eine andere Butzbacher Katze nach. Die meisten kletterten rückwärts nach unten. Sein erster Gang führte ihn wie jeden Morgen zu einem der Rosenbeete hinter dem Haus. Dort war die Erde locker und er konnte sein großes Geschäft leicht vergraben. Gerade hatte er sich in die richtige Position gesetzt, da stach ihn etwas Spitzes ins Hinterteil. Er miaute laut, sprang nach vorne und drehte sich herum, um die Ursache des Schmerzes zu entdecken. Im lockeren Erdreich steckten kleine Holzspieße. Sie waren fast so braun wie die Erde, deshalb hatte er sie nicht gesehen. Robin ging einen Schritt zur Seite, als ihn etwas Spitzes in die Tatzen stach. Wieder miaute er, diesmal empört und machte einen Satz aus dem Blumenbeet heraus. Er inspizierte das Beet genauer und entdeckte die kleinen Holzspieße überall in der Erde um die Rosenstöcke herum.

„Damit hast du nicht gerechnet, wie?“, sagte hinter ihm eine Männerstimme. Dann ein gehässiges Lachen. Mankowski stand, auf seinen Gehstock gestützt, am Rand der Wiese. „Ich treibe es euch Stinktieren schon noch aus.“

Robin fauchte, entschloss sich aber, es diesmal nicht auf eine Konfrontation ankommen zu lassen. Er drückte sich durch ein Loch in der menschenhohen Hecke in den Nachbargarten. Dort gab es auch Beete.

Robin durchquerte sein Revier zielstrebig. Nicht jedoch, ohne zu markieren. So viel Zeit musste sein. Hier sein Durchschlupf durch die Koniferenhecke, da der Stapel mit Brennholz drei Gärten weiter, dort sein Brombeerbusch am Gartenhäuschen. Überall stellte er seinen Schwanz steil in die Höhe und presste den Harnstrahl aus seinem Hinterteil. Sein Schwanz zitterte dabei. Wenn er den Duft eines Artgenossen roch, presste er besonders viel heraus, um den rivalisierenden Geruch zu überdecken.

Sein Magen meldete sich, deshalb trabte er voller Zuversicht auf reichhaltigen Erfolg seinem Mauseloch entgegen. Es war nicht irgendein Mauseloch. Es war DAS Mauseloch von Butzbach. Hier gab es die meisten Mäuse und nicht nur die meisten, sondern offenbar auch die dümmsten. Normalerweise verbreiteten sich Katzenangriffe auf die Mäusebevölkerung in Windeseile unter den kleinen Nagern. So kam es, dass er ein Mauseloch nie öfter als drei- oder viermal besuchte. Dann buddelten sie sich andere Gänge und andere Mäuselöcher. Die Mäuse waren normalerweise nicht dumm. Aber hier war das anders. Seit Wochen schon kam Robin täglich hierher und fast jedes Mal schnappte er eine.

Das einzige, das die uneingeschränkte Vorfreude auf die leichte Beute trübte, war die breite und viel befahrene Bundesstraße zwischen dem Kern seines Reviers und dessen Außenbezirken, in denen das Mauseloch war. Robin hatte eine Strategie, die ihn bisher immer sicher über die gefährliche Piste gebracht hatte. Er steuerte sein Mauseloch nicht auf direktem Weg an, sondern machte einen Schlenker. So erreichte er die B 3 dort, wo der Gehweg zu Ende war und am Straßenrand ein Graben mit hohem Gras verlief. Über diese Route musste er zwar an dem Haus der Tierärztin in der Wetzlarer Straße vorbei, doch das nahm er lieber in Kauf als ungeschützt vor den brummenden Autos auf dem Gehweg zu warten, bis eine Lücke kam. Im Schutz des hohen Grases machte ihm das weniger aus.

Heute überquerte er die Fahrbahn mit wenigen großen Sätzen. Er ließ die weitläufige, platt gewalzte Erdfläche rechts liegen und überquerte den schmalen Ebersgönser Weg. Dann noch über den Feldweg, der an den Pferdekoppeln vorbeiführte. Zielstrebig bog er um die hintere Ecke des Reitstalls, als er abrupt stoppte.

Vor seinem Mauseloch saß ein fremder Kater.

Er hatte ihn noch nie hier gesehen. Der andere drehte ihm seinen schwarz-weißen Rücken zu. Robin ging in die Knie, hob eine Tatze ganz langsam und setzte sie ebenso langsam wieder auf den Boden. Im Zeitlupentempo, eng an den Boden gedrückt, schlich er sich an. Seine Strategie war klar. Ein gezielter Sprung von hinten, sofort den Nackenbiss anwenden und so dem Gegner den Garaus machen. Er wollte sich nicht auf einen langen Kampf einlassen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass sein Plan aufgehen würde, denn der Schwarz-Weiße war kleiner als er. Er müsste nur sein ganzes Gewicht – immerhin stolze sieben Kilogramm – in den Sprung legen, das würde den anderen umwerfen, dabei hätte der aber schon Robin im Nacken hängen und könnte sich nicht mehr wehren.

