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Der geheime Aufzug

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Ein ängstliches Miauen. Drei Jungen standen vor den offenen Türen des Mülltonnenhäuschens auf dem Parkplatz in der Johann-Sebastian-Bach-Straße und hielten Steine in den Händen. Einer warf einen Fußball in die Richtung, aus der es miaute.

Robin hatte genug gesehen. Schlagartig hatte er den Griff der Tierärztin Eva Zack von heute Abend, der immer noch in seinen Nackenmuskeln saß, vergessen. Mit einem Satz war er auf dem Unterstand. Dann schlich er sich im Schutz der hereinbrechenden Nacht bis an das andere Ende. Direkt unter ihm standen die drei johlenden Jungen. Sie reichten mit ihren Köpfen noch nicht an das Dach heran. Einer griff nach einer Tonne und zog sie weg. Dahinter saß ein kleiner, roter Kater und jammerte. Noch bevor der dicke Junge mit dem Doppelkinn einen Stein warf, hatte sich Robin über ihm mit gesträubtem Rückenhaar und aufgebuschtem Schwanz zu seiner vollen Größe aufgerichtet und fauchte. Zwei der Jungen ließen erschreckt ihre Steine fallen, als sie den Kater über ihren Köpfen sahen. Der Dritte blickte sich unschlüssig zu seinen Kameraden um, die bereits den Rückzug angetreten hatten.

„He, was ist los mit euch?“, rief er ihnen zu. „Habt ihr etwa Angst vor einer Katze?“

„Nicht Katze, Kater!“, fauchte Robin noch lauter und duckte sich zum Sprung.

Da wich auch der Dicke ein paar Schritte zurück und legte den Fußball auf den Boden. Er nahm Anlauf. In dem vierstöckigen Plattenbau am Ende des Fußweges, der von den Tonnen wegführte, wurde ein Fenster im Erdgeschoss geöffnet.

„Was ist da draußen los?“ Eine Frau streckte ihren Kopf zum Fenster hinaus und schaute in die Richtung der Mülltonnen. „Matsche, bis du das schon wieder? Ärgerst du schon wieder meinen Leo? Lass´ ihn bloß in Ruhe, sonst …“

„Scheiße“, nörgelte Matsche.

„Blödes Viech“, sagte er in Richtung rotem Kater. „Blöder …“

Doch als er zu Robin schaute, der noch immer sprungbereit auf dem Dach des Häuschens kauerte und knurrte, brachte er den Satz nicht zu Ende. Er hob seinen Fußball auf und lief hinter seinen beiden Freunden her. Gemeinsam verschwanden sie in dem Plattenbau.

Bis hierher war Robin gelaufen – noch weiter als bis zu seinem Mauseloch am Reitstall – um den Kater zu treffen, von dem es im Revier hieß: An dem sei mehr dran, als es den Anschein habe; er sei jung, schnell und listig. Das hörte sich nach einem geeigneten Mitglied für sein Ermittlungsteam an. Als er den Roten jammern hörte, begann er zu zweifeln. Doch sollte sein Weg nicht umsonst gewesen sein.

„Hallo!“, rief Robin deshalb vom Dach des Mülltonnenhäuschens.

„Ja?“, piepste es von unten.

„Alles in Ordnung?“

„Nein“, wimmerte der rote Kater.

Robin sprang auf die Tonne, die einer der Jungen nach vorne gezogen hatte. Sie kippte um. Der Kater landete mit einem Satz auf dem Boden. Doch bevor er sich dem Roten zuwenden konnte, sah er etwas anderes. Der Deckel der Tonne hatte sich im Sturz geöffnet. Herausgefallen war eine Mülltüte. Aber nicht sie erregte Robins Interesse, sondern das, was in ihr war: Ein Knäuel blutiger Katzenhaare. Robin nahm mit bebenden Nasenflügeln den Geruch des Blutes auf.

„Weißt du, woher das hier kommt?“, fragte er den Roten.

Die Eingangstür des Plattenbaus fiel ins Schloss. Zwei der Jungen kamen mit schweren Tüten in den Händen auf die Mülltonnen zu. Der rote Kater, der zwischenzeitlich verstummt war, fing wieder an zu jammern.

„Still!“, zischte ihn Robin an. „Komm mit!“ Den Roten im Schlepptau versteckte er sich hinter der Hecke. Nur ein Gehweg trennte sie von den Mülltonnen. Oben auf dem Dach hatte er sich größer und stärker als die Jungen gefühlt. Aber hier unten, das wusste er, konnte er keinem ernsthaften Angriff standhalten. Schon gar nicht mit einem verängstigten Jungkater an seiner Seite.

Als die beiden Jungen zu der umgestürzten Tonne kamen, stutzten sie.

„Krass. Sieht so aus, als ob es jemand der Katze gegeben hat“, sagte der eine und lachte.

Hinter der Hecke unterdrückte Robin ein Knurren. Der kleine Rote hatte sich in die Hecke gerobbt und den Kopf zwischen seinen Vorderpfoten verborgen.

„Was machst du da? Lass´ das liegen, was kümmert es uns?“, fuhr der Junge seinen Kumpel an, der im Begriff war, die Tonne aufzustellen.

