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Kapitel 3

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Der Mann an der Spitze verstand es, die Rivalen zu zügeln. Einer gesunden Konkurrenz nicht abgeneigt, ließ er es jedoch nie zum offenen Kampf kommen. Denn er wusste, ein offener Schlagabtausch könnte womöglich auch seine Autorität beschädigen. So war man in der Vorstandsebene eher auf Grabenkämpfe spezialisiert.

Der Mann an der Spitze war ein Generalist, der vermittelte, dass er sich in den unterschiedlichen Fachgebieten gerade soviel auskannte, dass er die Gesamtverantwortung übernehmen konnte, ohne sich mit den Details befassen zu müssen. Der Generaldirektor Prof. Dr. h.c. Carwitz hatte das Große und Ganze im Auge. Und er achtete darauf, dass die Augen auch auf ihn gerichtet waren, ohne dass man ihm offen Eitelkeit nachsagte. Aber er fiel nicht nur durch den Glanz seiner eleganten Erscheinung auf, er war ohne Zweifel eine Führungspersönlichkeit, die signalisierte, dass er mit seiner Macht umzugehen verstand. Selbstbewusst, bis an den Rand der Selbstgefälligkeit drückte er dem Vorstand unmissverständlich den Stempel seiner Persönlichkeit auf. Nicht, was er sagte, war dabei wirklich entscheidend, sondern wie er es sagte, das zählte. Den aufmerksamen Zuhörern fiel oft erst später auf, dass die Substanz seiner Aussage nicht der überzeugenden Geste entsprach.

Dabei war er durchaus intelligent und weitsichtig, aber die große Geste, die Aura des Wissenden war ihm wichtiger als kleinliche Überzeugungsarbeit. Diese Fähigkeiten waren begehrt, besonders in der Politik, die ja von der überzeugenden Geste oft mehr lebte als von Überzeugungen. Und Carwitz war ein Naturtalent.

So machte der „Erpel“, wie er ein wenig zu respektlos wegen seiner blonden Haare, die sich im Nacken kräuselten, genannt wurde, auch als Politik-Berater Karriere. Die Bundesregierung konsultierte ihn, aber auch Ministerien in den Entwicklungsländern suchten von seiner Aura und seiner Erfahrung zu profitieren. Mit der Folge, dass er Entscheidungen in der Bank in zunehmendem Maße seinem Stab überließ. Getreu der Erfahrung, dass nichts erfolgreicher ist als der Erfolg, verstand er es trotzdem, unangefochten an der Spitze der Bankhierarchie zu bleiben. Niemand sägte ernsthaft an seinem Stuhl mit den breiten Armstützen und dem dunklen Lederbezug.

„Ich heiße Sie in unserem Gremium herzlich willkommen. Ich bin sicher, Sie werden als Spezialist für Datenverarbeitung unseren Horizont erweitern. Ich habe vorgesehen, dass Sie uns in der nächsten Sitzung über Ihr neues Projekt unterrichten.“

Kurz und knapp, aber nicht unterkühlt, fiel Carwitz' Begrüßung für Felix bei der ersten Vorstandssitzung aus, an der er als zukünftiger Nachfolger von Sell teilnahm.

