Читать книгу Aveline Jones im Bann der Hexensteine (2) - Phil Hickes - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Stein und Glas
Aveline Jones blickte missmutig auf die Brombeerstacheln, die sich im Ärmel ihres T-Shirts festgehakt hatten. Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem dornigen Griff und verzog das Gesicht. Diese Wildnis als Garten zu bezeichnen, war ein Witz. Dschungel traf es wohl eher. Seufzend nahm Aveline ihre schmutzige Brille ab und wischte sie an ihrem T-Shirt sauber. Da sie die nächsten Wochen hier verbringen würde, musste sie sich wohl oder übel daran gewöhnen.
Avelines Mum arbeitete für eine gemeinnützige Organisation und in letzter Zeit war sie so beschäftigt gewesen, dass Aveline die Hoffnung auf einen Sommerurlaub bereits aufgegeben hatte. Doch dann hatte ihre Mum kurz vor dem Schulanfang im September angekündigt, sie habe ein Cottage gemietet, irgendwo auf dem Land, wenn auch nicht allzu weit von ihrem Zuhause in Bristol entfernt. Zwei Wochen an einem Strand in Spanien wären Aveline zwar lieber gewesen, aber ein Cottage auf dem Land war immerhin besser als nichts. Nun war sie hier, während ihre Freunde wahrscheinlich gerade in den perfekten blauen Ozean sprangen, und kämpfte mit einem Brombeerbusch.
Aber Aveline hatte einen Grund, weshalb sie durch das Gestrüpp streifte und es heldenmutig mit den Stacheln aufnahm. Sie wollte unbedingt auf die andere Seite des Gartens gelangen.
Denn dort waren die Hexensteine.
In dem kleinen Ort Norton Wick gab es einen uralten Steinkreis. Allein schon der Name jagte Aveline einen Schauer über den Rücken. Geister, Ghule und Hexen waren ein Hobby von ihr. In einem ihrer Bücher hatte sie von diesem geheimnisvollen Steinkreis gelesen und jetzt würde sie ihn endlich mit eigenen Augen sehen. Der Steinkreis existierte seit Tausenden von Jahren. Warum er errichtet worden war, wusste allerdings niemand so genau, es gab nur verschiedene Theorien.
Manche behaupteten, es handele sich um eine Art Kalender, um die Jahreszeiten zu bestimmen. Andere sahen in dem Kreis einen Tempel, in dem die Menschen zusammengekommen waren, um ihre Götter zu verehren. Wieder andere vermuteten, Aliens hätten ihn errichtet. Einige zogen eine Verbindung zu den Druiden, alten keltischen Priestern, die entweder als Heiler, Zauberer oder blutrünstige Unholde galten, je nachdem, wem man Glauben schenkte. Aveline fand das alles sehr interessant, aber am meisten faszinierte sie der Name des steinernen Kreises. In dem Buch, das sie gelesen hatte, war nie von Hexen die Rede gewesen, wie also hatte er diese Bezeichnung erhalten? Sie musste den Kreis mit eigenen Augen sehen, wenn sie eine Antwort auf diese Frage finden wollte. Und nun war es fast so weit. Die Cottage-Besitzer hatten gesagt, die Hexensteine würden sich ganz in der Nähe befinden. Genauer gesagt, auf der anderen Seite des Gartens.
Aveline wappnete sich gegen weitere Kratzer der fiesen Brombeerstacheln und bahnte sich ihren Weg durch das Dickicht. Eigentlich hätte sie erwartet, dass jemand den Garten vor Ankunft der Urlaubsgäste ein wenig in Ordnung gebracht hätte. Aber überall wuchsen Pflanzen und Unkraut hemmungslos in den Himmel und versperrten ihr auf Schritt und Tritt den Weg. Spatzen und Drosseln huschten raschelnd durchs Gebüsch. Riesige Spinnen tanzten an hauchdünnen Fäden von Strauch zu Strauch. Zwischen den bunten Blumen summten geschäftige Bienen. Die Pollen, die an ihren kleinen Beinchen klebten, sahen aus wie flauschige gelbe Stulpen. Aveline kam sich vor, als wäre sie in die Party einer geschlossenen Gesellschaft hineingeplatzt.
Nach einer hässlichen Auseinandersetzung mit Brennnesseln und einer kurzen Rauferei mit einem Weißdornbusch kam Aveline endlich gut voran, als ihr Fuß plötzlich gegen etwas Hartes, Klackerndes stieß. Sie bückte sich und tastete zwischen dem Unkraut den Boden ab. In der dunklen Erde blitzte etwas auf. Neugierig fing sie an zu graben, bis ihre Finger einen festen Gegenstand berührten. Sie machte weiter und hatte ihn bald darauf ganz freigelegt.