„Hast du eine Ahnung, was wieder los ist, wenn die Alte aus dem Erdgeschoss das hier sieht? Die denkt sofort, dass wir das waren.“

„Na und? Ist mir egal. Die kann mich mal.“

„Mich kann die auch. Aber die rennt zu meiner Mutter und meine Mutter macht mir die Hölle heiß. Nee, kein Bock.“

Murrend half ihm sein Freund, die Tonne wieder aufzustellen und den Müll aufzusammeln.

Dann warfen sie ihre Tüten hinterher, lehnten die kaputte Tür des Mülltonnenhäuschens an, ließen die Tonne auf dem Parkplatz stehen und verschwanden.

Robin und der Rote warteten, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörten. Dann verließen sie ihre Deckung und gingen nach vorne. Sie betrachteten die Mülltonne.

„Kennst du hier noch eine andere Katze?“, wiederholte Robin seine Frage von vorhin.

„Hier gibt es noch eine Katze, die wohnt im fünften Stock, glaube ich. Sie geht aber nicht raus.“

„Woher willst du dann wissen, dass sie dort lebt, wenn sie nicht rausgeht?“, fragte Robin und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Ich habe die Frau von dort oben ab und zu an den Mülltonnen gesehen. Sie hat etwas weggeworfen, das nach Futter roch.“

Robin legte den Kopf schief. Offenbar verbarg sich in dem Roten doch mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

„Wie heißt du?“

„Leo.“

„Gut, ich heiße Robin. Du bist neu hier? Das hier ist MEIN Revier, seit Jahren schon, ich habe dich aber noch nie hier gesehen.“

„Ich wohne schon seit fast einem Jahr hier im Erdgeschoss. Meine Besitzerin, Lotte, hat mich geholt, als ich noch ganz klein war. Aber sie hat mich zuerst nicht rausgelassen.“

„Und warum lässt sie dich jetzt raus?“

Leo schaute verschämt auf den Boden.

„Na sag schon.“

„Na ja, sie hat gesagt, sie kann mein Jammern nicht länger ertragen. Dann hat sie in die Balkontür ein Loch schneiden lassen, und jetzt ist dort eine Klappe, durch die ich rein und raus kann.“

„Aber jammern tust du immer noch“, sagte Robin streng. Er fühlte sich verantwortlich für den Jüngling, nachdem er ihm geholfen hatte.

Leo blickte Robin an. Dann schlug er die Augen nieder. „Ja, ich weiß, aber ich kann nichts dafür. Ich bin nicht so groß und stark wie du.“

Dann schaute er plötzlich erschrocken auf seinen Retter. „Ach, das tut mir leid. Bei all dem habe ich ganz vergessen, dir zu danken.“

Als Robin schwieg, piepste er:

„Bitte, sei nicht böse.“

„Großer Katzengott nein, ich bin doch nicht böse. Ich habe nur nachgedacht. Ich muss in letzter Zeit viel nachdenken, weißt du. Das blutige Katzenhaar hier hat vielleicht etwas zu tun mit …“

Er brach ab. Er wollte den Roten nicht noch mehr verschrecken, indem er ihm nach dem Angriff auf ihn von Floras totem Kätzchen und den Fehlgeburten erzählte. Das musste warten. Etwas anderes aber duldete keinen Aufschub. Wenn es die Jungen freute, dass es irgendwer einer Katze „gegeben hatte“, dann sollten sie beobachtet werden.

„Wir müssen in der Tonne nachschauen, was sie reingeworfen haben.“

„Wie willst du das machen?“, fragte Leo unsicher.

„Ganz einfach. So wie vorhin.“

Und wieder sprang Robin auf das Häuschen. Er nahm Anlauf und landete auf der Tonne. Die rappelte kurz hin und her, blieb aber stehen. Noch einmal versuchte er es, wieder ohne Erfolg.

„Du musst mir helfen“, rief er zu Leo hinunter, der ihn vom Boden aus beobachtete.

„Ich?“, piepste der erschrocken.

„Stell´ dich nicht so an. Zu zweit schaffen wir das schon.“

Und wieder war Robin erstaunt über den neuen Gefährten. Denn mit einer Eleganz, die er ihm nicht zugetraut hätte, landete er sicher neben ihm auf dem Dach.

„Eins, zwei, drei“, kommandierte Robin und beide Kater sprangen auf die Tonne. Die kippte nach links, dann nach rechts und fiel schließlich mit lautem Getöse um.

Nichts fiel heraus. Der Deckel hatte sich an einem auf dem Boden liegenden Ast verkeilt.

„Komm, komm“, rief Robin wieder und biss in den Ast. Gemeinsam zerrten sie das Stück Holz weg. Robin bearbeitete den Deckel mit den Pfoten. Er öffnete sich einen Spalt. Ein Mann bog um die Ecke.

„Weg mit euch“, rief er laut und wedelte mit den Händen.

Erschrocken flüchteten die Kater bis zu einer großen Tanne am anderen Ende der Wiese. Unter den Zweigen, die bis auf den Boden herabhingen, verbargen sie sich. Zwar sahen sie nicht, was der Mann tat, aber sie hörten seine Stimme.