Es sprach für Carwitz, dass er nicht vorgab, sich in der Entwicklung der Datenverarbeitung auszukennen. Seine internationale Erfahrung sagte ihm, dass diese amerikanische Entwicklung auch Europa erfassen würde. Da war es gut, wenn seine Bank mit profunden Kenntnissen in der neuen Technologie mit an der Spitze war. Aber er erkannte auch die Kompliziertheit der Materie, und es fehlte ihm an Zeit und Lust, sich dort noch einzuarbeiten. Er ließ sich von Sell informieren. So konnte Sell auch kontinuierlich über Felix' außergewöhnlichen Einsatz berichten und seine Begabungen ins richtige Licht setzen. Sell kannte Carwitz seit vielen Jahren. Anfangs waren sie sogar Rivalen gewesen, denn Organisationsentwicklung war auch Carwitz' Steckenpferd. Mit Kriegsbeginn war die Partie der Konkurrenten entschieden. Sell wurde eingezogen, war als Offizier bis zur Niederlage 1945 dabei. Carwitz konnte wegen einer Augenkrankheit nicht Soldat werden und deswegen weiter an seiner Karriere stricken. Als Sell nach einigen Monaten in amerikanischer Gefangenschaft 1946 wieder an seinem Schreibtisch Platz nahm, war die Partie entschieden. Carwitz war der Boss. Der alte Konkurrenzkampf, der nie offen ausgetragen worden war, verebbte, denn kurze Zeit später ernannte Carwitz Sell zum Vorstand für den Bereich Organisation. Und er ließ ihm weitgehend freie Hand, wollte jedoch über alle wichtigen Angelegenheiten mit entscheiden. Eine enge Freundschaft oder auch nur eine distanzierte Vertraulichkeit entstand nicht.

Auch Daser hatte Carwitz' Ohr. Und was von dort hineingeflüstert wurde, wusste auch Sell nicht so genau. Es fiel jedenfalls auf, dass Daser bei Felix erstem Auftritt im Vorstand seinen Platz neben Carwitz beanspruchte. Auch beim traditionellen Abendessen nach der Vorstandssitzung in einem berühmten Frankfurter Schlemmerlokal eroberte sich Daser einen Stuhl neben Carwitz.

„Ist Ihnen das aufgefallen?“, fragte Sell, als er mit Felix am nächsten Tag zusammen kam?

„Ja, natürlich. Er musste sich richtig vordrängen, denn ich stand etwas unschlüssig im Weg.“

„Das war nicht nur gestern so. Das macht er bei jeder Vorstandssitzung und bei jedem Abendessen, das darauf folgt. Das wirkt schon etwas lächerlich. Wie haben Sie sich gestern zurecht gefunden?“

„Eigentlich sehr gut. Ich kenne ja den Sechserklub schon ziemlich genau. Insbesondere mit Herrn Esch und Herrn Seidel hatte ich ja schon zu tun. Sie sind sehr kooperativ. Herr Dr. Rose ist schwer zu durchschauen. Sein süffisantes Lächeln ist schwer einzuordnen. Ist er ein Zyniker?“

„Sie müssen Ihre eigenen Erfahrungen mit ihm sammeln. Ich will da nicht vorgreifen. Aber Daser müssen wir im Auge behalten. Da kann jederzeit wieder ein Grabenkampf ausbrechen.“

Zunächst aber war Stille. Daser legte schließlich ein Ausbildungs- und Schulungsprogramm vor, mit dem auch Felix einverstanden sein konnte. Die Datenverarbeitung wurde in der Ausbildung verankert, sie wurde Schwerpunkt in Fortbildungsveranstaltungen und Abendkursen. Gegen den Arbeitskreis und seine Ableger wurde nicht mehr offen polemisiert. Bei den notwendigen Gesprächen und Abstimmungen zeigte sich Daser zuvorkommend, ja gewählt höflich. Trotzdem spürte Felix deutlich eine gewisse Animosität. Lag es nun daran, dass er Daser um einen Kopf überragte oder dass er als einziger im Vorstand kein Studium vorzuweisen hatte? Er wusste schon von Vogt, dass es verminte Plätze gab, die er auf seinem Weg nach oben möglichst meiden wollte. Es fehlte allerdings noch an Erfahrung sich in der extrem dünnen Luft an der Spitze zu bewegen. Und es ging steil bergauf.