Während er näher schlich, ging er den Angriffssprung in Gedanken durch. Dann war es so weit. Robin verharrte geduckt und sammelte sich zum Sprung. Mit den Hinterbeinen trat er auf der Stelle. Er wärmte seine Muskeln und spannte sie an. Da drehte sich der Schwarz-Weiße herum.

Beide Kater erstarrten. Nun war der Fremde im Vorteil, denn er saß aufrecht, während Robin immer noch am Boden kauerte. Robin stellte seine Nackenhaare auf und knurrte bedrohlich. Der Fremde gab keinen Laut von sich. Unendlich langsam, Zentimeter für Zentimeter, richtete sich Robin auf. Dann saßen sie sich gegenüber, nur einen Meter voneinander entfernt, zu Eis erstarrt, während die Minuten vergingen. Offenbar wollte der Fremde nicht ohne Weiteres abziehen. Jede Sehne an Robins Körper war gespannt. Dann entschloss er sich zu handeln.

„Das ist MEIN Mauseloch“, knurrte er laut.

Der Schwarz-Weiße legte den Kopf kaum merklich zur Seite, der Blickkontakt war für eine Sekunde unterbrochen. Doch gleich darauf starrte er zurück.

„Ich habe Hunger“, sagte er und wie zur Bestätigung brummte er. „Die Mäuse gehören niemandem.“

Robin betrachtete den Fremden genauer. Er war dürr und bestimmt drei Zentimeter kleiner als er.

„Irrtum“, knurrte er deshalb. „Sie gehören mir, weil sie aus MEINEM Mauseloch kommen.“

Die Wucht des Sprungs traf Robin unvorbereitet. Er wollte noch zur Seite springen, aber da hing der Schwarz-Weiße schon an seinem Hals. Robin strauchelte und kippte um. Sein dickes Fell schützte ihn vor den Zähnen des Widersachers. Doch er lag auf dem Rücken, der Fremde über ihm. So dicht war des Angreifers Kopf über Robins Nase, dass der nichts anderes als dessen intensiven Geruch wahrnahm. Er kannte ihn. Wie ein heller Blitz tauchte das Bild des kleinen Welpen aus dem Tierheim vor Robins Augen auf.

„Hör auf“, wollte er miauen. „Kennst du mich nicht mehr?“

Aber der Kater hatte sich so fest in seinem Hals verbissen, dass ihm die Luft weg blieb. Robin schrie und fauchte und schlug seine Hinterbeine mit weit ausgefahrenen Krallen in den Bauch seines einstigen Freundes. Der jaulte und lockerte für einen Moment seinen Biss. Das verschaffte Robin die Luft, um sich aus der Umklammerung zu winden. Er fuhr herum und biss blindlings zu. Der Schwarz-Weiße jaulte auf, ihm fehlte ein Stück vom Ohr. Dann ein scharfer Schmerz auf Robins Nase, Blut tropfte ihm ins Maul, sein eigenes, aber Robin blieb stumm. Er ließ sich nicht mehr von seinem Vorhaben abbringen. Er umklammerte seinen Gegner und der umklammerte ihn. Ineinander verkeilt, schreiend und blutend, wälzten sie sich auf dem Boden.

„Hau ab!“, schrie Robin fauchend. Er war so wütend, dass es ihm egal war, wen er vor sich hatte.

„Hau du ab!“, schrie der Fremde zurück.

Ein Traktor ratterte um die Ecke. Die beiden Kater ließen voneinander ab und sprangen auseinander, der eine nach links, der andere nach rechts. Keine Sekunde zu früh, denn wo sie sich eben noch gewälzt hatten, machte der Traktor die Grashalme platt.

Kaum war der Trecker vorbeigefahren, sammelte sich Robin mit aufgestellten Rückenhaaren zum Angriff und machte sich zum Sprung bereit. Der Schwarz-Weiße aber leckte sich eine Pfote und fuhr mit ihr über sein verletztes Ohr. Von ihm war im Moment nichts mehr zu befürchten.

Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen.

„Weißt du nicht mehr, wer ich bin?“, fragte Robin.

Der andere schaute ihn aus schmalen Augen an.

„Wer solltest du schon sein?“

Robin konnte es kaum glauben. Sie waren wie Vater und Sohn gewesen.

