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Kapitel 1

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Felix Admont zog die Blicke der Frauen auf sich wie ein Magnet. Er hatte, wie man so sagt, das gewisse Etwas. Große, dunkelbraune Augen, die einen auffälligen Kontrast zu seinen blonden Naturlocken bildeten, schauten neugierig in die Welt. Sein freundliches, hilfsbereites Wesen in Verbindung mit seiner sportlichen Figur verhalf ihm zu einer ganz besonderen Ausstrahlung.

Mit seinen siebzehn Jahren waren ihm die Avancen, die ihm die Damenwelt machte, noch ziemlich gleichgültig. Er hatte sich mit der Lehre in einer Großbank sehr zum Leidwesen seiner Mutter ein anderes Ziel gesetzt: Nur weg von der Landwirtschaft zu Hause. Nicht etwa weil er die Arbeit scheute, sondern vielmehr weil der Obst- und Gemüseanbau ihn überhaupt nicht befriedigte. Seit der Währungsreform blieben zudem die zahlreichen Helfer aus, die während und nach dem Krieg in Scharen kamen und für Naturalien jede Arbeit verrichteten. Es gab keinen Feierabend. Die Arbeit war eine elende Schinderei. Nicht einmal im Winter gab es eine Pause. Da musste Brennholz gehackt, Schnaps gebrannt und die Geräte und Fuhrwerke repariert, im Sommer dann mussten tonnenweise Erd-, und Johannisbeeren, Pfirsiche, Äpfel und Birnen eingebracht und versorgt werden. Das ABC des Fruchtwechsels kannte er in- und auswendig. Aber das war ihm viel zu wenig. Er fühlte sich zu Höherem berufen.

Aufstehen! Schrill und unerbittlich riss der Wecker Felix aus dem Morgentraum. Seit er die Banklehre in Frankfurt begonnen hat, holte ihn nicht mehr Großvater mit seiner knarrenden Stimme aus dem Bett. Er hatte sich eine pfiffige Weckmaschine gebastelt. Abends stellte er seinen Wecker in eine Blechschüssel in die Zimmerecke. Beim ersten Scheppern schreckte er auf und torkelte zu dem Krachmacher. Es war 4.30 Uhr in der Frühe, wenn er sich die Zähne putzte. Er hörte das Krächzen der Kaffeemühle; Mutter bereitete das Frühstück vor. Als er in die Küche kam, knisterte schon im Küchenofen das Feuer.

„Bist du pünktlich heute Abend?“

„Nein, heute Abend besuche ich doch den Kurs Business-Englisch.“

„Heute Englisch, und morgen ..?“, Mutter brach den Satz ab, biss sich auf die Lippen und schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Fast jeden Tag gab es Sticheleien, die ihm signalisierten, dass man zu Hause seinen Einsatz in der Bank nicht schätzte, sondern im Gegenteil, als eine Flucht vor der Arbeit zu Hause interpretierte. Felix kochte innerlich, aber er wollte offene Gefühlsausbrüche vermeiden. Mutter war nachtragend, und so pflegte er ein wütendes Schweigen. Dann, so sein Kalkül, würden die Wunden nicht neu aufgerissen, die nur schwer heilten. Er hatte schon viele Jahre Übung darin, der Mutter nicht zu zeigen, was ihn bewegte. Und er konnte ihre Haltung nicht verstehen. Warum hat sie mich nur nach Frankfurt geschickt, wenn sie mir jetzt den Weg dorthin wieder verbauen will?, grübelte Felix und hastete zum Bahnhof. Sie war es schließlich, die ganz alleine die Entscheidung zur Banklehre getroffen hatte. Das Verhalten der Mutter war voller Widersprüche.

Wie sich wohl sein Vater, der vor Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, in dieser Situation verhalten hätte? Sagte er nicht immer, dass Felix ein außerordentlich begabtes Kind sei? Das väterliche Vorbild, seine Ratschläge, aber auch die Grenzen setzende Instanz fehlten ihm sehr. Wie schön wäre es gewesen, wenn ihn jemand auf dem Weg des Erwachsenwerdens begleitet hätte. Andererseits hatte Felix auch Verständnis dafür, dass der Hof eine sichere Lebensgrundlage war, die man nicht leichtsinnig opfern durfte.

Pünktlich 6.42 Uhr schnaubte die Dampflok heran. Graue Gestalten drängten sich in den Abteilen mit den Holzsitzen; standen auf den Fluren. Schulkinder kicherten. Eine Gruppe hatte sich zu einer Skatrunde auf einem Ranzen zusammengefunden. Die Erwachsenen schüttelten missbilligend, aber schweigend den Kopf. Manche lasen, andere dösten oder stierten gedankenleer aus dem Fenster. Gespräche waren selten. Man kannte sich, aber man grüßte sich kaum. Die Müdigkeit und die Aussicht auf einen anstrengenden Arbeitstag lähmte die Gemüter in diesem Vorortzug, der jeden Werktag in Richtung Frankfurt zuckelte.

Felix holte ein Schriftstück aus seiner braunen Ledertasche, auch so ein gutes Stück das er in Ehren halten sollte, weil schon der Vater damit unterwegs gewesen war. Er studierte seinen Wegweiser durch das zweite Lehrjahr, den er schon am ersten Tag in der Bank bekommen hatte. Für jeden der 15 Lehrlinge war ein detaillierter Fahrplan durch die verschiedenen Abteilungen der Bank erarbeitet worden. Am Ende eines jeden Abteilungsdurchlaufs wurde ein ausführlicher Bericht erwartet.

Was konnte er über die Registratur und den Postausgang, dem er erst seit zwei Wochen zugeteilt war, aussagen? Das Durchschnittsalter der Mitarbeiter in diesem Bereich war sehr hoch.

Möglicherweise war das auch gewollt, denn die Arbeit bestand zu einem großen Teil aus Routinetätigkeiten, die auch die weniger belastbaren Beschäftigten ausführen konnten. Es gab viele weibliche Angestellte in dieser Abteilung, zum großen Teil ältliche Damen mit langer Betriebszugehörigkeit. Sie hatten ihr Leben der Registratur geopfert. Aber auch für die jüngeren Frauen, die weniger blutarm schienen, hatte Felix kein Auge. Er stellte nur fest, dass die auf Ordnung und Disziplin setzenden männlichen Angestellten die jungen Frauen gelegentlich eindringlich musterten. Humorlos und staubtrocken war der Umgangston.

Noch erschien ihm die Bank wie ein Dschungel, urwüchsig und undurchsichtig. Mit schier endlosen, verschlungenen Pfaden, vielen fremden Geräuschen, unbekannten und strengen Hierarchien und Verhaltensweisen und undurchsichtigen Spielregeln.

In der Registratur herrschte Herr Beyer. Sein ganzes Leben hatte er zwischen den Aktendeckeln zugebracht. Irgendwelche Leidenschaften schienen ihm fremd. Er war ein schmächtiger Mann mit langen Armen und schmaler Brust. Besonderes Kennzeichen waren seine vorstehenden Vorderzähne, die eine zu kurze Oberlippe nicht verdecken konnte. „Graue Maus“ war sein Spitzname unter den Lehrlingen. Sein Credo, das er gleich am ersten Tag jedem Neuankömmling einpaukte: Auf Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß und Disziplin kommt es an. „Das haben wir schon immer so gemacht“, war die Standardformel jeder Einweisung.

Felix war diese Haltung nicht fremd, auch auf einem Bauernhof waren diese Eigenschaften unerlässlich. Allerdings schränkten sie die Bewegungsfreiheit der Menschen auch sehr ein. Felix lernte die Bedeutung einer sorgfältigen Registratur zu schätzen, den Ausgang wichtiger Post festzuhalten, die Frankiermaschine zu bedienen. Büromaterial zu bestellen und Botengänge im Haus zu organisieren. Nach wenigen Wochen lichtete sich der Banken-Dschungel und er gewann den Eindruck, dass in der Abteilung Registratur Sorgfalt und Ordnung als Grundprinzipien durchaus sinnvoll waren, ein wenig Kreativität und Initiative aber nicht geschadet hätten.

Von den Lehrlingen des 3. Lehrjahres hatte er wertvolle Tipps für seinen Bericht über die Abteilung Registratur bekommen: So wusste er: Man hat nur Chancen auf eine gute Bewertung, wenn man im Berichtsheft ausschließlich das Wort Briefhülle verwendet. Schon Briefumschlag war ein nicht gut zu machender Fauxpas, von Kuvert ganz zu schweigen. Felix würde sich daran halten, aber eine Bewerbung in der Abteilung Registratur nach seiner Lehre konnte sich der wissbegierige, vorwärtsstrebende Felix nicht vorstellen.

