Читать книгу Aveline Jones im Bann der Hexensteine (2) - Phil Hickes - Страница 8

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Kapitel 3

Zaubertricks

Guten Tag, hier ist das Bestattungsinstitut Stormhaven. Leider kann im Augenblick niemand Ihren Anruf entgegennehmen, denn wir sind alle tot.«

Aveline ließ das Handy sinken und verdrehte die Augen, dann hielt sie es wieder ans Ohr.

»Harold, du Witzbold.«

»Wer ist dieser Harold, von dem Sie sprechen?«

»Okay, beim ersten Mal war es vielleicht lustig, aber jetzt übertreibst du es. Woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Das Telefon zeigt deine Nummer an.«

»Ah, alles klar.«

Aveline hatte Harold vor ein paar Monaten kennengelernt, als sie die Herbstferien bei ihrer Tante Lilian in Stormhaven verbracht hatte. Seither waren sie Freunde. Harold konnte eine schreckliche Nervensäge sein, aber wenn man mal von seinen miesen Witzen, seinem kindischen Humor, seinen Launen, seiner Ungeduld und Unhöflichkeit absah, dann war er eigentlich ziemlich cool. Obwohl sie sich seither nur einmal wiedergesehen hatten, als Aveline auf Besuch bei ihrer Tante gewesen war, schrieben sie sich fast jeden Tag und sprachen gelegentlich über Facetime miteinander. Morgen würde Harold nach Norton Wick kommen und Aveline konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen – obwohl sie das ihm gegenüber natürlich nie zugeben würde. Weil sie sich so selten sahen, kam er ihr manchmal wie ein unsichtbarer Freund vor, daher freute sie sich darauf, ihn zur Abwechslung einmal in echt zu treffen.


»Was gibt’s?«, fragte Harold. »Wie ist das Ferienhaus? Ich hoffe, du hast das schönste Zimmer für mich reserviert.«

»Um ehrlich zu sein, ist das Cottage alt und knarzig. Zum Glück gibt es hier einen Kohlenschuppen, wo wir dich unterbringen können. Dadrin ist es dunkel, schmutzig und kalt. Du wirst dich dort wohlfühlen. Wie geht’s deinem Großonkel?«

Harold rief etwas über die Schulter: »Aveline will wissen, wie es dir geht!«

Aveline hörte, wie eine brüchige, alte Stimme antwortete: die von Mr Lieberman, Harolds Großonkel.

»Richte ihr aus, dass es mir gut geht und wir uns schon auf unser Wiedersehen morgen freuen. Oder ist es übermorgen? Ich bringe mal wieder die Tage durcheinander. Wie auch immer, sei so gut und mach bitte keine albernen Witze, wenn du ans Geschäftstelefon gehst, Harold. Professionelles Auftreten ist das A und O.«

»Er sagt, es geht ihm gut«, sagte Harold knapp. »Wie ist es in Norton Wick? Kann man da was unternehmen?«

»Du wirst es nicht glauben, aber unser Cottage befindet sich direkt neben einem alten Steinkreis.«

»Echt?«

Harold klang ehrlich beeindruckt. Aveline war hocherfreut, denn normalerweise tat er immer so, als könnte ihn nichts vom Hocker reißen.

»Ja. Und soll ich dir den Namen verraten? Sie werden Hexensteine genannt!«

»Oh, oh.«

»Genau. Das ist auch der Grund, warum ich anrufe. Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Und ich dachte, du rufst an, um zu hören, wie es mir geht.«

»Sei nicht albern.«

»Also schieß los.«

»Ich habe im Garten eine alte, versiegelte Flasche gefunden. Vielleicht liegt sie nur zufällig da, aber ich hab das Gefühl, jemand hat sie mit Absicht hier vergraben.«

»Was ist drin?«

»Weiß ich noch nicht.«

»Worauf wartest du?«

»Um sie zu öffnen, muss ich sie kaputt machen. Ich dachte, ich warte, bis wir gemeinsam mehr darüber herausgefunden haben.«