Es war eine Flasche.
Sie hatte einen dünnen Hals, einen kleinen ovalen Körper und sah sehr alt aus. Das mattgrüne Glas war stumpf und auch nachdem Aveline die Erde von der Flasche gewischt hatte, konnte man nicht ins Innere sehen. Aveline stand auf und hielt die Flasche ins Sonnenlicht. Ihr Finger fingen an zu kribbeln, aber das kam wahrscheinlich von den Nesseln. Etwas steckte in der Flasche. Was genau, war schwer zu sagen. Nur ein dunkler Klumpen war zu erkennen, mehr nicht. Ein merkwürdiges Gefühl überkam Aveline und kroch langsam über ihre Arme. Irgendetwas an der Flasche war seltsam und Aveline spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam.
Als sie die Flasche schüttelte, hörte sie ein leises Klappern. Aveline untersuchte den Flaschenhals genauer. Eine dicke Wachsschicht verschloss die Öffnung. Vermutlich war das Wachs einmal rot gewesen, inzwischen war es schwarz wie Teer. Aveline versuchte, es zwischen den Fingern zu zerdrücken, aber es war hart wie Zement. Um herauszufinden, was sich in der Flasche verbarg, würde Aveline sie zerschlagen müssen, doch davor schreckte sie im Moment noch zurück. Sie wollte die Flasche nicht kaputt machen. Vielleicht sollte sie sie einfach wieder verbuddeln. Aber neugierig war sie schon … Alte Flaschen mit geheimnisvollem Inhalt mussten genauestens untersucht werden.
Die schmutzige Flasche zwischen Daumen und Zeigefinger haltend, setzte Aveline ihren Weg bis zum Ende des Gartens fort und stellte die Flasche neben die Steinmauer, die das Grundstück von den angrenzenden Feldern trennte. Ein riesiger Rhododendronstrauch bot ersehnten Schatten. Aveline ließ sich auf dem Boden nieder, um wieder zu Atem zu kommen. An diesem schwülen Spätnachmittag waren ein paar Minuten auf der angenehm kühlen Erde eine willkommene Verschnaufpause. Der August war brütend heiß gewesen und obwohl der Monat sich langsam dem Ende zuneigte, war noch keine Abkühlung zu erwarten.
Aveline rieb über die roten Kratzer an ihren Armen und blickte zurück zum Cottage. Vor etwa einer Stunde waren sie und ihre Mum angekommen, im Gepäck einen kleinen Berg an Vorräten. An einem fremden Ort musste man sich immer erst zurechtfinden. Die Aussicht war anders. Die Gerüche waren anders. Alles war anders. So ruhig und abgelegen wie hier hatte Aveline noch nie gewohnt. Das Dorf lag versteckt zwischen unwegsamen, engen Landstraßen. Die schiefen Häuser und die verwitterten Straßenschilder vermittelten den Eindruck, als wäre der Ort zum Stillstand gekommen, während der Rest der Welt sich weiterdrehte, ohne dass die Bewohner von Norton Wick es bemerkten. Das war einer der Gründe, warum ihre Mum dieses Dorf ausgewählt hatte. Die Vorstellung, eine Zeit lang der Großstadthektik zu entfliehen, gefiel ihr. Aveline grinste schief. Tja, dieser Wunsch ihrer Mum war definitiv in Erfüllung gegangen. Sie waren weit weg von der Stadt und es fühlte sich sogar so an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit.
Die Zimmerwände in dem kleinen Haus hatten hässliche braune Flecken. Die Wasserhähne tropften. Das Dach war undicht. Die Fensterscheiben hatten Sprünge. Das Cottage war wie ein alter Mann mit knirschenden Gelenken und einem scheußlichen Husten. Aveline war froh, dass es zumindest Strom und heißes Wasser gab. Trotzdem fragte sie sich, ob vor ihnen jemals Feriengäste hier gewohnt hatten. Es kam ihr vor, als wären sie seit hundert Jahren die Ersten, die einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt hatten.
Aveline stand wieder auf. Sie hatte ein kleines Holztor in der Gartenmauer entdeckt. Wie alles andere an diesem Ort hatte auch das Tor schon bessere Zeiten erlebt. Die grüne Farbe war verblichen und abgeblättert und das Schloss war vom Rost ganz braun. Ächzend schob Aveline den Riegel zur Seite und stieß das Tor auf. Das Quietschen der Angeln verriet, dass schon sehr lange niemand mehr hindurchgegangen war.