Frankfurt-Hauptbahnhof! Aussteigen und umsteigen in die Straßenbahn. Jeden Tag staunte Felix, wie sich die Stadt veränderte. Der Verkehr schwoll an, Baustellen ohne Ende, aus den Ruinen schälten sich neue Wände. Große Kaufhäuser mit riesigen Glaswänden wurden hochgezogen. Straßen wurden verbreitert und neue gebaut. Heute erhielt die Große Eschenheimer Landstraße eine neue Asphaltdecke. Felix' Straßenbahn stockte, und er beobachtete durch eine Rauchwand die Arbeit der Asphaltkocher. Schwarzbehandschuhte Männer standen auf drei Wagen und rührten mit großen Stangen in großen Kesseln mit einer gärenden Masse. Dann stellten sie Eimer unter die Kocher, öffneten die Ventile. Die schwarze Pampe wurde auf die Straße verteilt und mit Brettern glatt gestrichen. Wie bei einem Bierseidel wurde der überflüssige Asphalt abgestrichen.

„Es gibt noch schlimmere Schufterei als die auf einem Bauernhof“, dachte Felix und stieg in einer beißenden Rauchwolke aus der Straßenbahn. Vor dem Bankgebäude parkte ein grell rotes VW Cabrio. Ein ungewöhnliches Auto, in einer Zeit, in der sich kaum ein Durchschnittsbürger ein Auto leisten konnte. Es zog neugierige Blick an und behinderte den Busverkehr. Aber das schien den Fahrer nicht zu stören. Felix erkannte ihn sofort. Es war Ernst Lux. Etwas schwerfällig, aber mit einem selbstgefälligen Lächeln um den schmalen Mund kroch er aus den schwarzen Lederpolstern.

Lux war wie Felix ein Lehrling im 2. Lehrjahr. Damit waren aber auch schon die Gemeinsamkeiten erschöpft. Der 23-jährige Lux hatte nach zweimaligem Anlauf und trotz massiver Unterstützung privater Lehrer das Abitur nicht geschafft. Unregelmäßige Verben, der richtige Gebrauch des Konjunktivs oder der pythagoreische Lehrsatz blieben ihm ein Brief mit sieben Siegeln. Beim dritten Versuch in einem Internat hatte er dann aufgegeben, „weil mich das anödete“, wie er jeden wissen ließ. Er war einer aus jener Gruppe von Söhnen der Bankmanager und Großindustriellen, die entweder keine Lust oder keine Befähigung zu einem Studium hatten. Bei EL, wie er sich nennen ließ, weil er seine teuren und edlen Güter immer mit seinen Initialen versah, schien beides zuzutreffen. Sein Auftreten korrespondierte mit einer gewissen Arroganz, die wiederum die Folge einer dumpfen Leere im Kopf zu sein schien.

Elf von den 15 Lehrlingen seines Jahrganges kamen aus dieser ersten Reihe des Establishments. Felix war über diese Zusammensetzung mehr als verwundert. Er hatte gehofft, jenen Männern wieder zu begegnen, mit denen er die Eignungsprüfung abgelegt hatte. Stattdessen musste er sich mit EL und seiner Clique messen, die keinerlei Initiative und Interesse an ihrem Beruf zeigten, sogar noch auf diejenigen, die in der Banklehre eine Herausforderung sahen, herabschauten. EL gab ganz offen zu, dass er die Lehre als eine unverbindliche Beschäftigungstherapie begriff. Sein Ehrgeiz war gleich Null. Auf das Bestehen der Abschlussprüfung hatte er es gar nicht abgesehen.

„Das Einzige, was ich wirklich aus dem Effeff können muss, ist eine Bilanz zu lesen“, verkündete er großspurig. Das neue VW Cabrio, sein herablassendes Kopfnicken, als er jetzt vor Felix an den Pförtnern vorbei stolzierte und sein unverschämtes Grinsen, mit dem er eine junge Sekretärin taxierte – all dies markierte eine Sorte Herrenmenschen, die Felix anwiderte.

Felix Arbeitstag in der Registratur war heute kurz. Es war Dienstag, und an jedem ersten Dienstag im Monat lud Dr. Vogt, der Leiter des Bildungswesens und der Verantwortliche für die Fortbildungsseminare, die Lehrlinge aller Jahrgänge nach der Mittagspause zu einem Treffen ein. Die Zusammenkünfte waren Teil eines Bildungskonzeptes, das neben einer gründlichen Fachausbildung Wert auf eine breite Allgemeinbildung legte. Unvergessen blieb Felix der erste Vortrag vor vier Wochen über den „Goldenen Schnitt“. Ihn faszinierte das Prinzip, das als ästhetische Maxime in der Kunst angestrebt wurde und dem Betrachter neue Perspektiven eröffnete, das aber auch als stetige Teilung in einem Proportionsverhältnis zu verstehen war und auf jeden Organismus, auch auf einen so künstlichen, wie es die Bank darstellte, angewandt werden konnte.

Heute referierte der Ausbildungsleiter Dr. Vogt persönlich über komplizierte weltwirtschaftliche Zusammenhänge. Es ging um das Bretton-Wood-System und seine Auswirkungen auf den Devisenhandel, um die finanzpolitische Bewertung der Kapitalverkehrskontrollen. Schließlich stellte Dr. Vogt das GATT – das gemeinsame Handelsregime westlicher Industriestaaten – dar, das sich um eine Absenkung der Zölle bemüht.

Während sich Dr. Vogt in der Kunst übte, eine trockene Materie einsichtig und lebendig darzustellen, quasselte EL ununterbrochen mit seinem Nachbarn. Selbst Felix, der am anderen Endes des großen Raumes saß, konnte mithören, welche ungeahnten Qualitäten das neue VW-Cabrio des EL besaß und, dass es ein Geschenk seiner Großmutter war.

„Meine Herren“, sagte Dr. Vogt nach einer Weile mit leicht erhobener Stimme und blickte EL mit seinen stechenden blauen Augen lange an. „Meine Herren, ich bin die ununterbrochene Störung des Herrn Lux leid. Herr Lux, von Ihnen hören wir in vier Wochen einen Vortrag über die deutsche Sozialversicherung. Verstanden?“

War EL beeindruckt? Er verzog jedenfalls keine Miene. Aber immerhin schwieg er bis zum Ende des Vortrages.

Nach dem Referat hatte Felix noch seinen Termin bei Dr. Vogt. Er selbst hatte darum gebeten. Vogts Sekretärin hatte offenbar schon Feierabend, denn Vogt nahm ein Telefonat entgegen, als Felix hereinkam. Vogt war ein Mann, der ihm Respekt abnötigte. Er wirkte kompetent, sachbetont, aber nicht kalt und emotionslos. Er war ein Mann mit liberalen Ansichten, der gut zuhören kann und bedenkenswerte Argumente aufnahm. Obwohl er erst auf Anfang 40 geschätzt wurde, hatte er schneeweißes, dichtes Haar, das seinem Aussehen einen intellektuellen Anstrich verlieh. In der Tat verfügte er über ein breites Allgemeinwissen und ein feines Gespür für seine Arbeit, die Menschenkenntnis und psychologische Fähigkeiten voraussetzte.

„Nehmen Sie Platz, Herr Admont, Was kann ich für Sie tun?“

„Ich will wissen, ob es in Ihrem Fortbildungsseminar 'Bilanzen erstellen und lesen' noch einen Platz für mich gibt.“

„Ist Ihnen bekannt, dass dies ein Abendseminar ist, es beginnt erst um 20.00 Uhr.“ „Ja, ich weiß. Ich bekomme dann noch einen Abendzug.“

„Gut, ich unterstütze natürlich Ihre Initiative. Wie gefällt es Ihnen in der Registratur? Ich will eine ehrliche Meinung.“

„Es ist nicht das, was ich mir unter meiner beruflichen Laufbahn vorstelle. Aber es ist eine gute Erfahrung.“

,Was stellen Sie sich denn beruflich vor?“

„Ich möchte weiterkommen. Die Registratur ist wichtig, aber sie wirkt auch wie eine Endstation. Für mich ist das keine Herausforderung, wenn ich das so sagen darf. Ich möchte meine Wissenslücken auffüllen, Fremdsprachen lernen und eben auch die Bilanzen lesen und beurteilen können.“

„Ihre nächste Ausbildungsstation ist ja auch die Buchhaltung und dann die Abteilung Großkredite, wenn ich mich recht erinnere. Da kann so ein Abendkurs zur Vorbereitung schon sehr nützlich sein.“

Als Felix im Zug saß um nach Hause zu fahren, grübelte er über der Frage: Wie sag ich's meiner Mutter? Der Abendkurs wurde an zwei Tagen angeboten, er würde zweimal in der Woche erst mit dem Spätzug nach Hause kommen. Diesmal würde es offenen Streit mit Mutter geben, vermutete er.