Wie Felix vorhergesagt hatte, war die Bank bei der Vernetzung der Großrechner in Deutschland an der Spitze. Sie gewann an Ansehen und Bedeutung. Und der Imageerfolg zahlte sich aus. Die Zuwachsraten waren beachtlich. Auch Felix Bankkonto legte erheblich zu. Er galt jetzt als Wunderknabe, der sehr früh den Weg in die computervernetzte Zukunft erkannt hatte, als andere noch verzückt auf die Lochkartenmaschine starrten. Manchmal, wenn Felix abends in seinem Büro saß und in der Skyline von Frankfurt wieder einen neuen Wolkenkratzer entdeckte, wurde ihm schwindelig, wenn er an seinen Senkrechtstart in die Spitze dachte. Wer hoch steigt, kann auch tief fallen, dachte er dann. Sicher, er hatte sich hoch gearbeitet, unermüdlich und voller Wissbegierde. Aber er kam aus bescheidenen Verhältnissen. Und Quereinsteiger waren in der Spitze sehr selten. War er ein Glückskind, war es Zufall, dass er so schnell und mit so wenig Widerstand ganz nach oben kam? Wieso setzten ihm die Leute so wenig Widerstand entgegen?

„Weil sie nichts davon verstehen!“, sagte Donovan beim nächsten Telefonat. „Sie verstehen nichts von der Technik, die die Welt verändert. Aber sie spüren, dass sich die Welt irgendwie verändert. Wir sind auf der Seite des Fortschritts, und dem ist nur schwer zu begegnen, wenn man sich nicht vorher selbst gewappnet hat.“

„Da muss ich dir recht geben. Ich habe den Eindruck, hier versteht kaum ein Mensch, was wir machen. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist, seit wir unsere Vernetzung über Arpanet der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Die Journalisten laufen mir die Bude ein. Sie belagern mein Büro. Da sie ahnungslos sind, können sie auch nicht die richtigen Fragen stellen und heraus kommt nur Unsinn. Fast täglich kommen Anfragen von Besuchern oder Angebote, Vorträge zu halten. Ich sortiere schon, es geht zuviel Zeit verloren. Aber bei wichtigen Kunden oder anderen Bankhäusern kann ich mich nicht verweigern. So kommt es, dass ich regelmäßig noch spät abends am Schreibtisch sitze, um die Routinearbeiten zu erledigen.“

„Und du hast Glück, dass ich am liebsten nachts arbeite. So können wir wenigstens telefonieren. Ich habe mir gerade deine letzten Bemerkungen vorgenommen, die du mir auf das Tonband gesprochen hast. Unsere Zusammenarbeit, Felix, ist wirklich ideal. Stell dir vor, wie viele Fehler sich eingeschlichen hätten, wenn du nicht diese Praxiserfahrung und dieses theoretische Verständnis verbinden könntest. Schade, dass man nicht ausrechnen kann, wie viel wir dadurch effektiv gespart haben. Aber deine Mitarbeit ist wirklich unbezahlbar.“

„Na, vielleicht werden wir noch besser. Was macht unser Mini-Computer-Projekt?“ fragte Felix den amerikanischen Freund. Auch hier war Donovans Firma in den USA mit vorne, teilweise der Entwicklung sogar schon voraus. Gerade war er dabei, den Schulunterricht an ausgewählten Standorten zu revolutionieren. Der Rechner als Lehrinstrument und Lerninstrument, als Möglichkeit der Problemlösung und der Unterrichtssteuerung, das war das Ziel. Donovan schlug die Bresche, steckte die Ziellinie ab. Wenn es dann erreicht war, konnten sich andere an die Umsetzung machen. Donovan war dann schon wieder unterwegs zu neuen Ufern.

„Heute verdoppelt sich der Umfang des Fachwissens innerhalb von 15 Jahren. Man kann von einer durchschnittlichen Nutzungszeit des in der Berufspraxis zu erwerbenden Wissens von etwa 7 Jahren ausgehen. Die Beschleunigung und wirtschaftliche Planung dieses Lernens und Umlernens, das ist unsere Aufgabe, Felix.“