Aveline riss erstaunt die Augen auf.
Vor ihr erhoben sich wuchtige, mit modrigem Moos bewachsene Steine. Die Hexensteine waren zum Greifen nah. Aveline wohnte praktisch direkt nebenan. Sie hatte vorher noch überlegt, ob man Eintrittsgeld zahlen musste, um den majestätischen Kreis besichtigen zu können, aber hier waren keine Autoparkplätze, kein Ticketverkauf, keine Informationsstände und auch keine Besucher. Man hätte meinen können, sie wäre zufällig auf eine geheime Stätte gestoßen, verborgen zwischen den grünen Hügeln der Landschaft. Aveline trat näher, sog die warme Sommerluft ein – und stellte fest, dass die Steine nach Kuhmist rochen. Was nicht verwunderlich war, denn auf der Weide grasten Kühe.
Es waren insgesamt dreizehn Steine (sicherheitshalber zählte Aveline noch ein zweites Mal). Drei davon standen aufrecht und sahen aus wie gigantische Pfeilspitzen. Riesige Felsbrocken, die den Eindruck erweckten, als wäre jeder von ihnen tausend Tonnen schwer. Die anderen Steine lagen flach im Gras, ihre zerklüftete graue Oberfläche erinnerte Aveline an einen großen buckligen Wal, der gerade aus dem Wasser auftaucht.
Den Mund vor Staunen geöffnet, stand sie da. Das geheimnisvolle Monument schlug sie sofort in seinen Bann. Wie merkwürdig, dass weit und breit niemand zu sehen war, besonders weil es doch mitten in den Sommerferien war! Die einzigen anderen Lebewesen waren die Kühe, die gemächlich zwischen den Steinen umherwanderten, saftiges Sommergras kauten und mit ihren Schwänzen lästige Fliegen verjagten. Aveline dachte nach. Der Steinkreis befand sich an einem abgelegenen Ort. Er war zwar eindrucksvoll, aber nicht annähernd so überwältigend wie die großen Megalithen von Stonehenge, die Touristen aus aller Welt anlockten. Vielleicht hatte außer ihr noch niemand etwas von den Hexensteinen gehört? Was auch immer der Grund war, Aveline war froh, dass sie den Ort ganz für sich allein hatte.
Da hörte sie ein lautes Lachen.
Vielleicht war doch noch ein anderer Besucher da?
Aveline überkam eine ungewohnte Scheu. Rasch ging sie im grünen Dickicht hinter dem Holztor in Deckung. Das Gartentor ließ sie geöffnet, sodass sie die Steine im Blick behalten konnte. Der Tag hatte etwas Unwirkliches und die Welt um sie herum schien zu zerfließen wie weiche Butter. Sogar der Horizont schimmerte eigenartig. Mücken tanzten im Sonnenlicht und ein seltsam zäher Schleier hatte sich über alles gelegt.
Benommen sah Aveline, wie sich plötzlich eine Gestalt aus dem Dunst schälte. Ein Mädchen. Sie trug ein fließendes weißes Kleid, das einen Kontrast zu ihren langen schwarzen Haaren bildete. Auf Zehenspitzen stieg sie durch das hohe Gras. Es sah aus, als vollführte sie ein uraltes Ritual. Dabei strich sie mit der Hand über einen der Steine und streichelte ihn, als wäre er eine Katze. Gebannt beobachtete Aveline das eigenartige Verhalten des Mädchens.
Was um alles in der Welt tat sie da?
Aveline starrte zu ihr hinüber, als das Mädchen plötzlich in der Bewegung innehielt und in Avelines Richtung blickte. Ein amüsiertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Aveline hatte gedacht, sie hätte ein gutes Versteck gewählt, aber das Mädchen schien zu wissen, wo sie sich befand. Verlegen wich sie weiter ins tiefe Gras zurück. Es war ihr peinlich, dass das Mädchen sie beim Spähen ertappt hatte. Aveline griff nach der Flasche, trat, so schnell sie konnte, den Rückzug an und fluchte, als sie sich erneut in den Brombeeren verhedderte. Im Cottage angekommen, rannte sie schnurstracks in die Küche, stemmte sich am Waschbecken hoch und spähte durchs Fenster. Obwohl sie einen freien Blick bis zum Steinkreis hatte, war von dem Mädchen weit und breit nichts zu sehen.
»Na, na, na, neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen!«, sagte ihre Mum hinter ihr.
»Sie sterben wenigstens nicht an Langeweile«, erwiderte Aveline und ließ sich auf den Fußboden zurückgleiten.