Großvater so schien es ihm, war müder geworden. Lange hatte er nicht mehr gemosert, weil Felix jetzt nach Frankfurt fuhr. Felix wusste das nicht genau zu deuten. Wie Mehltau legte sich Schwermut auf seine kleine Familie. Großvater schien zu resignieren. Sein Gesicht war verwittert und runzelig wie eine alte Baumrinde geworden, die Nase wurde ganz spitz. Die Schultern krümmten sich, an breiten Arbeitshänden traten die Adern hervor, und die Haut wurde fleckig. Mürrisch und wortkarg ging er im Geschirr. Einmal klagte er über Herzbeschwerden und Einschlafstörungen. Seitdem brühte Mutter täglich einen Weißdorntee, den er zum Frühstück schlürfte und abends stand ein Glas Wermuttee neben seinem Teller. Es kam jetzt vor, dass Großvater nicht mehr der Erste am Morgen war. Die Last auf Mutters Schultern wurde noch drückender, das erkannte auch Felix. Aber sie litt nicht stumm wie Großvater, sie wurde aggressiv.

„Du hast dich also entschieden“, knurrte sie Felix an, als sie von dem Abendkurs erfuhr. Felix hatte sich den Donnerstag für die Aussprache ausgewählt. Donnerstag war Schultag. Er kam immer pünktlich nach Hause und widmete sich dann intensiv der Arbeit auf dem Hof.

„Ja, es ist wichtig für mich. Wenn ich verstehen will, was in der Buchhaltung und in der Abteilung Großkredite vor sich geht, dann brauche ich diesen Kurs. Dr. Vogt unterstützt das.“

„Und wer unterstützt mich? Niemand. Ich kann alleine sehen, wie wir hier fertig werden. Das interessiert dich nicht. Das ist dir völlig gleichgültig. Was hier passiert, das geht den Herrn nichts an!“

„Mutter, reg dich nicht auf. Ich tu doch alles, was ich kann. Und wenn ich hier bin, helfe ich euch doch.“

„Auf deine Hilfe können wir bald verzichten. Jetzt bist du auch noch regelmäßig abends weg. Wann soll denn die Arbeit gemacht werden, und von wem?!“

„Damit du es weißt: Ich habe mich für die Bank entschieden. Ich will vorwärtskommen. So sieht es aus!“ Felix stürmte aus der Küche. Sein Herz pochte. Er war verwundert über das, was ihm eben so leicht über die Lippen gegangen war. Hatte er sich wirklich entschieden? War das seine Wahrheit, die er der Mutter entgegengeschleudert hatte? Oder war es ein impulsiver Reflex. Wohin sollte er gehen? Wenn er sich für die Bank entschied, dann wollte er nicht hinter einem Schalter oder in der Aktenablage stehen. Er wollte mehr wissen; planen, gestalten, organisieren, das interessierte ihn.

Stundenlang stand Felix an seinem Stubenfenster. Von dort aus hatte er einen Blick in die Welt getan, er hatte seine brennende Neugier und eine Ungeduld auf das Leben gefühlt. Ja, er hatte sich unwiderruflich entschieden. Er wollte nicht mehr zurück. Er wollte vorwärts gehen. Es war ihm nur noch nicht bewusst gewesen. Im Streit mit der Mutter kristallisierte sich aber sein Weg heraus. Die häusliche Atmosphäre vereiste. Morgens stand ein Milchkaffee für Felix auf dem Tisch, die Mutter ließ sich jedoch nicht blicken und der Großvater schwieg ihn an.

„Meine Herren, heute hören wir den Vortrag von Herrn Lux zum Thema Sozialversicherung“, verkündete Dr. Vogt bei der nächsten Zusammenkunft der Lehrlinge vier Wochen später. EL, der an diesem Tag lässig in der ersten Reihe lümmelte, stand im Zeitlupentempo auf, steckte demonstrativ beide Hände in die Hosentaschen und verkündete mit Schmalz in der Stimme: „Fehlanzeige, Herr Doktor. Es tut mir ganz schrecklich leid. Ich habe den Vortrag von einem Experten meines Unternehmens angefordert. Er ist noch nicht eingetroffen. Manchmal ist eben kein Verlass auf das Personal. Sie verstehen? Was die Sozialversicherung angeht, müssen wir uns also noch ein klein wenig gedulden. Aber Sie sind ja wendig genug und haben sicher einen Ersatz vorbereitet.“

Grabesstille herrschte im Raum. Dr. Vogt erstarrte zur Salzsäule. Seine Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot. Dann bildeten sich merkwürdige Flecken auf den Backenknochen. Die rechte Hand ballte er zur Faust. Mit der linken Hand nahm er die Brille ab. Er starrte EL an. Dann drehte er sich abrupt auf dem Absatz um und machte einen Schritt zum Fenster. Er zog die Schultern hoch und atmete durch. Sekunden dehnten sich zu Minuten. EL hatte den Kopf hochgereckt, seine Nasenflügel zitterten leicht, die Hände verweilten in den Hosentaschen.

„Bitte haben Sie die Güte, mir mitzuteilen, wann Ihr Vortrag eintrifft“, sagte Vogt zu EL beim Umdrehen in einem unvermutet verbindlichen Ton und wandte sich dann sofort an Felix: „Herr Admont. referieren Sie noch mal die Ausführungen meines letzten Vortrags über das GATT. Welche Auswirkungen hat die Absenkung der Zölle auf den internationalen Handel?“

Felix konnte den Ball zurückspielen. Er hatte den Vortrag noch in genauer Erinnerung. Souverän wiederholte er Vogts Gedanken. Aber die Atmosphäre blieb knisternd, auch wenn EL nichts mehr zur Anreicherung beitrug. Jeder wusste, der Affront hatte Vogt geschwächt.

Dr. Vogt bewahrte Haltung, aber ein Zähneknirschen war hörbar. Er hatte sich einem Schnösel gebeugt, weil ihm sein Verstand signalisierte, dass hinter EL ein Großkunde der Bank stand. Brüskierte er EL, dann riskierte er sogar den Sitz seiner Bank im Beirat von Lux´ Chemieunternehmens.

Die Basis vieler Beziehungen war nun einmal die ökonomische Macht. Privilegien, Titel und Funktionen waren allzu oft nicht ein Ergebnis von Leistung und besonderen Fähigkeiten. Vieles funktionierte ungenügend, weil die Chancen nicht gerecht verteilt waren. EL trug seine Nase so hoch, weil Einfluss und Reichtum seiner Familie seine Position in der Gesellschaft heraushoben. Dr. Vogt missbilligte das. Aber er konnte es nicht ändern. Er musste sich sogar damit abfinden. Seine Gegenstrategie bestand darin, jungen, intelligenten und leistungswilligen Nachwuchs wie diesen Felix Admont zu fördern. Eine Woche später bat Felix wieder um einen Termin.

„Wie kommen Sie mit dem Abendlehrgang zurecht?“

„Sehr gut, aber ich denke, das kann nur der Anfang sein. Am Ende steht ein Diplom als Bilanzbuchhalter. Ich habe aber ein anderes Anliegen. Und ich möchte Ihnen etwas in einer heiklen Sache anvertrauen.'