„Was für eine Bescherung! Der ganze Müll. Wird Zeit, dass die Wohnungsbaugesellschaft die Tür endlich reparieren lässt. Ständig stehen die Mülltonnen draußen und jetzt auch noch umgeworfen. Lockt nur Ratten und anderes Getier an.“ Ein Scharren, dann ein Quietschen. Kurze Zeit später fiel eine Haustür ins Schloss.

Robin war der erste, der seinen Kopf unter den Tannenzweigen hervorschob. Alles blieb still. Dann kroch er unter dem dunklen Tann hervor. Der Rote folgte ihm, blieb aber dicht hinter seinem Retter stehen. Der Mann hatte die Tonne zurück in das Häuschen gestellt und die Tür zugedrückt. Robin gab jeden Gedanken an eine weitere Untersuchung des Mülls auf. Auf der Tagesordnung stand jetzt ein Team zu bilden. Dafür brauchte er Artgenossen. Einen hatte er, obwohl der noch nichts davon wusste. Ein Team brauchte, um regelmäßig an einem Fall arbeiten zu können, einen sicheren Treffpunkt. Den hatte er auch.

„Komm mit mir“, forderte er den Kleinen auf. „Ich will dir etwas zeigen.“

Seite an Seite liefen sie über die Johann-Sebastian-Bach-Straße und rannten in großen Sätzen in der dunklen Nacht quer über das platt gewalzte Erdfeld in Richtung Reitstall. Robin gestand es sich nur ungern ein, aber er freute sich, nicht mehr alleine zu sein. Er stellte seinen Schwanz schräg und legte an Geschwindigkeit zu. Leo hielt mit.

Sie fegten um die Ecke des Stalls. Robin bremste. Leo prallte auf ihn. Der Schwung seines Laufs ließ ihn einen Purzelbaum schlagen.

„Tut mir leid“, piepste er, als er wieder auf seinen vier Pfoten stand.

Robin sagte nichts und starrte in Richtung seines Mauselochs. Dort saß der Schwarz-Weiße. Er wendete den Kopf, als er Leos Piepsen hörte. Dabei leckte er sich das Maul. Robin knurrte. Offenbar hatte der sich gerade eine Maus schmecken lassen. Kein Zeichen, dass der Zerzauste seinen einstigen Freund mittlerweile wiedererkannte. Würde es wieder zum Kampf kommen? Der nächste würde ernster sein als ihr erster. Vergangene Freundschaft hin oder her. Robin spannte seine Muskeln an und starrte den Schwarz-Weißen mit feindseligem Blick an. Diesmal würde er sich nicht überrumpeln lassen. Er legte seine ganze Kraft in die Hinterbeine, als er aus den Augenwinkeln etwas Rötliches an sich vorbeifliegen sah. Wie von einem Katapult geschossen war Leo an ihm vorbeigesprungen und landete nun ein paar Zentimeter vor dem Eindringling.

Überrascht von plötzlich zwei Gegnern wich der Schwarz-Weiße zwei Schritte zurück. Robin hatte sich aufgerichtet und beobachtete die Szene. Leo sah alles andere als angriffslustig aus. Linkisch tapste er auf den fremden Kater zu.

„Hallo“, sagte er unbekümmert. „Ich heiße Leo. Wie heißt denn du?“

Patsch! Leo zuckte zurück und entging der Tatze mit den ausgefahrenen Krallen um Haaresbreite.

„Ich habe dir doch gar nichts getan“, jammerte er. „Ich will mich nur mit dir unterhalten.“

„Bist du so blöd oder tust du nur so?“, fauchte der Schwarz-Weiße und umkreiste Leo in geduckter Stellung. Das borstige Rückenhaar war steil aufgestellt. „Wir sind hier nicht bei den Menschen, sondern draußen, unter uns. Da wird sich nicht unterhalten. Da wird gekämpft und gesiegt. Oder gestorben!“

Erschrocken machte Leo einen Satz nach hinten. Doch da war Robin an seiner Seite.

„Lass´ ihn in Ruhe! Wann besinnst du dich endlich? Ich bin´s!“

„Ihr kennt euch? Woher? Erzählt doch. Das ist ja spannend.“ Offenbar hatte Leo den Ernst der Lage immer noch nicht erkannt.

Der Schwarz-Weiße hatte während Robins Worten einen Sicherheitsabstand von mehreren Katzenlängen zwischen sich und die beiden Kater gebracht. Er peitschte mit dem Schwanz von einer Seite zur anderen. Robin spürte seine Unsicherheit.

„Aber wir müssen uns doch nicht weh tun“, meldete sich Leo zu Wort. „Wo ihr euch auch noch kennt.“

Der Schwarz-Weiße ließ ein zischendes Lachen hören. Robin rümpfte die Nase, seine Schnurrhaare richteten sich aufwärts. Offenbar kannte Leo die einfachsten Gesetze des Revierkampfes nicht.

Leo senkte den Kopf. „Also tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich wollte euch nicht verärgern. Ich freue mich einfach nur, das ist alles. Guck mal“, sagte er an den Schwarz-Weißen gewandt „Ich kenne hier noch gar keinen in eurem Revier …“

Robin legte die Ohren an und fauchte.