Eine ganz schön anstrengende Aufgabe, wie Felix erkannte, wenn er sich wieder einmal am Wochenende am Schreibtisch fand. Zwar konnte er sich mittlerweile auf einen gut ausgebildeten Spezialistenstab stützen, und es gab interessierten Nachwuchs und Lehrpläne, wie er auszubilden und zu schulen sei. Aber damit war die Zukunft noch nicht gewonnen. Felix musste sich strategische Gedanken machen. Es ging darum, für aktuelle Projekte einen Stab zu formen, eine „Matrix-Organisation“ zu schaffen, wie es in der Kybernetik hieß, einer Wissenschaft, die gerade entdeckt wurde. Und es ging darum, die Kommunikation zu stärken. Hier war der Lebensnerv seines Projektes. Kommunikation ist der Schlüssel zu den neuen Technologien. Und die Fähigkeit zur Kommunikation bestimmte auch seinen Erfolg als Manager. Immer mehr entwickelte er sich zu einem ,,turn around man“, wie es Donovan nannte. Dabei ging es aber nicht nur um die Übermittlung von Information von einem Punkt zum anderen, es ging auch um die Vermittlung von Einstellungen. Hier lag in Deutschland der Hase bekanntlich noch im Pfeffer. Die inneren Barrieren mussten abgebaut werden, es musste zu einer Identifikation mit der neuen Technik kommen. Erst dann gab es auch den wirklichen Quantensprung, den die Kybernetik versprach.

Felix versorgte sich mit einem Schinkenbrötchen und sprach seine Gedanken auf ein Tonband, damit sie Frau Binder morgen abschreiben konnte. Er wollte sein Strategiepapier noch mit Donovan austauschen. Wenn er Frau Binder nicht hätte! Sie verstand ihn ohne Worte. Sie stellte am Abend eine Flasche Orangensaft und einen Teller mit belegten Brötchen auf den Besuchertisch. Frau Binder hatte er von Sells Sekretariat übernommen. Dort war sie zweite Kraft. Nun führte sie Felix' Sekretariat. Sie war wenige Jahre älter als er, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Eine doppelt belastete Frau, die trotzdem in ihrem Job voll belastbar war. Ein eher kühler Typ, kooperativ, sachbetont und stets freundlich. Bei ihr liefen die organisatorischen Fäden zusammen. Felix schätzte auch ihre mütterliche Ader. Oft besorgte sie ihm einen Salat oder eine Pizza, wenn er keine Zeit für einen Gang in die Kantine hatte. Oder sie sorgte für den langen Abend am Schreibtisch vor.

Felix fiel die Mutter ein. Übermorgen war er wieder einmal bei ihr zum Kaffee. Es war nicht sein Lieblingstermin, aber er hatte sich vorgenommen, sie wenigstens einmal im Monat zu besuchen. Es gab noch viele Fäden zu seinem Elternhaus. So erledigte er den Schreibkram für die Mutter und tätigte ihre Bank-Überweisungen oder schlug sich mit steuerlichen Angelegenheiten herum. Die Atmosphäre hatte sich deutlich entspannt. Die aggressive Grundstimmung war einer etwas unterkühlten Normalität gewichen.

Waren die Besuche nur eine Pflichtübung? Felix ertappte sich bei einer leisen Freude auf der Hinfahrt. Es war eine Fahrt in die Vergangenheit, in sein Dorf, das sein Gesicht radikal verändert hatte. Schon am Ortseingang war jetzt eine Tankstelle, daneben ein Supermarkt. Der Kramladen war verschwunden. Auch ein Bäcker hatte aufgegeben, obwohl sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt hatte. Schmucke neue Siedlungen waren entstanden, auch einige Mietshäuser standen jetzt dort, wo er vorher mit Großvater Kartoffeln geerntet hatte. Die Schule und die Turnhalle, wo sich die amerikanischen Besatzer niedergelassen hatten, war seit einigen Jahren schon verkauft. Zur Zeit hatte dort ein Autohaus seinen Standort. Die Dorfkinder fuhren mit dem Bus in ein Schulzentrum. Für die Kleinen gab es jetzt einen Kindergarten auf dem Kirchengelände. Das Spielen auf der Straße, so wie es Felix noch vertraut war, war lebensgefährlich geworden.