„Nur zu. Heikle Sachen sind meine Spezialität.“

„Es geht um Herrn Frisch. Sie wissen ja, ich bin jetzt bei ihm in der Abteilung Großkredite. Heute war mein erster Tag. Herr Frisch hatte eine Dauerbesprechung. Und da mich niemand einweisen konnte, hatte ich keine Lust, meine Zeit einfach abzusitzen. Ich griff mir wahllos einen Ordner, um ihn durchzublättern. Es waren Unterlagen einer Firmensanierung. Gutachten, Wirtschaftsprüfungsberichte und Vorschläge für ein strategisches Vorgehen.“ „Na und, was ist daran bemerkenswert?“

„Es geht nicht um den Vorgang an sich, auffallend war, dass sich der gesamte Ordner in einem desolaten Zustand befand. Viele Schriftstücke gehörten nicht dorthin. Ich habe versucht, das in Ordnung zu bringen. Aber das war offensichtlich nicht im Sinne von Herrn Frisch. Als er nach Stunden aus seiner Dauerbesprechung zurückkam, gab es einen hässlichen Auftritt.“

„Oho, wie das? Er hätte doch eigentlich dankbar sein können, dass Sie Ordnung geschaffen haben.“

„Dachte ich auch, aber er brüllte herum und wetterte, dass ich streng vertrauliche Unterlagen durchgesehen hätte. Ich habe ihn dann über den Zustand der Akte aufgeklärt. Dann wurde er zugänglicher. Er sei total überlastet, das war seine Erklärung. Das stimmt sicher. Es türmen sich nämlich die Aktenberge auf seinem Schreibtisch. Ständig klingelt das Telefon. Ich vermute aber noch etwas anderes.“

„Nur zu, was meinen Sie?“

„Herr Frisch hat ein Alkoholproblem. Man spürt es an seinem Verhalten. Seine Hände zitterten, als er mit mir sprach. Seine Reaktion war nicht der Situation entsprechend. Ich konnte mir nun auch die leeren Cognacflaschen, die hinter den Ordnern im Regal lagerten, erklären. Es tut mir leid, das sagen zu müssen. Aber das Chaos in den Ordnern, sein aufbrausendes Benehmen, die wilden Gesten, das alles setzt sich für mich zu einem Bild zusammen. Ich glaube, hier ist massiver Alkoholmissbrauch im Spiel. Ich denke, ich muss Ihnen das sagen.“

„Da haben Sie ganz richtig gehandelt. Ich bin sehr froh, dass Sie sich an mich gewandt haben. Sie wissen ja, Alkoholprobleme basieren nicht unbedingt auf Charakterschwäche. Man hat herausgefunden, dass Alkoholismus eine Krankheit ist, eine Stoffwechselkrankheit. Ich verrate ihnen sicher kein Geheimnis, dass in unserem Haus sehr viel getrunken wird. Zu allen möglichen Anlässen. Aber nicht jeder, der Sekt oder einen Cognac trinkt, wird Alkoholiker. Herr Frisch ist wirklich ein fähiger Mann. Er ist schon lange bei uns und hat eine sehr positive Personalprognose. Bisher hatte niemand etwas von einem Alkoholproblem bemerkt. Vielleicht ist er wirklich überlastet, und er hat zur Flasche gegriffen, weil er den Druck nicht mehr aushielt. Wie dem auch sei. Ich danke ihnen sehr für die Informationen. Selbstverständlich bleiben die unter uns. Diskretion ist hier besonders wichtig. Aber wir müssen etwas unternehmen. Das nützt Herrn Frisch, und das nützt natürlich auch uns, denn auf die Dauer nimmt auch das Geschäft Schaden.“

Wie Felix wenig später erfuhr, war der Vorgesetzte von Frisch in der Tat ahnungslos, was das Alkoholproblem seines Sachbearbeiters betraf, denn Alkoholiker können ihr Laster lange Zeit geheim halten und kaschieren. Herr Frisch brauchte einen gewissen Druck, um sich seine Abhängigkeit einzugestehen. Schließlich willigte er in eine Kur ein. Felix hatte in dieser Zeit genug zu tun, die ganzen Vorgänge zu sortieren und neue Register anzulegen.

Als Frisch von der Kur zurückkam, wurde ihm ein junger Assistent zur Seite gestellt. Frisch war dankbar, dass man sein Problem erkannte, ihn nicht bloßstellte, sondern helfen wollte. Felix war beeindruckt, mit welcher Sensibilität und menschlichen Reife der Vorgang behandelt wurde. Als Felix die Abteilung verließ und sich von Frisch verabschiedete, merkte er an der Intensität seines Händedrucks, dass Frisch alles verstanden hatte.

Es war die erste große Hürde, die der Banklehrling Felix Admont bewältigte. Er lernte dabei nicht nur, dass es sinnvoll ist, Konflikte offensiv anzugehen, sondern auch, dass sie human gelöst werden konnten. So war die Großkreditabteilung, vor der er von den Auszubildenden anderer Jahrgänge gewarnt worden war, eine Chance für ihn, sich in mehrfacher Hinsicht zu profilieren. Auch in einem anderen Bereich, der ihm als problematisch genannt wurde, sollte er sich bewähren, in der Hollerith-Abteilung. Du wirst dich langweilen, warnten die Lehrlinge. Eine absolut öde Materie! Staubtrocken und fade sei die Arbeit in der Hollerith-Abteilung. Nach den Erlebnissen in der Registratur war Felix auf eine Wiederholung dieser Erfahrungen eingestellt. Aber er hatte schon gelernt, Vorurteile zu überprüfen, nichts als gegeben hinzunehmen. Meinungen über Menschen oder Abteilungen wurden schließlich auch von Leuten wie EL geprägt, die nicht durch die Kraft ihrer Argumente überzeugten. Schließlich wandelte sich auch die Gesellschaft rasant, neue Herangehensweisen, neue Maßstäbe wurden gebraucht.

Felix war offen, sogar neugierig auf die Hollerith-Abteilung, seit er wusste welche Leistungen die Zählmaschine des in Österreich geborenen Amerikaners, des Bergwerkingenieurs Dr. Hermann Hollerith, schon 1890 vollbrachte. Ursprünglich war die Maschine für die Volkszählungsbehörde gebaut. Die Volkszählung in den USA konnte in diesem Jahr mit 40 Hollerith-Maschinen und 40 Mitarbeitern in vier Wochen bewältigt werden. 10 Jahre zuvor hatten noch 500 Menschen sieben Jahre zu zählen und auszuwerten. Ihr Prinzip bestand darin, bestimmte einfache Informationen in Lochform auf Pappkarten zu stanzen. Liefen diese Karten durch eine Reihe von kleinen elektrisch geladenen Metallbürsten, so wurde zwischen Loch und Bürste ein Stromkreis ausgelöst, der eine Rechenmaschine und einen Schreibautomaten in Bewegung setzte. Später hat man dann die Hollerith-Entwicklung durch das Militär gefördert. Die Lochkartensprache wurde bereichert und verfeinert, man lernte, verschiedene Tatbestände auszudrücken und zu kombinieren.

Schon nach dem ersten Tag war Felix von der Lochkartenmaschine überzeugt. Und fasziniert. Ein Wunder der Technik! Dieser Rechner konnte zwar nur zwischen Ja und Nein unterscheiden, aber was konnte man damit alles erfahren! In atemberaubender Geschwindigkeit wurden Millionen von brauchbaren Daten gespeichert und sortiert.

Es gab aber auch eine andere Seite der Medaille, das war die Tatsache, dass der Lochkartenausstoß nicht befriedigend war, wie der Abteilungsleiter, Herr Bauer, offen zugab. Die Leistungen der knapp hundert Beschäftigten entsprachen nicht den Erwartungen. Es war fast ausschließlich Frauenarbeit. Nur der Abteilungsleiter und die Aufsichtspersonen waren männlich. Schon nach kurzer Beobachtung wurde Felix deutlich, dass die Tätigkeit eintönig und einseitig war. Immer dieselben Handgriffe und keine geistige Anregung, das war ermüdend.

„Der Krankenstand ist viel zu hoch, obwohl wir doch ganz überwiegend sehr junge, belastbare Frauen eingestellt haben. Viele klagen über Nacken- und Rückenschmerzen“, erklärte Herr Bauer. Andererseits gebe es kaum Proteste der Beschäftigten gegen diese ungünstigen Faktoren.

„Wenn ich sie nach Krankheitsgründen befrage, weichen sie aus.“

Eine Woche betrieb Felix Feldforschung. Er beschäftigte sich in der Abteilung, unterhielt sich mit den Frauen und beobachtete die Arbeitsabläufe. Die Zeit zwischen den Pausen war offensichtlich zu lang. Viele Frauen suchten sie durch kleine Erholungsphasen abzukürzen, sie rauchten Zigaretten oder gingen für längere Zeit zur Toilette. Untereinander klagten sie offensiv über Verspannungen im Rücken, trockene Luft im Saal und fehlende Erholungsmöglichkeiten in den offiziellen Pausen. Es gab auch Spannungen zwischen den Kolleginnen, die offenbar von einer unzureichenden Personalführung herrührten. Das Arbeitsklima war gereizt und rau. Felix erkannte, dass auch Zank und Streit eine Möglichkeit war, Stress abzubauen, obwohl das für die Arbeitsleistung kontraproduktiv war.