»Steht zufällig Coca-Cola drauf?«

»Harold! Im Ernst, die Flasche ist irgendwie unheimlich. Kannst du mal im Buchladen stöbern, ob du irgendetwas über alte Flaschen findest? Und bring alle Bücher über Steinkreise mit, die du finden kannst. Und über Norton Wick. Und Druiden. Oh, und auch alles über Hexen.«

»Sonst noch was? Soll ich vielleicht gleich den ganzen Buchladen anschleppen?«

»Schau einfach, was du finden kannst.« Aveline verstellte ihre Stimme, sodass sie tief und gespenstisch klang. »Unsere Leben könnten davon abhängen, Harold.«

»Okay, mal sehen, was sich machen lässt.«

»Danke.«

»Dann bis bald.«

»Okay, tschüss.«

»Tschüss.«

Zufrieden, dass sie Harold für ihre Mission eingespannt hatte, beschloss sie, für ein Stündchen zum Steinkreis zu gehen. Ihre Mum hatte nichts dagegen, dass sie allein loszog. Im Grunde genommen machte sie ja auch nur einen Abstecher zu der Weide direkt hinter dem Cottage. Sie wollte die Hexensteine genauer in Augenschein nehmen. Nicht nur wegen letzter Nacht, als sie dachte, jemand würde zu ihrem Fenster hinaufstarren, sondern auch, weil ihr die Worte der Pastorin über den Aberglauben der Dorfbewohner im Kopf herumspukten. Außerdem wusste sie immer noch nicht genau, woher der Name Hexensteine stammte. An diesem Ort waren seltsame Dinge geschehen, so viel stand fest.

Auf dem Weg zum Gartentor blieb Aveline kurz stehen, um sich davon zu überzeugen, dass die Flasche noch an Ort und Stelle war. Dann überquerte sie das Feld und ging zu der riesigen Eiche neben dem Steinkreis. Die Blätter waren noch grün, aber die Spitzen färbten sich bereits orange – ein zartes Aufglimmen, das sich bald in ein feuriges Rot verwandeln würde. Von allen Jahreszeiten mochte Aveline den Herbst am liebsten. Manchmal wünschte sie sich, sie könnte alle seine Gerüche und Farben einfangen und sich darin einhüllen wie in einen Mantel. Von der Sommerhitze hatte sie inzwischen wirklich genug.

Eine Zeit lang wanderte sie zwischen den Steinen umher und nahm die Aura dieses uralten Ortes in sich auf. Abgesehen von ein paar grasenden Kühen, die mit ihren Schwänzen schlugen und Aveline träge anglotzten, war sie ganz allein.

Zumindest dachte sie das.

Aber als sie einen der Steine aus der Nähe betrachtete, hörte sie direkt hinter sich eine Stimme.

»Hallo, bist du eine Hexe?«

Aveline drehte sich um. Vor ihr stand die geheimnisvolle Reiterin.

»N-nein, bin ich nicht«, stammelte sie. Was für eine seltsame Frage! Wollte das Mädchen sich über sie lustig machen?

»War nur ein Scherz, ich weiß, dass du keine Hexe bist«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang weich wie Seide. »Angeblich ist dieser Ort ein Hexentreffpunkt, daher dachte ich, ich frag lieber mal nach. Aber jetzt sehe ich, dass du viel zu hübsch bist, um eine Hexe zu sein.«

Aveline spürte, wie sie rot wurde. Sie schob ihre Brille hoch und lächelte das Mädchen an. »Danke.«

Als die Unbekannte auf sie zukam, bemerkte Aveline ihre ungewöhnlichen Augen: Eines war eisblau, das andere smaragdgrün. Die leuchtenden Farben wurden durch die dunkle, sonnengebräunte Haut des Mädchens sogar noch betont. Aveline hatte zwar schon Katzen mit verschiedenfarbigen Augen gesehen, aber noch nie einen Menschen. Zusammen mit den schwarzen Haaren verliehen sie dem Mädchen etwas Abenteuerliches, das Aveline fast ein wenig neidisch machte.