„Im Tierheim Amalienhof, ich habe mich um dich gekümmert.“

Der Schwarz-Weiße schwieg. Dann miaute er heißer:

„Das kann jeder sagen.“

Robin miaute empört.

Ohne ein weiteres Wort drehte sich sein früherer Schützling um und trottete langsam davon.

„Aber woher sollte ich wissen, was im Tierheim geschehen ist, wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre?“, schrie Robin ihm hinterher.

„Ich habe viele schlimme Sachen erlebt. Ich lasse mich nicht mehr hereinlegen. Ich passe jetzt auf mich selbst auf, niemand anders“, rief der Eindringling zurück und reckte seinen Kopf, den er gerade noch vor Schmerzen gesenkt hatte, stolz in die Höhe. Dann trabte er mit weit ausgreifenden Schritten erhobenen Kopfes um die Ecke des Reitstalls.

Robin hatte sich für zwei Stunden in die Sonne gelegt. Auf einen Strohballen mit dem Rücken zur Stallwand: Von dort hatte er sein Mauseloch im Blick. Der Kampf hatte ihn angestrengt, und er war fest eingeschlafen. Er streckte sich und spürte, wie hungrig er war. Schließlich hatte er auf seine Mäusemahlzeit verzichten müssen. Der Kater umrundete den Stall einmal, bevor er sich auf den Heimweg machte. Den Schwarz-Weißen roch er an den Strohballen vor dem Hallentor und an den Pfosten der Pferdekoppeln. Aber er sah ihn nirgendwo.

Als sich Robin den Kastanienbaum hocharbeitete, rutschte er mit den Hinterbeinen ab. Der Kampf steckte ihm noch in den Knochen. Die Balkontür war offen und er lief schnurstracks in die Küche, weil er sich sein Mittagessen von Johanna erhoffte. Doch dort stand nicht Johanna, sondern die Frau mit dem Lappen. So nannte zumindest Robin sie, denn sie hatte immer einen Lappen in der Hand. Sie kam dreimal in der Woche, immer vormittags und lief ständig mit diesem Ding durch die Wohnung, wischte hier über Regale, dort über den Fußboden und dann und wann auch über die Fensterscheiben. Er merkte sich ihren Namen nicht, was nicht zum unerheblichen Teil daran lag, dass er sie nicht leiden konnte. Es war einfach so, dass sie den großen Kater gar nicht wahrnahm. Wenn es an der Zeit war, gab sie ihm Futter. Mehr nicht. Robin war es nicht gewohnt, ignoriert zu werden.

Nachdem sie ihm ohne Worte das Futter hingestellt hatte, schlang er es hinunter. Er wollte ihr möglichst schnell aus dem Weg gehen. Die Lappenfrau war ihm unheimlich. Wer wusste schon, was sich hinter der stillen Fassade verbarg?

Robin sprang auf den Kratzbaum und streckte seine schmerzenden Beine. Der Kampf hatte ihn müde gemacht. Doch er musste nachdenken. Auch die Tierheimmitarbeiter glaubten, dass Floras Fehlgeburt – nun schon die zweite – von außen nachgeholfen worden war, hatte Johanna aus der Zeitung vorgelesen. Wer würde ihm bei der Aufklärung des Falles helfen? Er hatte große Hoffnung gehegt, zusammen mit seinem früheren Schützling wieder ein Team sein zu können. Zur Not würde er sich alleine an die Aufklärung machen oder andere Unterstützer suchen, wenn der Schwarz-Weiße nicht zu ihrer alten Freundschaft zurückfand.

Jäh war mit dem Nachdenken Schluss. Etwas hob ihn in die Luft. Er fauchte und strampelte. Stefan stand auf einem Stuhl und hielt ihn mit weit ausgestreckten Armen von sich. Auf dem Boden stand der Korb mit geöffnetem Deckel. Die Tierärztin! Er hatte vergessen, dass sie heute Abend mit ihm dort hinfahren wollten. Panisch fuhr er seine Krallen aus, spreizte alle Viere und klammerte sich an den Rand des Katzenkorbs.

„Nun mach schon“, forderte Johanna Stefan auf.

„Du hast gut reden“, sagte Stefan. Immer wieder wurde Robin hoch gehoben und jedes Mal, wenn Stefan ihn in den Korb setzen wollte, krallte er sich an dessen Rand fest.

„Ich dachte, der Überraschungseffekt würde ihn weniger aggressiv machen. Aber … au!“, rief Stefan und ließ den Kater los. Er blickte auf die blutigen Streifen auf seinem Handrücken.