Wenn die Aufsicht den Raum verließ, nutzten viele Frauen die Gelegenheit zu einem Schwatz. Die Probleme schienen vielschichtig und kompliziert, das spornte Felix an. Zuerst musste die Frage geklärt werden: was war eigentlich das wirkliche Problem und was waren die Symptome? Eine Diagnose allein aufgrund von Symptomen erschien nicht sinnvoll. Möglicherweise ist dies der passende Ansatz für einen Mediziner. Ein Manager muss zunächst davon ausgehen, dass Symptome lügen, da er weiß, dass Probleme der unterschiedlichsten Art zu den gleichen Symptomen führen können und, dass andererseits ein und dasselbe Problem in einer unendlichen Fülle von Erscheinungen auftreten kann.

„Man muss das Problem analysieren und nicht diagnostizieren“, hatte Dr. Vogt in einem seiner Dienstagsvorträge über die Frage „Was macht einen Manager aus“, erklärt. Die Analyse eines lokalen Problems müsse immer in Beziehung stehen zu den Zielen des gesamten Unternehmens.

Felix begann mit einer Datensammlung. Nur eine möglichst umfassende Information konnte die Basis der Analyse sein. Er sammelte systematisch: Die biografischen Daten der Mitarbeiterinnen, die jährlich aufgeschlüsselten Krankenstände in der Bank und speziell in der Hollerith-Abteilung; er nahm die Anordnung der Arbeitsplätze und die Sitze in Augenschein, er maß die Luftfeuchtigkeit.

Schnell wurde ihm klar, die Informationssammlung selbst erfordert schon eine geschickte und phantasievolle Herangehensweise, mit der Hintergründe aufgedeckt und die Problemstellung überprüft werden konnte. Ein weiteres Problem war die Glaubwürdigkeit der Daten selbst. Offenbar verweigerten viele Frauen aus verschiedenen Gründen eine ehrliche Antwort. Wie konnte er an verlässlichere Daten gelangen?

Felix führte die anonyme Befragung ein. Nur so konnte er seine Informationen absichern. Ein kühnes Vorhaben für einen Lehrling, das er mit seinem Ausbildungsleiter besprach. Dr. Vogt, der jeden Schritt mit Wohlwollen verfolgte, unterstützte seine Pläne. Gemeinsam erarbeiteten sie einen Fragebogen. Auch Herr Bauer, der Abteilungsleiter, zeigte sieh kooperativ. Vielleicht war das, was der forsche Lehrling da inszenierte, sogar zu gebrauchen.

Die Mitarbeiterinnen wurden in einer Versammlung ausführlich informiert, strikte Anonymität zugesichert. Die Ergebnisse überraschten: Als großer Missstand wurde die schlechte Bezahlung empfunden, die nicht im Einklang mit den Anforderungen zu stehen schien. Mehr Selbständigkeit bei den Pausenregelungen, die Möglichkeit von individuellen Kurzpausen war ein zweiter wichtiger Komplex. Die Gestaltung der Pausenräume, der Arbeitsplätze und der Umgebung wurde als weniger relevant eingeschätzt, obwohl zwei Drittel der Frauen chronische Erkältungen und Rückenschmerzen notierten. In der Gesamtbewertung notierten aber auch die Frauen, die massive Kritik übten, überwiegend eine hohe Arbeitszufriedenheit. Dies korrelierte jedoch mit einer Frage zur Arbeitslosigkeit. Die Angst, seine Arbeit zu verlieren war allem Anschein nach der Motor für die Zufriedenheit an diesem Arbeitsplatz.

Oft saß Felix noch bis tief in die Nacht an den Daten. Vieles widersprach sich, es kam darauf an, richtig zu gewichten. Er studierte wieder und wieder die Geschäftsberichte und die Zielvorgaben der Bank, die ja die Rahmenbedingungen für die Lösung der Probleme absteckten. Mittelfristig wurde ein jährliches Wachstum von 7% unterstellt. Übertragen auf die Hollerith-Abteilung bedeutete dies eine erhebliche Erweiterung, sowohl räumlich als auch personell. Wie könnte die Lösung aussehen?

Dr. Vogt wusste oft Rat. „Ist es denn überhaupt richtig, nur nach einer Lösung zu suchen? Nach einem Patentrezept?“

„Ich glaube auch, dass man zunächst nach Alternativlösungen suchen muss. Ich muss mehrere Lösungen gegeneinander abwägen können.“

„Das glaube ich auch. Das Entweder-Oder-Denken lässt ja nur zwei Möglichkeiten zu. Zunächst würde ich alles abklopfen und die Alternativen erarbeiten und darstellen. Welche sehen Sie denn?“

„Ich denke, dass man die Frauen mehr in die Pflicht nehmen muss. Mit Kontrolle und Druck alleine ist es nicht getan. Man muss die Mitarbeiterinnen über Verantwortung einbinden. Wir könnten sie gruppenweise zusammenfassen und eine Frau verantwortlich machen, die auch entsprechend mehr bezahlt bekommt. Regelmäßige Schulungen und Gespräche mit diesen Frauen, nennen wir sie Vorarbeiterinnen, wären ein weiterer Schritt. Auch an der Arbeitsplatzsituation muss gefeilt werden. Viele Klagen sind berechtigt. Es ist unendlich viel zu tun, wenn sich die Abteilung zum Positiven verändern soll. Und das wird enorm aufwändig. Und hinzu kommt ja die vorhersehbare Ausweitung des ganzen Bereiches.“

„Gut, das ist schon ein Bündel von Alternativen. Arbeiten Sie daran, und vergessen Sie nicht, dass zum Finden der besten Alternative auch der Zeitrahmen und die Sparsamkeit des Aufwandes gehört.“

Und Felix brütete, rechnete, diskutierte verschiedene Alternativen. Schließlich kristallisierte er seinen Vorschlag unter diversen Alternativen heraus: Es war ein eindimensionaler, aber schlüssiger Vorschlag: Unter Berücksichtigung der Ziele und des Kostenrahmens ist es sinnvoll, das Ablochen der Belege an Fremdfirmen zu vergeben, die Abteilung zu schließen. Das Personal kann entweder zu der Fremdfirma wechseln oder umgeschult und in anderen Abteilungen untergebracht werden.

Nachdem er seinen Bericht abgeliefert hatte, wartete er ungewöhnlich lange auf die Rückgabe. Dr. Vogt hüllte sich in Schweigen. Herr Bauer, der Abteilungsleiter, reagierte merkwürdig abweisend, wenn er Felix traf. Beunruhigende Rauchzeichen. Felix konnte sich allerdings keinen deutlichen Reim darauf machen. Was ging vor? Dann wurde er eines Tages zu Dr. Vogt gerufen.

„Herr Sell möchte Sie sprechen. Gehen Sie bitte gleich zu ihm.“

Herr Sell war das für den Bereich Organisation zuständige Vorstandsmitglied. Ein Stratege, entscheidungsfreudig und durchsetzungsfähig, mit analytischer Begabung. Dr. Vogt, der mit seiner intellektuellen Ader eher bedächtig und gründlich agierte, hatte Felix angedeutet, dass er Hochachtung und Respekt vor diesem tatkräftigen Boss hatte. Er hatte schon vielfach die Weichen im Unternehmen erfolgreich gestellt.

Zaghaft klopfte Felix an. Das „Herein“ kam von Fräulein Sindermann, der Sekretärin von Direktor Sell. Fräulein Sindermann im schwarzen Kleid mit Faltenrock und mit weißem Stehkrägelchen, Herrin über zwei Telefonapparate, lachte in die Muschel und schrieb etwas auf einen Stenoblock. Mit dem Kopf bedeutete sie Felix, sich auf einen der zierlichen schwarzen Besuchersessel mit den simplen Metallfüßen zu platzieren.