»Außerdem zeigen sich Hexen nur in der Nacht, das weiß jeder«, fuhr das Mädchen fort. »Wenn sie sich tagsüber ins Sonnenlicht wagen, gehen sie in Flammen auf und erleiden einen schrecklichen Tod.«

Soweit Aveline wusste, traf dies eigentlich nur auf Vampire zu. Aber das sagte sie lieber nicht. Eine Diskussion über die Gesetzmäßigkeiten der übernatürlichen Welt anzufangen, war sicher nicht der beste Weg, um Freundschaften zu schließen.

»Ich heiße Hazel. Hazel Browne. Browne mit e. Wir haben uns gestern schon gesehen, stimmt’s?«, sagte das Mädchen so geradeheraus, dass Aveline fast ein wenig nervös wurde.

»Ja, du bist auf deinem Pferd geritten. Ich bin Aveline. Ähm, Aveline mit A.«

»Aveline! Was für ein schöner Name. So würde ich auch gerne heißen. Sei froh, dass du nicht nach einer Nuss benannt bist. Na ja, wenigstens heiße ich nicht Pistazie oder Macadamia.«

Aveline lachte. Das Mädchen war lustig. Ganz anders, als sie sie sich vorgestellt hatte.

»Also, was treibst du hier zwischen den Steinen, Aveline? Ist dir auch so langweilig wie mir?«

»Ein bisschen. Es ist ziemlich ruhig hier, daran muss ich mich erst noch gewöhnen. Wir wohnen gleich da drüben.« Aveline deutete in die Richtung, aus der sie gekommen war. »In dem Cottage mit der grünen Tür.«

Hazel stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte zum Cottage hinüber. »Nicht zu fassen.« Hazel lachte. »Ferien in Norton-mitten-im-Niemandsland. Du Arme. Aber dein Pech ist mein Glück. Es ist schön, endlich eine Freundin zu haben.«

Eine Freundin.

Aveline zog den Bund ihrer Jeans hoch, strich, so gut es ging, das knittrige T-Shirt glatt und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Sie fragte sich, warum das Mädchen sie auf Anhieb zu mögen schien. Sie hatten sich doch gerade erst kennengelernt.

»Und wo wohnst du?«, fragte sie.

»In Norton Wick, aber etwas außerhalb. Du musst mich mal besuchen, dann können wir zusammen fernsehen und bergeweise Popcorn futtern.«

»Das heißt, du wohnst gar nicht direkt im Dorf?«, fragte Aveline und dachte an ihre Erkundungstour vom Vortag.

»Nein, es sei denn, jemand hat mein Haus versetzt, ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe. Du musst jedenfalls unbedingt zu mir kommen, wir werden viel Spaß haben.«

»Das wäre toll«, sagte Aveline. Ihr gefiel der Gedanke, außer Harold noch jemanden zu haben, mit dem sie die Ferien verbringen konnte.

»Und wir können uns auch hier treffen«, fuhr Hazel aufgeregt fort. »Ich liebe diese Steine, du auch?«

»Ja, sie sind wirklich faszinierend. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie wohl vor Tausenden von Jahren ausgesehen haben.«

»Viel beeindruckender als jetzt, das kannst du mir glauben. Damals standen natürlich alle aufrecht. Und es gab einen großen Ring aus hölzernen Pfählen um sie herum, sodass es eigentlich zwei Kreise waren: einer aus Holz und einer aus Stein. Außerdem war da noch ein großer, tiefer Graben. Das, was du heute siehst, ist nur noch ein kläglicher Rest.«

»Wow, woher weißt du das alles?«, fragte Aveline. Ihre Bewunderung für Hazel wuchs von Minute zu Minute.

»Ach, das hab ich irgendwo gelesen.« Hazel wischte Avelines Frage fort wie ein Staubkorn. »Was ist dein Lieblingseis? Meines ist Triple-Chocolate, da bekommt man dreifach Schokolade zum Preis von einer. Und du?«

»Lach mich nicht aus, aber ich habe mal in Cornwall Rhabarber-Eis probiert und es war superlecker!«

»Rhabarber? Trägst du auch Wollstrumpfhosen und Thermo-Unterwäsche, Oma Aveline?«

»N-nein, ich …«, stammelte Aveline, doch dann sah sie das Grinsen in Hazels Gesicht. »Oh. Ach so. Ja, ähm, das ist echt schräg, ich weiß.«