„Oh, entschuldige, ich meine natürlich, in deinem Revier. Und dann treffe ich auf einmal innerhalb von ein paar Stunden gleich zwei Kater und das finde ich wirklich schön. Und da wollte ich doch einfach nur wissen, wie ich dich ansprechen kann, denn wie Robin heißt, weiß ich ja und …“

„Streuner.“

Robin und Leo schauten den anderen an. Ein paar Sekunden lang war es still zwischen den dreien. Dann sagte der Rote:

„Du heißt Streuner? Ach, das ist aber ein schöner Name.“

Stille.

„Ein – interessanter Name“, meldete sich Robin schließlich. Dass der Schwarz-Weiße, also gut, dass Streuner seinen Namen genannt hatte, war ein gewisses Entgegenkommen. Schimmerte da etwas von dem früheren Vertrauen durch? Das war auch Leo zu verdanken, wenn er ehrlich war. Der kleine Kater war so unbekümmert hier aufgetreten, als ob es keine Feinde gäbe. Immerhin hatte er ihm damit einen zermürbenden Kampf erspart.

Und dann erzählte Streuner, was damals geschehen war. Im Alter von fünf Monaten hörte er im Tierheim ein Gespräch, das der Mann, der regelmäßig das Futter brachte, am Handy mit jemandem führte. Streuner verstand nicht alles. Aber er hörte aus dem Gespräch heraus, dass der Mann wütend war. Er beschimpfte seinen unsichtbaren Gesprächspartner und sagte, dass er es allen zeigen wolle. Zu allem Überdruss müsse er freundlich zu den Katzen sein, obwohl er die gar nicht leiden könne. Immerhin sei er im Tierheim schon einmal erfolgreich gewesen. Das würde er, wenn nötig, so oft wiederholen, bis sie in der Firma ein Einsehen hätten. Er, Streuner, wollte herausfinden, woran sein kleiner Bruder bei der Geburt gestorben war. Hier bot sich eine Gelegenheit. Es war zwar nicht mehr als ein Instinkt, eine vage Vermutung, aber mehr hatte er nicht und deshalb ergriff er die Chance. Ungesehen sprang er hinter den Rücksitz des Autos, mit dem der Mann das Futter transportierte. Wohin sie fuhren, konnte er nicht sehen. Es war holprig und als sie anhielten, öffnete der Mann die Türen. Streuner verschwand. Später würde er hierher zurückkommen und seine Spur aufnehmen. Doch zuerst müsste er größer und stärker werden.

Warum er Robin nichts von seiner Absicht erzählt hatte? Streuner legte die Ohren an. Robin war ein Freund der Tierheimmitarbeiter, er ließ sich streicheln und kraulen und er, Streuner, konnte Menschen nicht leiden und diese schon gar nicht. Warum hatten sie nicht verhindert, dass Floras Geburt schief ging?

„Du warst eifersüchtig“, konstatierte Robin.

Der Schwarz-Weiße knurrte, sagte aber nichts mehr.

„Wo wohnst du?“, fragte Robin.

„Nirgendwo.“ Streuner hob stolz seinen Kopf.

„Bist du jetzt eine Wildkatze?“, fragte Leo.

„Nein“, antwortete Robin an Streuners statt. „Wildkatzen sind größer. Und wilder.“ Diesen Seitenhieb auf Streuners mangelnde und vor allen Dingen ihm unterlegene Kampfkunst konnte er sich nicht verkneifen. Auch wenn er bisher noch nie einen seiner wilden Artgenossen gesehen hatte.

Streuner fauchte, legte die Ohren an und richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf. Die Krallen an seinen gespreizten Vorderpfoten hatte er weit ausgefahren, bereit, zuzuschlagen.

„Noch wilder?“, fragte Leo ehrfürchtig.

Streuner setzte sich wieder hin. „Kein Mensch nennt mich seine Katze“, sagte er hoheitsvoll, wobei er das Wort seine besonders betonte. „Ich bin nirgends zu Hause.“

„Dann bist du schon viel rumgekommen?“, fragte Leo. „Und hast schon viel gesehen? Erzähl´ mal. Hast du eine Freundin?“

„Ich habe schon genug geredet“, antwortete Streuner. Er stand auf. Auch Robin erhob sich. Es war klar: Nichts war mehr so wie früher zwischen ihnen. Die Monate in der Freiheit hatten seinen einstigen Gefährten verändert. Rau war er geworden, unzugänglich und feindselig. Steif standen sich die beiden Kater gegenüber und starrten sich an. Schließlich blickte Streuner zur Seite und machte einen Schritt nach hinten. Robin verstand und tat es ihm gleich. Waffenstillstand. Streuner drehte sich um, lief drei Schritte, blieb dann stehen und drehte seinen Kopf.

„Die Unterhaltung mit euch war – interessant.“ Dann verschwand er hinter dem Stall. Leo machte ein paar linkische Sprünge hinter ihm her und lugte um die Ecke. Mittlerweile war es stockdunkel geworden und selbst Leos Kateraugen konnten das Dunkel nicht weiter als ein paar Meter durchdringen. Da war kein Streuner mehr zu sehen.