Je bedeutender der Mann, desto größer das Vorzimmer, dachte Felix, während er im tiefschwarzen, weichen Teppich einsank und sich auf die Sesselvorderkante an einen elegant geschwungenen Nierentisch setzte. Eine gediegene, vornehme Atmosphäre, die Neumodisches mit Altbewährtem verband. Er schätzte, dass das Vorzimmer doppelt so groß war wie Dr. Vogts Büro und dreimal so groß wie das von Abteilungsleiter Bauer aus der Hollerith-Abteilung. An den Wänden standen Bücherregale mit verschieden farbigen Aktenordnern. Eine silberne Gießkanne zierte den Blumenständer. Links neben einem hohen Doppelfenster saß eine jüngere Frau und tippte auf einer Schreibmaschine. Ein Bote klopfte an, transportierte auf einem fahrbaren Untersatz Aktenstapel zu dem Schreibmaschinen-Fräulein am Fenster, die Felix bald als Frau Binder kennen lernen sollte. Fräulein Sindermann, nun ganz gemessen und ernst, legte den Hörer auf. Das schwarze Telefon meldete sich. „Ein Gespräch für Herrn Direktor. Herr Admont ist da“, sagte Fräulein Sindermann noch, nachdem sie den Namen des Anrufers durchgegeben hatte. „Es kann nur noch Stunden dauern“, tröstete sie Felix. ,.Wenn er das Gespräch beendet hat, sind Sie dran“. Felix lächelte beklommen und schielte auf die Titelseite der FAZ, die vor ihm auf dem Tisch lag. Adenauer hatte irgendeinen Streit mit dem Koalitionspartner FDP, Thomas Dehler, der hitzköpfige FDP-Vorsitzende, hatte ihn brüskiert. Adenauer forderte jetzt seinen Kopf. Felix hat nie erfahren, wie Dehler darauf reagierte, denn nun musste er zu Sell.

„Guten Morgen, Herr Direktor Sell.“

„Lassen Sie gefälligst den Direktor weg! Einen Direktor gibt es in jedem Flohzirkus. Und damit wollen wir uns doch nicht vergleichen. Sie sind also Herr Admont. Ich freue mich wirklich, Sie kennen zu lernen. Habe schon sehr viel von Ihnen gehört. Vor allem Brauchbares, nur keine Angst.“

„Bezieht sich das auch auf meinen Bericht über die Hollerith Abteilung?“

„Ja, da haben wir nicht schlecht gestaunt. Dr. Vogt hat ihn mir zur Kenntnisnahme zugeleitet. Wie sind Sie denn auf den kühnen Gedanken gekommen, dass die Arbeit ausgelagert werden sollte?“

„Ich habe ja ausgeführt, wie kompliziert die Problemlage und auch schließlich der Lösungsvorschlag war. Ich habe es mir nicht leicht gemacht.“

„Das merkt man. Ihre Ansätze und Gedanken sind originell. Und schlüssig. Allerdings muss ich natürlich die Sache noch einmal prüfen und durchrechnen, ob sie wirklich durchführbar ist. Schließlich hatten Sie ja auch nicht Zugang zu allen Geschäftsunterlagen und Prognosen.“

„Das wäre eine lohnende Aufgabe. Ich konnte natürlich nur die Informationen einbeziehen, die mir auch zugänglich waren.“

„Sagen Sie, Sie sind jetzt im 2. Lehrjahr. Wissen Sie schon, wie Sie sich nach der Ausbildung orientieren wollen? Sie sind doch im Hause schon ein bisschen rumgekommen?“

„Ich weiß noch nicht so ganz genau, was ich machen werde. Aber strategische Aufgaben, Planung, Organisation, das macht mir Spaß. Ich kann das natürlich nur begrenzt beurteilen, denn die Aufgaben waren ja noch nicht so umfangreich.“

„Sicher, Sie müssen noch viel lernen. Aller Anfang ist schwer. Und Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Aber ich könnte vielleicht irgendwann einen tüchtigen Mitarbeiter gebrauchen. Organisationsentwicklung, wie wir sie betreiben, das setzt ja strategisches Denken voraus. Hätten Sie Interesse an der Materie?“

„Ja, sicher. Natürlich. Das wäre eine große Chance. Das würde mich interessieren.“

„Das freut mich. Ich denke, da sollten wir zwei jetzt auch strategisch vorgehen. Neben dem Talent braucht man zur Organisationsentwicklung Basiswissen. Fremdsprachen, Bilanzsicherheit, das waren die ersten Bausteine. Darauf bauen wir dann auf. Organisationsstruktur, Unternehmensführung und volkswirtschaftliche Aspekte, das wären die nächsten Felder, wenn Sie die wirklich beackern wollen. Mein Leitspruch ist: handeln, nicht predigen. Wenn ein guter Geist in einer Organisation herrscht, so bedeutet das, dass die Kraft, die man aus ihr herausholt, größer ist als die Summe der hineingesteckten Anstrengungen und Aufwendungen. Das geschieht natürlich nicht auf mechanischem Weg, obwohl eine Struktur notwendig ist, ein gewisses Verfahren, um Kraft zu transportieren. Es geschieht über die Menschen, ihre geistige Kraft, ihren Willen zur Leistung. Und dem geht eine richtige Bewertung voraus. Bewertung muss sich auf Leistung gründen. Und da haben Sie ja schon was vorgelegt, Herr Admont. Also strengen Sie sich an. Machen Sie sich auf den Weg!“

Felix schwirrte der Kopf. Erst mal sortieren. Erst mal Ruhe. Das könnte die Chance sein, ein Weg in eine höhere Laufbahn, bei der er gestalten könnte. Und eine interessante Aufgabe. Sell verlangte sicher viel, aber er setzte auch Maßstäbe, an denen er wachsen konnte. Er wollte gefordert werden. Und nun hatte einer erkannt, dass man ihn fördern müsse.

An diesem Sommertag rannte Felix abends nicht zur Straßenbahn, um in aller Eile auf den Anschlusszug am Hauptbahnhof aufzuspringen. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, zum Verdauen. Ein Sommer mit blauem Himmel lag heiß über Frankfurt. Menschen hetzten durch die Straßen, Feierabendstimmung. In den Geschäften Menschenschlangen, nicht, weil es zu wenig zu kaufen gab, sondern weil die Leute endlich wieder alles kaufen konnten. Und was da alles über den Ladentisch ging: Bananen und Buttercremetorten, Ananas und Apfelsinen, Eisbein und Eierlikör. Kurz vor Geschäftsschluss hasteten die Menschen durch die Straße. Frauen mit luftigen Kleidern schwebten vorbei. Manche heftete ihren Blick auf Felix, der sie mit seinen 190 Zentimeter weit überragte. Schöne Frauen, junge Frauen. Eine sinnliche Atmosphäre schien die Stadt aufgeladen zu haben. Felix setzte sich in ein Cafe an die Zeil, leistete sich den Luxus eines Fruchteisbechers mit frischen Erdbeeren und atmete tief durch.

Durch Frankfurts Straßen flanierten die seltsamsten Geschöpfe: Schlank ja grazil mit dunklen Wuschelköpfen und ärmellosen Kleidern. Reizende Blondinen mit aufregendem Augenaufschlag, Rothaarige mit engen Röcken. Wieso war ihm das noch nie aufgefallen? Eine Sinnestäuschung, weil er in Hochstimmung war? Ja und nein – erkannte er, langsam nüchtern werdend. Frauen standen nicht auf seinem Programm. Noch nicht. Die Frauen in der Bank erschienen ihm geschlechtslos, die Mädchen im Dorf hatten keinen Reiz. Sicher, er hatte eine Wirkung auf die dummen Gänse. Warum kicherten die immer, wenn er vorbei kam? Aber sie hatten nur Stroh im Kopf. Nichts war reizvoller als seine Zukunft in der Bank! Trotzdem tat es gut zu wissen, dass die Chancen bei den Frauen nicht schlecht waren. Und ein kleiner Flirt war sicher nicht zu verachten.

Wie peinlich. Schon kleckerte Erdbeer-Eissoße über sein weißes Hemd.

„Oh, Entschuldigung, das wollte ich nicht. Das tut mir schrecklich leid. Ist der Platz noch frei?“ Sie war blond, sie war grazil mit großen grünen Augen und Sommersprossen auf der Stupsnase. Soll ich Ihr Hemd in die Wäscherei bringen?“, fragt sie gespielt harmlos.

„Nein, das kann ich schon selbst besorgen. Aber mit diesem Hemd kann ich Sie nicht ins Kino begleiten!“

„Oh wie schade, wo wir doch verabredet waren. Dann holen wir das nach. Haben Sie Sonntag Zeit? Und es muss ja nicht immer Kino sein. Wie wäre es mit Theater? Ich habe noch Freikarten zu Molières Eingebildetem Kranken.“

„Da sag ich doch nicht nein. Ernsthaft? Zur Premiere? Das ist ein Angebot!“ „Ich mache immer ernsthafte Angebote. Hier eine Freikarte! Ich spiele eine winzige, aber tragende Rolle. Und vergessen Sie nicht, ein sauberes Hemd anzuziehen.“

Nicht zu fassen! Das muss die sinnliche Stimmung sein, dachte Felix und drehte die Karte in der Hand. Sie schwebte davon, ohne sich umzudrehen. War auch der Erdbeerfleck inszeniert? Frauen waren ein Rätsel. Was für ein Tag! Felix war noch ganz benommen von den seltsamen Wendungen an diesem Sommertag.