»Schon okay, Aveline. Es ist immer gut, wenn man ein bisschen anders ist.«

Gemeinsam schlenderten sie zwischen den Steinen umher und unterhielten sich. Sie redeten ohne Punkt und Komma und holten zwischendurch kaum Luft – Hazel streute immer wieder Witze ein und machte lustige Bemerkungen über alles und jeden, bis Aveline vor lauter Lachen Seitenstechen bekam. Allmählich begriff sie, warum ihre Mum ihr immer damit in den Ohren lag, dass sie Freundschaften schließen sollte. Es war schön, jemanden zu haben, mit dem man lachen konnte. Norton Wick wurde von Tag zu Tag besser.

»Ich muss jetzt zurück«, sagte Aveline widerstrebend. »Meine Mum ist allein, daher will ich nicht allzu lange wegbleiben.«

»Ist deine Mum sehr streng?«, fragte Hazel.

»Nein, eigentlich ist sie ziemlich cool.« Aveline bückte sich, um eine Pusteblume zu pflücken. »Sie will einfach nur wissen, wo ich mich herumtreibe. Du weißt ja, wie das ist. Außerdem ist sie gestresst von ihrem Job. Deshalb sind wir hergekommen, um ein bisschen zu entspannen.«

»Da hättet ihr euch keinen besseren Ort aussuchen können«, stellte Hazel fest und ging um einen der großen Steine herum.

»Ja, das stimmt. Ich glaube, die frische Luft tut ihr gut. Mal was anderes, als jeden Tag in der Stadt die Abgase einzuatmen.«

»Nein, so meinte ich das nicht«, sagte Hazel mit einem merkwürdigen Funkeln in ihren verschiedenfarbigen Augen.

Aveline runzelte fragend die Stirn. »Wie meinst du es dann?«

»Ich meinte, dass ihr euch mit dem Cottage den perfekten Ort ausgesucht habt.« Hazel hielt inne und tätschelte einen der Steine. »Direkt neben dem Steinkreis.«

Aveline nahm ihre Brille ab und wischte sie rasch sauber. »Ja, ich kann ihn von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen, das ist super.«

»Klar«, sagte Hazel. »Die Steine sind ein toller Anblick, aber das ist längst nicht alles.«

»Was soll das heißen?«, fragte Aveline. Hazels Gesichtsausdruck war plötzlich ernst geworden, ihr vergnügtes Lächeln war wie weggewischt.

»Ich muss dir wohl noch etwas Geschichtsunterricht geben, Aveline.« Hazel sprang auf einen der umgekippten Steine und setzte sich mit gekreuzten Beinen hin. »Beginnen wir mit einer Frage: Wozu dient dieser Ort, was meinst du?«

»Vielleicht ist er ein Kalender oder ein Tempel oder sogar ein Parkplatz für UFOs, keine Ahnung.«

»Hast du denn gar nichts über den Steinkreis gelesen?«

Aveline wurde rot. Sie kam sich vor wie in der Schule, wenn sie die richtige Antwort nicht wusste. Natürlich hatte sie über die Steine gelesen, aber danach war sie auch nicht schlauer gewesen als vorher. Außerdem wartete sie ja auf den Lesestoff von Harold. Trotzdem hatte sie das Gefühl, als wäre sie Hazel eine Antwort schuldig – und sei es auch nur, um ihr zu beweisen, dass sie kein Dummkopf war.

»Na ja, es gibt so viele Theorien, dass ich mich für keine entscheiden kann. Aber die Erklärung, dass hier eine Opferstätte der Druiden war, finde ich ziemlich gruselig.«

»Ach, die Druiden waren ein harmloser Haufen«, sagte Hazel abschätzig. »Sie tun keiner Fliege was zuleide. Aber überleg mal, warum sie sich von diesem Ort hier angezogen fühlten. Was hat es mit den Steinen auf sich?«

Das war eine gute Frage. Aveline fiel keine Antwort darauf ein, daher zuckte sie nur mit den Schultern.