Robin hatte sich in den Spalt hinter das Sofa gedrückt und brummte laut. Normalerweise knurrte er Johanna und Stefan nicht an. Aber der Gedanke an die burschikose Tierärztin Eva Zack mobilisierte in ihm jedes Mal die Furcht, buchstäblich das Fell über die Ohren gezogen zu bekommen. Denn die Frau hatte einen Griff, aus dem selbst er sich nicht herauswinden konnte. Sie fasste fest in seinen Nacken, griff dort eine dicke Falte und hob ihn hoch. Nur noch mit den Hinterpfoten stand er auf dem kalten Metalltisch in der Praxis. Wenn er fauchte, schüttelte sie ihn so stark hin und her, dass ihm ganz wirr im Kopf wurde. Zack – schon hatte sie ihm eine Spritze verpasst. Und Stefan beschwerte sich, dass er aggressiv war? Robin fühlte sich gründlich missverstanden und beschloss, die Nacht hinter dem Sofa zu verbringen.

„Und jetzt?“, fragte Johanna.

„Versuch´s doch selbst mal“, antwortete Stefan. „Mir reicht es.“

„Tja. Das hilft alles nichts.“ Johanna ging in den Flur und kam mit Handschuhen zurück. Robin legte die Ohren an. Die Tierärztin würde ihm nicht erspart bleiben. Dem groben Leder der Handschuhe konnte er nichts anhaben. Egal, wie stark er seine Krallen hineinschlug, egal, wie fest er sich darin verbiss: Sie zogen ihn unbarmherzig aus seiner schützenden Höhle.

In der Praxis warteten nur eine Katze und ein Mann. Es war die gut aussehende Katze aus dem Nachbardorf Griedel, mit der er sich vor einem Jahr schon einmal hier unterhalten hatte.

„Hallo“, sagte die Katze durch das Gittertürchen in ihrem Bastkorb hindurch.

„Hallo“, antwortete Robin. „Warum bist du hier und nicht bei deinem Tierarzt?“ Er war froh, dass er sich mit anderen Dingen beschäftigen konnte als mit dem Gedanken an den tierärztlichen Nackengriff.

„Oh, mit geht es gut. Danke der Nachfrage“, antwortete die weiße Perserkatze erfreut. „Mein Tierarzt ist krank. Und er ist zu alt. Er macht Fehler bei der Arbeit.“

„Was macht er denn?“

„Es geht nicht darum, was er tut, sondern was er nicht tut.“ Die Katze machte eine kunstvolle Pause und schaute Robin wissend an.

Der wusste, worauf die Katze wartete. Er sollte weitergehendes Interesse zeigen.

„Was macht er denn nicht?“, fragte er deshalb.

Sie hatte begonnen, ihren Schwanz zu pflegen. Jetzt unterbrach sie ihre Tätigkeit und blickte Robin aus blauen Augen an.

„Er behandelt uns falsch. Meine Freundin hatte kürzlich eine Frühgeburt. Zum Glück haben ihre vier Welpen überlebt. Wie konnte das passieren, frage ich dich, wo sie doch regelmäßig bei unserem Tierarzt war, der sie untersucht hat?“

In Robins Kopf jagten sich die Bilder. Er sah die Pflegerin aus dem Amalienhof, die erschreckt das tote Kätzchen im Arm hielt. Er sah den Kleinen, der wimmernd auf dem kalten Betonboden lag. Und er sah die Katze Flora, die ein totes Junges zur Welt gebracht hatte. Aber eines hatte noch gelebt! Weil Flora sich nicht darum gekümmert hatte, wäre es fast gestorben. Und wenn sie ihren Nachwuchs nicht absichtlich ignoriert hatte? Die Tierheimmitarbeiter gingen von „äußeren Einflüssen“ aus, hatte Johanna heute Morgen vorgelesen.

„Hat sich deine Freundin um ihre Welpen gekümmert? Hat sie sie gesäugt?“

„Komisch, dass du das fragst.“ Die Katze schaute ihm tief in die Augen. „Nein, das hat sie nämlich nicht. Und das ist ganz und gar ungewöhnlich. Ihre Besitzerin füttert die Kleinen mit der Milchflasche. Wie bist du darauf gekommen?“

Da wurde der Korb in die Luft gehoben und die Perserin verschwand hinter der Tür, hinter der die Tierärztin wartete.

Also hatte dieses Schicksal nicht nur Flora ereilt, sondern auch noch eine andere Katze in der Butzbacher Gegend. Wieso hatte sich diese Katze ebenso ungewöhnlich verhalten wie Flora? Robin stieß mit dem Kopf gegen die Stäbe seines Plastikkorbes. Er musste seine Nachforschungen forcieren. Wer wusste, wie viele ungeborene Katzenwelpen außerdem in Gefahr waren?

Den Schwarz-Weißen hatte er nicht bekehren können. Andere Helfer mussten her.

Katerdämmerung

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