Bald kehrten seine Gedanken zur Bank zurück. Es gab noch ein Problem. Wenn er Sells Vorschläge aufgriff, dann musste er mit der Mutter kämpfen. Felix spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Wie sollte er ihr klar machen, dass er noch Fremdsprachenkurse und ein Diplom als Bilanzbuchhalter brauchte, um seine berufliche Laufbahn zu festigen? Seine Mutter ließ sich sicher auch nicht von dem Lob des Direktors Sell beeindrucken. Seine Argumente waren ihr schnuppe. Sie war der personifizierte Vorwurf: In den Augen seiner Mutter war er der undankbare Sohn. Er hatte die zusätzliche Chance, die sie ihm in den unsicheren Zeiten eröffnen wollte, gegen sie und den Hof gewandt. Sie war mit der Schufterei auf dem Hof allein.

„Es würde ja schon helfen, wenn du nur ein Drittel deiner Zeit auf dem Hof verbringst. Aber du lässt uns im Stich!“ Felix hatte zurückgebrüllt: „Ich bin nicht mit dem Hof verheiratet. Auf mich kannst du nicht zählen. Ich tue was ich kann, aber mehr kann ich nicht!“

Gleich danach bedauerte er seine Worte.

„Ich muss mich sachlich und ruhig mit ihr auseinandersetzen“, dachte er, zahlte sein Eis. Dann kaufte er für Mutter eine große Flasche Eierlikör. Morgen, nach dem Schultag wollte er eine Offensive des Charmes eröffnen.

„Es tut mir leid, Mutter.“

„Hast du die Tiere versorgt?“

„Ja, Mutter ich habe auch ausgemistet und Stroh geholt. Du hast wieder einen Vorrat. Und auf dem Kartoffelfeld war ich auch.“

„Großvater ist nicht mehr so gut auf den Beinen, hast du das schon gemerkt? Manchmal schläft er bei Tisch ein, hat dicke Füße.“

„Hast du gehört, was ich dir gesagt habe?, dass es mir leid tut. Wir sollten nicht mehr so miteinander streiten.“

„Ich habe schon gehört. Es ist schon gut, Felix. Ich bin halt manchmal verzweifelt. Und du denkst, ich gönne dir dein Vorwärtskommen nicht. Ich will dir ja nicht im Weg stehen. Aber der Hof, die Arbeit, und dann noch der kranke Großvater.“

„Was ist es, was denkst du?“

„Er sagt ja nichts. Aber er atmet so kurz, wenn er sich anstrengt. Und die Füße, das ist Wasser in den Beinen, eine Alterserscheinung. Ich habe schon Brennnesseltee gebrüht, aber den trinkt er nicht. Es ist halt alles zuviel für ihn.“ „Meinst du, dass er einen Eierlikör trinkt? Der soll ja herzstärkend sein!“

„Wo hast du denn den her?“

„Ich habe ihn für euch gekauft.“ Es wurde ein friedlicher Abend. Wie schon lange nicht mehr. Sie saßen um den großen runden Holztisch in der Küche. Großvater auf der Bank mit einem Kissen im Kreuz, Mutter mit ihrem Stopfzeug. Der Eierlikör machte die Runde. Dorftratsch wurde erzählt. Die Maria habe einen „von drüben“ geheiratet. Seine Schulfreundin Eva bekomme ein uneheliches Kind und man wisse nicht, wer der Vater ist. Irgendjemand habe die neue Telefonzelle am Markt beschmiert. Und Ernst August sei schon wieder im Krankenhaus. Der 30. Splitter musste heraus operiert werden. Adenauer hielt sich in Moskau auf und verhandelte um die Freilassung der Kriegsgefangenen. Noch gab es Hoffnung für einige Familien im Dorf. Der Gedanke an Vater kam auf. Vater saß mit am Tisch. Das Gestern war im Heute noch gegenwärtig.

Die Flüchtlinge waren vom Waldlager in feste Häuser gezogen. Ihre schmucken, kleinen Häuser sahen alle gleich aus: Flur, zwei Zimmer, Küche und Innenklo, darüber ein Spitzdach. Davor die Straße, dahinter der Gemüsegarten. Die Straßen in der neuen Siedlung wurden nach den verlorenen Ostgebieten genannt. Wie in tausend anderen Orten auch gab es jetzt eine Pommern-, Schlesien- und Ostpreußenstraße im Dorf. Und die Flüchtlinge waren immer noch fremd, waren die „anderen“, die besonders kritisch beäugt, deren Kinder in der Schule gehänselt wurden.

„Dass die Häuser mit so günstigen Krediten gebaut wurden, das gibt böses Blut“, sagte die Mutter. Viele von den Eingeborenen haben noch die Toilette im Hof, und die Häuser sehen schäbig aus.

„Aber diese Häuschen sind doch wirklich keine Paläste“, wandte Felix ein, der sich morgens im Zug jetzt mit Christoph Helbig unterhielt – auch einer von „denen“, die er früher geschnitten hatte, weil man nicht mit ihnen verkehrte. Aber von den Amis, egal ob schwarz oder weiß, hatten sie Geschenke genommen, ohne auf die Hautfarbe zu achten, dachte Felix, dem die dörfliche Beschränktheit erst allmählich zum Bewusstsein kam. Aber gab es nicht auch Beschränktheit in der Großstadt? War nicht der Neid der Städter auf die wohlhabenden Bauern auch eine Form der Beschränktheit? Und gab es nicht schon wieder Neid zwischen den Nationen, die der jungen Bundesrepublik das „Wirtschaftswunder“ missgönnten? Auch die Bosse eines so modernen Unternehmens, wie es seine Bank war, schienen von neiddurchtränkten Urinstinkten nicht frei zu sein. Wie redeten sie über Direktor Rupp, der jetzt auf Capri den Lebensabend genoss. Voller Neid!

„Prost Großvater, zum Glück sind wir nicht neidisch aufeinander.“ Felix versuchte sich mit einem Scherz, der leider nicht zündete. Denn Großvater war eingenickt. Das Likörglas in der Hand, aufrecht am Tisch sitzend, schnaufte er friedlich vor sich hin.

„Ich werde noch Kartoffeln sortieren“, sagte Felix zur Mutter. „Lass gut sein, mein Junge“, sagte sie milde.

Was ist Neid? Während Felix am nächsten Tag die Kartoffeln durch das große runde Sieb schaufelte, um sie auszusortieren, hatte er Zeit zum Grübeln. War Neid angeboren? Es muss eine Form von unterdrückter Gewalttätigkeit sein. Wahrscheinlich hat es etwas mit Verteidigung des Reviers zu tun, mit einem Bedrohungsgefühl, in der Steigerung mit Verfolgungswahn. dass man Neid körperlich spüren kann, dass er greifbar ist in Mimik und Gestik. Das sollte er bald erfahren. Felix überfiel der Neid noch im Hochgefühl der Freude über das Gespräch mit Sell und in der ungewohnten Friedenszeit zu Hause.

Erfolg ist mit Neid gekoppelt, das war die Lektion, die er zu lernen hatte. Zunächst hatte es Krach mit Daser gegeben. Daser, auf Vorstandsebene wie Sell angesiedelt und für die Personalpolitik der Bank verantwortlich, erfuhr eher zufällig von Felix Bericht über die Ausgliederung der Hollerith-Abteilung. Abteilungsleiter Bauer hatte sich an ihn gewandt, weil er zu Felix Ausführungen eine Stellungnahme abgeben sollte. Und weil er beunruhigt war über die Kreise, die ein an sich harmloser Lehrlingsbericht zog. Im Gespräch mit Daser wollte er nun den Realitätsgehalt der Vorschläge erkunden.