Nachdem Leo nun die Vorgeschichte kannte, erzählte ihm Robin, worum es ihm tatsächlich ging: Um die Aufklärung des Falles Flora. Dass er sich eine Ermittlergruppe zusammenstellen würde und dass er, Leo, das erste Mitglied – außer ihm selbst natürlich – war. Besser wäre es, wenn sie auch Streuner dafür gewinnen würden, aber notfalls würden sie es auch ohne ihn schaffen.

Leo schwieg. Robin beschnüffelte Leo freundschaftlich am Kopf. Leo drehte seinen Kopf zur Seite.

„Warum hast du mich vorhin angefaucht?“, miaute er weinerlich.

Robin brummte ärgerlich. Musste er sich hier vor dem Kleinen rechtfertigen? Dann fiel ihm ein, dass er selbst Leos Unbekümmertheit geschätzt hatte. Er gab sich einen Ruck.

„Okay, okay. Tut mir leid, ja?“

„Ja, aber warum? Ich verstehe das nicht.“

Robins Nasenflügel bebten, so tief holte er Luft.

„Weil, na ja, weil du so freundlich zu meinem Feind warst und ich dachte, du wärst mein Freund.“

Leo sprang auf und stupste Robin mit dem Kopf in die Flanke. „Aber ich bin doch dein Freund“, rief er glücklich. „Warum kann ich nicht mehrere Freunde haben?“

Darauf wusste Robin keine Antwort.

Es war mitten in der Nacht, als sie Robins Wohnhaus mit den zwei Erkern erreichten. Alle Fenster waren dunkel. Robin hatte viel schneller hier sein wollen, aber Leo bockte an der Bundesstraße. Obwohl es schon später Abend war und nur dann und wann mal ein Auto vorbeifuhr, weigerte sich der kleine Kater, die Straße zu überqueren.

Erst, nachdem Robin sich demonstrativ auf die Mitte der Fahrbahn gesetzt hatte – was er noch nie in seinem Katerleben getan hatte und was er noch heute Mittag vehement verneint hätte, es jemals zu tun – erst dann traute sich Leo. Schnell lief er zu dem großen Kater bis in die Straßenmitte und gemeinsam erreichten sie sicher die andere Seite.

„Wie soll ich da hoch kommen?“, fragte Leo. Er stand am Fuß des Kastanienbaumes, Robin hing einen Katersprung hoch am Stamm und blickte nach unten.

„Na so wie ich natürlich. Mach´ es mir einfach nach.“ Robin kletterte weiter und hatte bereits den ersten Ast erreicht. Als er wieder nach unten blickte, hing Leo kopfüber am Stamm.

„Was machst du denn da?“, miaute Robin nach unten. „Du musst vorwärts klettern, nicht rückwärts.“

„Ich weiß, aber ich schaffe es nicht. Deshalb bin ich wieder umgekehrt.“

Robin klettert ebenfalls kopfüber den Stamm hinunter, bis er neben Leo hing.

„Hier, guck mal.“ Dann änderte er wieder die Richtung, umarmte den Stamm, stieß sich mit den Hinterbeinen ab und erreichte so wieder den ersten Ast. „Nur bis hier hin“, ermutigte er den kleinen Kater. „Wenn du es bis hier hin schaffst, dann ist der Rest ganz leicht.“

Leo drehte sich wieder um und versuchte, mit seinen wesentlich kürzeren Vorderbeinen den Stamm zu umgreifen. Es klappte. Seine Nase war dunkelrosa vor Aufregung.

„Ich kann es!“, rief er nach oben. Seine Hinterbeine rutschten zwar ab und zu ab, aber er erreichte den ersten Ast.

„Bravo“, lobte ihn Robin. „Wir müssen leise sein, damit ich dir auch das zeigen kann, was die Menschen nicht wissen dürfen.“

Zusammen erreichten sie den vierten Stock und sprangen auf den Balkon. Die Balkontür war ein Spalt offen. Johanna und Stefan schlossen sie nachts nicht, wenn es draußen warm genug war. Dann konnte Robin ungehindert rein- und rausspazieren. Auch ein Licht ließen sie extra für ihn im Flur brennen. Ein Schimmer fiel auf den Balkon. Die beiden Kater liefen durch das Wohnzimmer bis in den Flur. Dort blieb Robin vor der Wand neben der Wohnungstür stehen. Anders als alle anderen Wände in der Wohnung war diese hier nicht mit Tapete verkleidet, sondern mit verzierten Holztafeln.

„Hier ist es“, miaute Robin leise.

„Hier?“, fragte Leo erstaunt und starrte auf die Wand.

„Na ja, um genau zu sein, dahinter“, flüsterte Robin. Dann machte er aus dem Stand einen Luftsprung und landete auf einem Regalbrett, das an der Wand befestigt war. Er klopfte mit der rechten Vorderpfote auf eine der hölzernen Verzierungen auf der Wand. Die Holztafel über dem kleinen Brett glitt zur Seite. Leo machte einen Satz rückwärts. Dabei trat er sich auf den Schwanz und fiepte.

„Pssst!“, zischte Robin. „Das ist doch nur eine Tür.“

„Das weiß ich, aber was ist da drin?“

Vom Boden aus sah er gar nichts und für zwei Kater war das Regal zu eng.

„Das ist ein Aufzug“, sagte Robin und verstummte dann, als ob das alles erklärte.

„Der ist aber klein“, sagte Leo.