»Der Boden, auf dem wir stehen, ist etwas Besonderes, Aveline. Auf den ersten Blick sieht es aus, als gäbe es hier nur Kuhfladen und Brennnesseln, aber die Menschen kommen nicht ohne Grund seit Tausenden von Jahren hierher. Alle denken, dass die Steine bedeutsam sind, aber eigentlich sind sie nur hübsche Markierungen, wie das Schild am Dorfeingang. Sie sind nur dazu da, um den Menschen zu sagen, dass sie den richtigen Ort gefunden haben.«

Aveline legte die Stirn in Falten. »Den richtigen Ort wofür?«

Hazel riss bedeutungsvoll die Augen auf und legte ihre Fingerspitzen aneinander. »Für Magie natürlich.«

Eine kalte Brise strich über Avelines bloße Arme, als hätte der Herbst plötzlich beschlossen, sich bemerkbar zu machen. Die Unterhaltung hatte eine unerwartete Wendung genommen. Hazel lächelte und bedeutete Aveline mit einer Geste, sich neben sie zu setzen. Aveline folgte der Aufforderung, auch wenn sie ein kleines bisschen nervös war.

»Schau genau auf meine Hände«, sagte Hazel und streckte ihr die Handflächen hin. »Sie sind leer, stimmt’s?«

Aveline nickte.

Blitzschnell klatschte Hazel in die Hände und presste sie für einen Augenblick zusammen. Dann sah sie Aveline mit einem breiten Grinsen an und öffnete die Hände langsam, als wollte sie einen kleinen Vogel freilassen. In ihrer Handfläche lag eine Halskette. Es war ein kleiner silberner Delfinanhänger an einem Lederband. Aveline schnappte überrascht nach Luft.

»Wow, ich liebe Delfine! Es sind meine Lieblingstiere.«

Hazel griff nach Avelines Hand und ließ die Halskette hineinfallen. »Ach ja? Dann gehört diese Halskette jetzt wohl dir.«

Aveline hielt die Kette hoch und bewunderte den Delfin, der an dem Lederband hin und her schwang. Er funkelte im Sonnenlicht und vor dem blauen Himmel sah es fast so aus, als würde er im Meer schwimmen. Aveline war beeindruckt. Sie hatte noch nie einen Zaubertrick aus der Nähe erlebt, Magiershows kannte sie nur aus dem Fernsehen. Sie vermutete, dass Hazel die Halskette heimlich aus ihrem Ärmel gezogen hatte – aber ihr Oberteil hatte keine Ärmel. Vielleicht hatte der Delfin die ganze Zeit im Gras gelegen oder auf dem Stein und Hazel hatte ihn blitzschnell aufgehoben, während sie Aveline mit ihrem Klatschen abgelenkt hatte. Aber Aveline war schlau genug, sie nicht danach zu fragen. Eine echte Magierin verriet niemals ihre Tricks. Mit einem Seufzen streckte Aveline die Hand aus, um Hazel die Delfinkette zurückzugeben.

»Ich kann sie nicht annehmen. Sie sieht teuer aus.«

Hazel verschränkte die Arme, wandte den Blick ab und hob trotzig ihr Kinn. »Natürlich kannst du sie annehmen, Aveline. Sie ist nicht von mir. Die Steine haben dir ein Willkommensgeschenk gemacht. Es wäre unhöflich von dir, es abzulehnen.«

Aveline sah sich um und für einen Augenblick kamen ihr die Hexensteine irgendwie anders vor. Fast schien es, als wären sie näher herangerückt.

»Bist du sicher?«

»Absolut.«

Aveline wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte noch nie ein Geschenk von jemandem bekommen, den sie kaum mehr als fünf Minuten kannte. Sie wusste, sie sollte die Kette zurückgeben, aber andererseits wollte sie weder Hazels Gefühle verletzen noch undankbar wirken. Hazel schien ihr Zögern zu spüren, denn sie drückte ihr seufzend den silbernen Delfin in die Hand und schloss Avelines Finger darum.

»Bitte, nimm sie. Oder willst du von einer Horde wütender Steine heimgesucht werden?«

Aveline schüttelte den Kopf und lächelte zaghaft. »Nein, lieber nicht. Vielen Dank.«

»Danke nicht mir, sondern den Steinen. Na los, probier die Kette mal an.«

Aveline legte die Kette um den Hals, dann hielt sie den Delfin hoch und betrachtete ihn staunend. Er hatte einen winzigen blauen Edelstein als Auge.