Lachend strich ihre Mum eine Locke aus Avelines Gesicht. »Ach, komm schon, Aveline, so schlimm ist es hier nun auch wieder nicht. Was gibt es denn da draußen Spannendes zu sehen?«
»Ich habe hinterm Garten den Steinkreis entdeckt. Als ich ihn mir näher anschauen wollte, ist ein Mädchen aufgetaucht.«
»Vielleicht ist sie eine Seelenverwandte und genauso fasziniert von diesen Steinen wie du, Aveline. Du hättest hingehen und Hallo sagen können.«
»Mum«, stöhnte Aveline, bevor ihre Mutter zu einer langen Rede zu einem ihrer Lieblingsthemen ansetzen konnte, nämlich: Wie schließe ich möglichst schnell Freundschaft mit jedem, der mir über den Weg läuft.
»Und was hat dieses schmutzige Ding hier auf unserer schönen, sauberen Anrichte zu suchen?«, fragte Avelines Mum und wechselte abrupt das Thema.
»Es ist eine alte Flasche. Ich habe sie im Garten gefunden. Keine Ahnung, was drin ist, die Flasche ist versiegelt.«
»Mir wäre es lieber, du bringst sie wieder in den Garten zurück.«
»Aber vielleicht ist etwas Wertvolles darin!«, protestierte Aveline.
»Ja, vielleicht sind aber auch grässliche Keime darin. Wenn die Flasche schon so lange im Garten liegt, hält sie es bestimmt noch ein paar weitere Tage im Freien aus.«
Aveline wollte widersprechen, doch dann fiel ihr ein, dass der Urlaub zum Entspannen sein sollte, also nahm sie die Flasche und ging damit zur Hintertür.
»Okay, bin gleich wieder da.«
Eine warme Brise wehte ihr entgegen. Erneut bahnte sie sich einen Weg durch den Garten, noch vorsichtiger diesmal als zuvor, um nicht mit der Flasche in der Hand zu stolpern. An der Gartenmauer angekommen, spähte sie über das Tor hinweg zu den Steinen hinüber, in der Hoffnung, das Mädchen noch einmal zu sehen, aber außer den Kühen war niemand da.
Aveline bückte sich, legte die Flasche behutsam wieder an ihren Platz und schaufelte mit den Händen etwas Erde darüber, damit sie nicht wegrollte. Ihre Mum hatte recht. Die Flasche hatte nun schon so lange im Garten gelegen, da konnte sie auch noch etwas länger hierbleiben – zumindest so lange, bis Aveline einen Entschluss gefasst hatte. Abgesehen davon war Aveline selbst nicht sicher, ob sie die Flasche im Cottage aufbewahren wollte. Irgendetwas daran war … unheimlich. Vielleicht war es klüger, erst einmal Nachforschungen anzustellen. Ihr Freund Harold konnte ihr bestimmt helfen. Er würde bald herkommen und ein paar Tage bei ihnen verbringen. Aveline und Harold hatten sich im vergangenen Jahr im Buchladen seines Großonkels kennengelernt. Vielleicht konnte er ein Buch über alte Flaschen auftreiben und es mitbringen. Sie nahm sich vor, ihn vor seiner Abreise anzurufen.
Als sie sich wieder aufrichtete, landete eine Elster auf der Gartenmauer.
»Sch«, machte Aveline. »Fort mit dir! Brauchst gar nicht so neugierig zu sein.«
Unwillkürlich dachte sie an den Vers aus einem alten Kinderlied, das von sieben Elstern handelte.
Eine für Unglück, zwei für Glück…
Aveline hatte vergessen, wie der Abzählreim weiterging. Die Elster machte keine Anstalten wegzufliegen, sondern starrte sie mit ihren schwarzen Knopfaugen an. Plötzlich spannte sie die Flügel und stieß ein raues Krächzen aus, das sich anhörte wie spöttisches Gelächter.
Die Hexensteine.
Als hätte die Elster Avelines Gedanken gehört, flatterte sie davon und landete auf dem höchsten Stein. Dann krächzte sie erneut. Aveline wandte ihr den Rücken zu und rannte zum Cottage zurück.
Vor der Tür warf Aveline noch einen letzten Blick zurück. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und für einen kurzen Moment meinte sie, tatsächlich eine Silhouette zu erkennen. Da war jemand, der neben dem Tor kauerte und zum Haus starrte. Aveline nahm sich nicht die Zeit herauszufinden, um wen es sich handelte. Schatten krochen bereits den Pfad hinauf, als sie rasch die Tür hinter sich zuschlug und vorsichtshalber den Riegel vorschob.