„Unser Haus war früher ein Hotel. Ich habe einmal ein Gespräch zwischen Johanna und dem alten Mankowski gehört. Die Menschen hier haben Essen in den Aufzug gestellt und es hoch und runter gefahren.“

„Und warum haben sie Essen reingestellt?“, hakte Leo nach.

„Damit die Angestellten es nicht tragen mussten, von einer Etage in die nächste. Habe ich doch schon gesagt“, knurrte Robin. Dann miaute er mit gesenkter Stimme weiter: „Was besonders gut ist, ist der Ausgang des Aufzugs im Garten. Dort haben die Gäste bei schönem Wetter draußen gesessen und gegessen. So kann ich jederzeit aus dem Haus heraus.“

Ein Geräusch aus dem Schlafzimmer. Robin hielt inne. Stefan schnarchte. Der Kater atmete auf.

„Meine Besitzer und die anderen menschlichen Bewohner hier im Haus wissen nicht, dass ich den Aufzug bedienen kann“, miaute er leise. „Und so soll es auch bleiben. Deshalb müssen wir vorsichtig sein.“

Leos Augen leuchteten.

„Wollen wir zusammen fahren?“, fragte er und balancierte auf den Hinterbeinen, um mehr sehen zu können.

„Das geht nicht. Wir müssen nacheinander fahren, beide zusammen passen wir nicht rein. Wir versuchen es mit der Wohnung im zweiten Stock, die steht leer. Dann kannst du das Fahren lernen“, sagte Robin. Er hob eine Pfote.

„Du musst hier draußen den zweiten Knopf, besser gesagt die zweite Verzierung von unten drücken. Dann hält der Aufzug im zweiten Stock und die Tür geht auf.“

„Aber woher weiß ich, welches die richtige Tür ist?“

„Du musst zählen, habe ich doch gesagt.“ Robins Miauen klang dumpf. Er stand schon mit dem Vorderteil in der kleinen Öffnung.

„Ich kann nicht zählen“, sagte Leo, aber da war Robins Schwanzspitze schon im Dunkel verschwunden. Die Tür glitt zu.

Leo stand alleine im Flur. Er lauschte. Alles ruhig. Ihm wurde unheimlich zumute. Das einzige Licht kam von einer kleinen Lampe mit einem dunkelgrünen Schirm. Es war schummrig. Zum Glück hatte er sich gemerkt, auf welches Holzstück Robin gedrückt hatte. Der Sprung auf das Regal war leicht. Er tat es seinem neuen Freund gleich und nach einer Weile glitt die Tür wieder auf. Leo trat an den Einstieg heran und streckte den Kopf hinein. „Robin?“ miaute er leise. Er erschrak. Sein Miauen klang in dem hohlen Fahrkorb lauter als gedacht. Keine Antwort. Unschlüssig peitschte er mit dem Schwanz. Dann setzte er eine Tatze auf den hölzernen Boden. Er knarrte. Leo erstarrte. Alles blieb ruhig. Er hob die linke Pfote – Leo war Linkspföter – und wollte auf den besagten Knopf drücken. Doch welcher war der zweite Knopf von unten? Er wusste es nicht. Also verließ er sich auf sein Glück und drückte einen. Die zugleitende Holztür schubste ihn hinein. Der hölzerne Korb setzte sich ruckelnd in Bewegung. Ging es hoch oder runter? Der Aufzug stoppte und die Tür glitt auf. Leo streckte den Kopf hinaus. Das Mondlicht erhellte die Rosenbeete und den Gang von der Haustür zu den Mülltonnen.

„Robin?“ Keine Antwort.

„Hier draußen kann er doch nicht sein“, begann er mit sich selbst zu sprechen. Wenn er mit sich selbst sprach, fühlte er sich sicherer. Und weil er im Allgemeinen ein ängstlicher Kater war, miaute er oft mit sich selbst.

Er drückte erneut auf einen der Knöpfe. Der Aufzug fuhr nach oben. Ein Ruck und die Tür ging auf. Leo sprang in den Flur, streckte den Kopf in die Luft und witterte. Überall standen Dinge herum, Dinge, die Menschen benutzten. Schuhe, zwei Kommoden, eine Garderobe. Der Fahrstuhl schloss sich mit einem leisen Knarren.

Aus einem der verschlossenen Zimmer drang ein Geräusch, als ob jemand einen schweren Stuhl zurückschieben würde. Der Kater versteckte sich hinter einem Mantel, der an der Garderobe hing. Nur seine Pfoten schauten unten heraus. Die Tür öffnete sich und ein Mann mit weißen Haaren und Falten im Gesicht trat in den Flur. Er machte das Licht an und blickte sich argwöhnisch um. Leo spähte durch ein Loch zwischen zwei Mantelfalten.

„Ich hätte schwören können …“, sagte der Mann.

Er ging hinkend in die Richtung der Garderobe, als in einem der Zimmer das Telefon klingelte. Der Mann zögerte. Wieder klingelte es. Er drehte um und hinkte in das Zimmer zurück. Das Klingeln hörte auf.

„Mankowski!“, hörte Leo den Alten laut und energisch sagen.