„Herr Bauer Sie sehen mich im Zustand der Unschuld. Ich versichere Ihnen, dass ich den Bericht nicht kenne. Fragen Sie nicht, weshalb das so ist. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde ... na, sie wissen schon. Aber ich werde es bald wissen. Lassen Sie den Bericht hier. Ich werde prüfen, was es damit auf sich hat.“

„Aber Herr Sell geht offensichtlich von einer Realisierbarkeit der Vorschläge des Herrn Admont aus.“

„Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, Herr Bauer. Und wer schnell hoch aufsteigt, kann auch schnell wieder abstürzen. Denken Sie mal über diese alten Volksweisheiten nach. Ich werde mich bei Herrn Sell erkundigen, und wenn etwas an dem Bericht des Admont dran sein sollte, hören Sie von mir. Aber: machen Sie vorher nicht die Pferde scheu.“

Dr. Vogt wurde unverzüglich zum Rapport bestellt. „Lieber Dr. Vogt, da gibt es ein winzig kleines Problem“, eröffnete Daser in falscher Freundlichkeit das Duell.

„Worum handelt es sich?“ Vogt, dem dieses gewollt harmlose Vorspiel bekannt vorkam, zog die Augenbrauen hoch. Die leisen Töne seines Chefs verhießen nichts Gutes.

„Wie weit ist Ihre Abteilung von meinem Büro entfernt?“

„Warum fragen Sie?“

„Das ist doch eine höchst interessante Frage, die man analysieren könnte. Besonders zu klären wäre in diesem Zusammenhang die Frage, wieso auf dieser kurzen Strecke immer wieder so viele Informationen verloren gehen?“ „Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen, Herr Daser.“

„Es muss ein Loch geben, ein Informationsloch. Oder wie erklären Sie sich, dass Sie mir personalrelevante Vorschläge immer wieder vorenthalten. Wie darf ich mir das erklären, sehr verehrter Herr Doktor Vogt?“

„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.“

„Dann darf ich ihnen mal aus dem Informationsloch helfen. Was ist mit dem Bericht des Admont? Wieso weiß ich nichts davon, wenn über die Schließung einer ganzen Abteilung spekuliert wird? Wer hat es unterlassen, mich zu informieren? Warum wurde das unterlassen? Das sind doch spannende Fragen, Herr Vogt. Nicht wahr?“

„In der Regel ist es ja so, dass die Berichte von Lehrlingen nichts enthalten, was den Vorstand interessieren könnte. Bei Admont war das eine Ausnahme. Ich fand vor allen Dingen seine Herangehensweise interessant. Der Mann ist eine ausgesprochene Begabung. Der kann strategisch denken und geht ungewöhnliche Wege. Darauf wollte ich Herrn Sell aufmerksam machen.“

„Ungewöhnliche Wege gehen Sie, lieber Doktor. Seit wann werden hier im Hause die Informationswege vermint? Wieso werde ich nicht informiert?“

„Ich ging zunächst nicht davon aus, dass Admonts Vorschlag umgesetzt wird. Ich hätte Sie sonst selbstverständlich informiert. Wie schon gesagt, ich wollte Herrn Sell lediglich auf ein Talent aufmerksam machen.“

„Ich wollte, ich hätte, ich könnte. Mit Ihrer Begabung scheint es nicht weit her zu sein, Herr Doktor. Ich erwarte unverzüglich den Admont-Bericht und alle Stellungnahmen.“

Dieser Zwerg! Dr. Vogt schäumte innerlich, als er die 50 Meter zu seinem Büro zurücklegte. Zu dumm auch, die Sache war schiefgegangen. Natürlich hatte er Daser bewusst nicht informiert. Auf dem sogenannten Dienstweg ist schon so mancher Vorschlag versickert und hintertrieben worden. Dieser aufgeblasene Frosch! Vogt biss die Zähne zusammen, bewahrte Haltung bis zu seinem Büro.

„Fräulein Kohlhardt, ich möchte jetzt nicht gestört werden“. Später musste Fräulein Kohlhardt zu Sell durchstellen, eine Notiz für Vogts Akten aufnehmen und Felix Admont für den kommenden Tag bestellen.

Abends, noch bevor Elvira, seine Frau, ihn fragte, ob er lieber einen Sherry oder einen Cognac wolle, ließ Vogt Dampf ab. „Er hat wieder mal zugeschlagen. Dieser zu kurz gekommene, arrogante Pinscher hat mich angepinkelt!“

„,Reg dich doch nicht so auf, Georg. Das ist nicht gut für deinen nervösen Magen! Der Daser ist das nicht wert.“

„Ja, ich weiß, aber ich muss mich aufregen. Den ganzen Tag muss ich alles in mich hineinfressen. Ich kriege noch Magengeschwüre. Dann ist er so scheinheilig, so hinterhältig. Jedes Wort ist ein versteckter Angriff. Das ganze Gespräch ist vermint. In alles steckt er seine Nase, und wenn er was in den Fingern hat, dann kennst du das nachher nicht mehr wieder.“

„Ich weiß ja, wie der ist. Ich habe ihn ja selbst erlebt. Sekretärinnen bekommen allerhand mit, auch intime Einzelheiten. Ist dir das schon aufgefallen?“

„Natürlich, ja. Worauf spielst du an? Weil ich dich geheiratet habe und du meine Sekretärin warst?“

„Nein, ich meine, es wird schon seit Jahren über Daser hergezogen. Der Kleine mit dem großen Minderwertigkeitskomplex und mit einem Geltungsbedürfnis wie ein Wolkenkratzer. Und deswegen lässt er auch nur Zwerge um sich sein. Der herrscht doch in einem Zwergenstaat.“

„Das ist gut, da ist was dran. Ich hab das Wort auch schon gehört. Wenn man aber über Daser redet, muss man vorsichtig sein, denn der Feind hört überall mit.“

„Ja, das stimmt. Sein Zwergenstaat war ja schon zu meiner Zeit gut durchorganisiert. Nicht nur, dass er sich Winzlinge aussucht für seine Abteilung, die müssen auch noch alle den Buckel krumm machen. Er sucht sich Untertanen.“

„Um ihnen aber dann immer den Stiefel ins Genick zu stellen. Wer eigene Gedanken hat, wird ausgemerzt. Ekelhaft.“

„Aber wirkungsvoll. Es soll ja auch Leute geben, die Stiefel lecken, wenn man ihnen ins Gesicht tritt. Und einer von denen hat mir einmal vor Jahren ganz heimlich gesteckt, dass Daser eine halbe Million zahlen würde, wenn er seine Körpergröße nur um zehn Zentimeter strecken könnte.“

„Wirklich, wer war das? Das ist ja eine schöne Geschichte.“

„Das war der Schlichting, der kurz vor seiner Pensionierung den Herzschlag bekommen hat!“

„Gib mir einen Cognac, Elvira, trinken wir auf Schlichting, der diese schöne Geschichte kolportierte.“

Vogt beruhigte sich, er würde die Angriffe von Daser überstehen. Aber er übersah noch nicht die Auswirkungen für seinen Schützling Felix. Es erwies sich als ein schwerer Fehler von Dr. Vogt, dass er Felix Bericht dem eigenen Vorstand vorenthalten und nur an Sell weitergegeben hatte. Ein Fehler, der sich weniger für Vogt als für Felix Admont auswirken sollte. Bei seinem Gespräch mit Felix erwähnte er den Konflikt nur indirekt.

„Ich will Sie informieren, dass der Vorstand Personalwesen, Herr Daser Ihren Bericht leider nicht mit ähnlichem Wohlwollen wie Herr Sell aufgenommen hat. Herr Daser sieht das aus der Perspektive der Personalverantwortung. Und es geht ja auch um hundert Arbeitsplätze. Das ist durchaus legitim. So ein Rationalisierungsschritt greift natürlich in viele Kompetenzen ein“, erklärte er Felix, der hinter den wohlgesetzten Worten den Konflikt zwischen Vogt und Daser erahnte.

Felix hoffte, aus der Schusslinie zu kommen. Er hatte weder einen direkten Draht zu Sell noch zu Daser. Die starke, zähe und langlebige Feindschaft Dasers sollte ihm noch das Leben schwer machen. Von nun an war Felix unsichtbar für Daser. Er beachtete ihn nicht. Nur einmal, als Daser zu einem Dienstagsvortrag geladen war, wurde seine Aggression gegen Felix greifbar.

„Nun, was hat unser großer Stratege zu sagen? Lassen Sie mal ihr Licht leuchten, Herr Admont, aber an der richtigen Stelle“, flötete Daser, und viele lachten gehorsam.

Felix spürte den Neid als ein Ekelgefühl. Er fraß an seinem Wohlbefinden. Seine Haut war noch dünn. Ihm dämmerte, dass es nicht nur darauf ankam, durch exzellente Leistungen aufzufallen, es war ebenso wichtig, sich einen Panzer zuzulegen, um gegen seine Feinde gewappnet zu sein.

Karriere und Liebe

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