»Steht dir gut«, stellte Hazel fest.

»Vielen Dank, Steine«, flüsterte Aveline, bevor sie sich wieder Hazel zuwandte. »Hast du Lust, auf eine Limo mit mir nach Hause zu kommen?«

Sie wollte Hazel auch irgendetwas anbieten und da sie leider keine schicken Halsketten vorrätig hatte, würde ein kaltes Getränk genügen müssen.

»Ja, gerne.«

Während sie über das Feld zurück zum Haus gingen, betrachtete Aveline noch einmal den kleinen Delfin. Es war fast ein bisschen unheimlich. Genau so einen hätte sie sich selbst ausgesucht.

Was für ein Zufall, dass Hazel ihr etwas geschenkt hatte, das so perfekt ihrem Geschmack entsprach. Aveline schüttelte den Gedanken ab, denn inzwischen waren sie an der Gartenmauer angekommen.

»Komm rein«, forderte Aveline Hazel auf und versetzte dem Gartentor einen Tritt.

Kaum hatte Hazel den Garten betreten, zuckte sie plötzlich zurück, als wäre sie auf glühende Kohlen getreten. Vor Schmerz verzog sie das Gesicht.

»Alles in Ordnung? Bist du auf irgendwas getreten?«, fragte Aveline und suchte das Gras nach etwas Spitzem ab.

Hazel riss die Augen auf und blickte sich hektisch um. »Ähm … ich weiß nicht, vielleicht hat mich etwas gestochen.«

»Meine Mum hat bestimmt eine Salbe, die hilft.«

Hazel streifte eine Sandale ab und rieb sich den Fuß. Sie war ganz blass geworden. »Nein, schon gut, ich hab mich nur erschrocken.«

»Dann lass mich dir wenigstens etwas zu trinken holen.«

Hazel wich einen Schritt zurück. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich jetzt nach Hause muss.«

»Wirklich? Es dauert nur eine Minute.« Aveline wollte nicht, dass Hazel wegging. Sie wollte sie ihrer Mum vorstellen. Sie wollte sich weiter mit ihr unterhalten. Doch ihr entging nicht, dass Hazels verschiedenfarbige Augen fieberhaft den Garten absuchten.

»Ziemlich unordentlich hier, was?«, sagte Hazel. »In diesem Dschungel sieht man ja kaum, wohin man tritt.« Sie zog sich an der Gartenmauer hoch und ließ den Blick schweifen. »Ah, da bist du ja«, murmelte sie und ihre Augen wurden schmal. »Widerwärtiges kleines Ding.« Sie drehte sich zu Aveline um und deutete auf den Boden direkt neben der Mauer. »Wo hast du das denn her, Aveline?«

Aveline folgte Hazels ausgestreckter Hand und entdeckte die Flasche, deren Hals aus der Erde ragte. Hazel hatte offenbar ziemlich scharfe Augen.

»Die habe ich gestern gefunden. Keine Ahnung, was drin ist.« Aveline hob die Flasche auf und hielt sie Hazel hin. »Hast du so was schon mal gesehen?«

Hazel verzog das Gesicht, streckte abwehrend die Hand aus und wich noch ein Stückchen zurück. »Ja, habe ich. In einer Mülltonne. Das ist ja widerlich, Aveline. Es sieht aus, als hätte jemand vor ein paar Hundert Jahren in die Flasche gepinkelt. Du solltest sie zerschlagen, am besten gleich jetzt.«

Aveline versuchte erneut, durch das Glas hindurch etwas zu erkennen. »Ja, das werde ich, aber vielleicht kann ich zuerst noch etwas mehr über sie herausfinden. Mein Freund Harold … du wirst ihn mögen … er schaut sich gerade in dem Buchladen um, in dem er arbeitet, und …«

Aveline brach ab, als ihr klar wurde, dass sie nur mit sich selbst sprach.

Hazel war verschwunden.


Aveline Jones im Bann der Hexensteine (2)

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