Leo schlich hinter dem Mantel hervor und äugte durch den Türspalt. Mankowski stand mit dem Rücken zum Flur im Wohnzimmer. Leo wollte zum Aufzug laufen. Da drehte sich Mankowski um und schlurfte in den dunklen Flur. Zum Glück schaute er nicht nach unten: Leo huschte, eng an die Wand gedrückt, ins Wohnzimmer hinter einen Sessel. Mankowski machte kehrt und ging zu einem Schrank, öffnete die obere Tür und zog eine Medikamentenschachtel heraus. Er füllte sie mit verschiedenen Pillen und Tabletten und stellte sie in den Schrank zurück.

Nachdem Mankowski den Schrank wieder verschlossen hatte, ging er aus dem Wohnzimmer, machte das Licht aus und schloss die Tür. Leo war eingeschlossen. Wie sollte er zum Aufzug kommen?

Robin saß im zweiten Stock und wartete. Es war dunkel. Draußen hörte er eine Eule rufen. Er trabte über den Parkettfußboden, sprang auf das Fensterbrett im Erker und spähte in den Garten. Dann lief er zur gegenüberliegenden Wand und hieb seine Krallen in den Putz. Etliche Krümel rieselten herunter und vergrößerten den Haufen auf dem Boden.

Leo kam nicht. Unruhig trabte Robin wieder zu dem Aufzug und lauschte durch die geschlossene Tür. Nichts. Er fuhr bis in den Garten. „Leo?“, miaute er nach draußen. Keine Antwort. Vielleicht war der Rote nach Hause gelaufen. Robin lief zu Leos Wohnsiedlung.

Eine kleine Holztreppe, eigens für den roten Kater gezimmert, führte über das Balkongeländer zu Leos Wohnung. Es gab ein dumpfes Geräusch, als Robin mit gesenktem Kopf gegen die Katzenklappe stieß. Sie ging nicht auf. Er versuchte es noch einmal. Nichts bewegte sich.

Es war dunkel und still. Außerdem roch es merkwürdig. Menschengerüche kannte Leo von Lotte. So roch es nicht. Es roch wie in dem verlassenen Mauseloch, das er kürzlich auf der Wiese in seinem Garten entdeckt hatte. Er erinnerte sich genau: Vorsichtig hatte er mit der Pfote in das Loch gelangt und war auf etwas Weiches, Pelziges gestoßen. Als er die Pfote wieder herauszog, hing an seinen Krallen eine tote Maus. Also roch es in Mankowskis Wohnzimmer nach toter Maus!

Die Tür öffnete sich.

„Ich werde schon senil“, sagte der alte Mann. „Ich wollte doch lüften.“

Mit diesen Worten schlurfte er zur Balkontür und öffnete sie. Leo flitzte in den Flur.

„Verdammt noch mal!“, fluchte Mankowski. „Jetzt hab´ ich die Katzen schon in der Wohnung.“ Leo schaute sich nach der hölzernen Verzierung um, auf die er nur zu gerne gedrückt hätte. Ein Stechen in seiner Flanke ließ ihn herumfahren. Mankowski stieß mit einem Besen nach ihm.

„Euch werde ich lehren, mir nicht nur meine Rosenbeete zu verätzen, sondern mich auch noch bis in die Wohnung zu verfolgen“, schrie der Alte wütend und stieß bei jedem Wort mit dem Besen nach Leo. Der Kater flitzte von einer Ecke des Flurs in die andere, doch diesmal war auch sein Versteck hinter dem Mantel nicht sicher. Mankowski öffnete die Wohnungstür und schrie:

„Hau´ ab, raus mit dir!“

Leo ließ sich das nicht zweimal sagen und sauste in das Treppenhaus hinaus. Mit einer Behändigkeit, die Leo dem hinkenden Mann nicht zugetraut hatte, holte der mit dem Fuß aus und trat ihm in sein Hinterteil. Leo fauchte, strauchelte, fing sich wieder und rannte die Treppen in den dunklen Hausflur hinunter.

Es wurde hell. Von unten rief eine Männerstimme:

„Was ist da oben los? Könnt ihr bitte leiser sein, es ist schon nach elf.“

„Ich bin´s ja nicht, der hier den Tam-Tam veranstaltet, das sind eure Viecher.“

„Ach, Herr Mankowski, das sind keine Viecher, das sind liebenswerte Haustiere, das lernen Sie wohl nie.“

„Ach, Herr Braunfels, haben Sie mir dann das liebenswerte Haustier mitten in die Wohnung gesetzt, ja?“, äffte Mankowski ihn nach.

Im Erdgeschoss ging eine weitere Tür auf. „Also da hört doch alles auf“, rief eine erboste Frauenstimme aus dem Erdgeschoss. „Wissen Sie, wie spät es ist?“

„Nach elf, Frau Schmitz“, riefen Mankowski und Jens Braunfels gleichzeitig nach unten.

„Wollen Sie mich veräppeln?“, rief Kathrin Schmitz nach oben. „Unsere Kinder schlafen. Aber offensichtlich ist ihnen das egal, sie haben keine Kinder.“

„Der Klügere gibt nach, ich wünsch Ihnen beiden eine gute Nacht“, rief Jens Braunfels und schloss die Tür.