Er hatte noch Kontakt zu seiner alten Volksschullehrerin. Ab und zu besuchte er auch eine Nachbarin, die ihn als Kleinkind oft versorgt hatte, wenn Mutter auf dem Feld war. Aber die Bindungen waren locker, tiefe Freundschaften waren nicht geblieben. Seine Schulfreunde waren fast alle schon Familienväter. Wenn er dann zu Mutter kam, am Tisch saß, dann verflog die Wiedersehensfreude schnell. Schon nach wenigen Minuten fühlte er sich unwohl, wurde gereizt.

Es war das alte, endlose Lied, das sie immer wieder anstimmte: „Ah, ich habe ja so viel zu tun. Der Garten! Du glaubst ja nicht, was da zu tun ist. Ich habe eingesät und Zwiebeln gesteckt, Tomaten ins Frühbeet und, und, und.“

„Aber, für wen das alles? Warum machst du dir soviel Arbeit? Ich verstehe das nicht. Du kannst das doch nicht alles essen!“

„Schau, der Rhabarberkuchen, der schmeckt dir doch! Und ich kann doch nicht alles verkommen lassen. Was die Leute dann reden. Das geht nicht. Und du nimmst nachher noch was von dem Eingeweckten mit nach Frankfurt!“

„Mutter, ich kann mir alles kaufen. Das lohnt sich heute nicht mehr, lass doch die Schufterei. Und was die Leute reden, mein Gott, dann bezahle doch jemanden, der dir einen Rasen anlegt und ihn dann regelmäßig mäht. Dann reden die Leute nicht mehr. Es sollte dir auch egal sein. Du hast es doch jetzt wirklich nicht mehr nötig. Mach doch mal einen Urlaub? Vielleicht Italien?“ „Ach geh. Ich und Urlaub! Das ist nichts für mich. Alle fahren jetzt in Urlaub. Alle brauchen ein Auto und eine Waschmaschine. Ich werde daraus nicht mehr schlau. Keiner will mehr arbeiten. Das ist nicht gesund. Und jetzt, wo die Italiener alle zu uns kommen, weil wir nicht mehr arbeiten wollen, da soll ich nach Italien? Wo soll ich denn dort hin?“

„Soll sehr schön sein. Venedig, Florenz, die Toskana. Aber, wenn du nicht willst, bitte. Ich hätte noch einen Vorschlag: Mach' eine Kur! Du klagst doch immer über deinen Rücken, die Bandscheiben. Da kann man schon viel machen. Es gibt schöne neue Kurheime. Viele ältere Kollegen in der Bank fahren jetzt regelmäßig dorthin.“

„Ach, Felix. Das ist ja gut gemeint. Aber die können mir auch nicht helfen. Alles abgenutzt, hat der Arzt gesagt. Da ist nichts mehr zu machen.“ Die Mutter war unbelehrbar, in ihrem Denken eingefahren, unbeweglich. Allerdings nicht in jeder Hinsicht. Immerhin hatte sie der Notar überzeugt, Felix eine Generalvollmacht über ihr Vermögen zu geben. Er legte ihr Geld gut an. Dumm nur, dass sie nichts davon ausgeben mochte. Irgendwie wollte sie nicht verstehen, dass Felix genug Geld hatte, und auf ihre Hilfe nicht angewiesen war. Und dann diese Arbeitswut!

Aber gab es in dieser Hinsicht nicht eine deutliche Parallele zwischen Mutter und Sohn? Felix schob den Gedanken weg. Es war ja nicht alles falsch, was er von seinem Elternhaus gelernt hatte. Fleiß und Disziplin, das waren Tugenden, die ihm auch im Arbeitsleben geholfen hatten. Und ihren Hang zur Sparsamkeit schätzte er immer noch. Es wurde nichts verschwendet. Auch er schämte sich, Brot einfach wegzuwerfen.

In seiner Wohnung angekommen, machte er es sich im Schaukelstuhl bequem. Ein Buch? Nein, es stapelten sich noch Berichte von Donovan, amerikanische Fachzeitschriften mit Artikeln über die Veränderungen der Organisationsstrukturen bei Einführung der neuen Techniken auf seinem Schreibtisch.