„Bringt eh nix“, murrte Mankowski. „Muss ich halt warten, bis es so weit ist.“

Dann wurde es dunkel im Treppenhaus. Leo, der sich in der zweiten Etage ängstlich an die Wand gedrückt und dort das Gespräch mit angehört hatte, atmete auf. Oben und unten fielen die Türen ins Schloss.

„DU hast das alles veranstaltet?“

Leo fuhr herum. Da stand Robin. Erleichtert plapperte der Kleine drauflos: „Wo warst du denn? Ich habe dich überall gesucht. Du warst plötzlich weg. Hättest du nicht auf mich warten können? Hätten wir nicht doch zusammen fahren können? Ich kann doch nicht zählen und als du gesagt hast …“

Robin fauchte und Leo verstummte.

„Ich habe dich auch gesucht und DU warst plötzlich weg“, sagte er. „Und wieso geht die Klappe an deinem Balkon nicht auf? Ich habe dich auch dort gesucht.“

„Die geht nicht für andere Tiere auf. Ich musste extra zum Tierarzt, der hat mich aufgeschnitten und mir einen Chip unter meine Haut geschoben. Die Klappe geht nur für mich auf.“

Robin legte den Kopf schief, sagte aber nichts.

„In der Wohnung da oben riecht es nach toter Maus“, sagte Leo.

„Nach toter Maus?“, echote Robin.

„Ja. Warum wiederholst du mich?“

Robin schüttelte den Kopf.

„Nein, du musst dich verrochen haben. Mankowski kann keine Tiere leiden. Wieso sollte eine Maus dann in seiner Wohnung sein?“

Leo reckte den Kopf hoch in die Luft.

„Das weiß ich doch nicht. Glaubst du mir nicht?“

Robin schwieg. Er zweifelte an Leos Worten. Der hatte wenig Erfahrung, wie sollte er die Gerüche voneinander unterscheiden?

„Ob tote Maus oder nicht, wir müssen etwas unternehmen, wegen Floras totem Welpen“, sagte er dann.

„Jetzt?“, piepste Leo erschrocken zurück.

„Na, das mit der Mülltonne haben wir doch heute schon ganz gut geschafft, oder?“

„Na ja, schooon, aber ich bin müde. Ich will nach Hause.“

Robin holte tief Luft. Er durfte den kleinen Kater nicht überfordern, sonst würde der gar nichts mehr tun wollen.

„Dann machen wir morgen weiter“, sagte er.

„Aber wie komme ich raus?“

Robin blickte vielsagend auf die hölzerne Wand in dem Treppenhaus. Leo stutzte. Dann miaute er mit leuchtenden Augen:

„Also auch hier?“

„Pssst“, machte Robin und lauschte. Aber das Treppenhaus blieb dunkel und still. Dann drückte er mit der rechten Vorderpfote auf eine der hölzernen Verzierungen. Eine kleine Tür schnappte nach außen auf.

Leo machte einen langen Hals und peilte über die Türschwelle in das dunkle Innere. Das Licht, das vom Treppenhaus in den Schacht einfiel, spiegelte sich auf etwas wider, das steil nach unten führte.

„Ist das auch für das Essen?“, fragte Leo und sein Miauen hallte aus dem dunklen Inneren wider.

„Nein“, antwortete Robin. „Siehst du nicht, dass das eine Rutsche ist?“

„Für Kinder?“, fragte Leo überrascht. Ihm fiel der Kinderspielplatz ein, der hinter seinem Wohnhaus war.

„Stellst du dich dumm oder bist du es?“, knurrte Robin, dem das welpische Gefrage des Roten langsam auf die Nerven ging.

„Natürlich nicht für Kinder. Die rutschen doch nicht hier drinnen. Nein, das ist für Müllbeutel. Der Aufzug in den Wohnungen ist für Essen und die Rutsche im Treppenhaus ist für Müll.“

Er wollte seine Erklärungen beenden, besann sich aber eines Anderen. Robin ermahnte sich selbst, etwas nachsichtiger zu sein. Schließlich war ihr Haus etwas Besonderes. Woher sollte Leo wissen, wofür die Fahrstühle und Rutschen gedacht waren?

„Das benutzen meine Besitzer aber heute nicht mehr“, fügte er deshalb hinzu. „Früher, als das noch ein Hotel war, haben die Menschen hier Müll reingeworfen. Der kam unten im Garten raus und sie konnten ihn gleich in die Mülltonnen werfen.“

Leo setzte zwei Pfoten auf die glatte Rutsche, behielt aber den größten Teil seines Körpers noch draußen, damit er nicht unfreiwillig hinunterschlittern würde.

„Aber woher weiß ich denn, wann ich aussteigen muss? Ich kann doch nicht zählen.“

„Dummer Kater“, unterbrach ihn Robin nicht ohne eine Spur von Geringschätzung, was ihm aber sogleich wieder leid tat.

„Der Ausgang nach draußen ist da, wo es nicht mehr weiter geht, ganz unten, neben dem Aufzug kommt er an, du musst nicht zählen“, setzte er deshalb sanfter hinzu und schickte seinem Miauen sogar ein kurzes Schnurren hinterher.

„Da war ich heute schon mal“, flüsterte auch Leo. „Das schaff ich.“

Und er verschwand in dem dunklen Gang.

Katerdämmerung

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