Auch sein Feierabend war in der Regel kein arbeitsfreier Abend. Felix beklagte das nicht. Die Vorstandsarbeit erweiterte seinen Horizont beträchtlich. Er konnte die Finanzlage vieler Unternehmen einsehen, nahm Kenntnis von Beteiligungen der Bank, wusste, welche Aufsichtsratsmandate vorhanden waren und wo neue angestrebt wurden.

Er bekam auch Einblick in wirtschaftliche Verflechtungen. So beobachtete er mit Spannung eine Reihe anhaltend starker Konzentrationsvorgänge und zahlreiche Veränderungen in den Kapitalverhältnissen. Die großen Familienunternehmen kamen immer mehr unter Druck, wurden in Aktiengesellschaften umgewandelt. Aufschlussreich waren auch die sich ständig ausweitenden ausländischen Beteiligungen an deutschen Unternehmen. Diese Internationalisierung forcierten ganz massiv die Amerikaner. Sie waren in allen Zukunftstechnologien die Nummer 1. Auch die Computerindustrie war ihre Entwicklung. In der Bundesrepublik Deutschland gab es kaum Konkurrenz.

Gerne diskutierte er diese Fragen mit Dr. Vogt, seinem alten Mentor, den er inzwischen überflügelt hatte. Er war einer der Wenigen von der alten Generation, die dem Neuen mit Neugier und Optimismus entgegen schauten. Felix versorgte ihn regelmäßig mit Informationsmaterial. Die Kybernetik faszinierte ihn besonders.

„Das ist die Brücke zwischen den Wissenschaften“, strahlte er, und seine blauen Augen blitzten Felix an. „Die Kybernetik wird uns mehr beeinflussen als die Atomindustrie oder die Raumfahrt, von deren Entwicklung jeder heute spricht.“

„Also mich interessiert im Moment der Chip noch mehr. Auf kleinstem Raum werden höchste informationstechnische Leistungen vollbracht. Wenn das in Serie geht, die Produktionskosten entscheidend gesenkt werden können, ist der Weg für große intelligente Netzwerke frei. Das sind dann keine Denkmaschinen mehr, sondern Denksysteme.“

„Sie sehen die artificial intelligence auf uns zukommen?“

„Im gewissen Sinne schon. Es wird so etwas wie eine künstliche Intelligenz geben. Zunächst geht es sicher um das Bemühen, die Leistungen des menschlichen Gehirns auf dem Rechner nachzuvollziehen. Das geht über Frage-Antwort-Systeme, die Donovan in amerikanischen Schulen ausprobiert, bis zu Mustererkennungen oder Textanalysen.“

„Wäre das nicht auch ein Thema für die Dienstags Vortragsrunde?“

„Mit Sicherheit würde es mir auch Spaß machen, den neuen Jahrgang in Augenschein zu nehmen. Aber, leider ich bin total ausgebucht. Neben den Abendkursen für unser Fortbildungsprogramm habe ich mir noch eine Vortragsreihe bei der Industrie- und Handelskammer aufgehalst. Das sind zehn Abende, die gut vorbereitet werden müssen.“

Felix Überlastung war echt. Aber er war auch süchtig nach Arbeit, eine Sucht allerdings, die sich aus seiner Neugier speiste. Er wollte alle neuen Entwicklungen kennen und bis ins Detail beherrschen.

Neben der Mikro-Elektronik faszinierte ihn die Wirkungsweise der Lasertechnik, an der in den USA fieberhaft gearbeitet wurde. Wieder einmal ging die Entwicklung vom militärischen Bereich aus. Donovan hatte ihm erzählt, dass 400 Spezialisten der Quantenelektronik in Berkeley an dieser Erfindung arbeiten. Es gab unzählige Querverbindungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Eine Entwicklung, die in der Bundesrepublik Deutschland unvorstellbar war. Gelehrte saßen hierzulande im Elfenbeinturm. Aber es ging Felix ja nicht nur um den Stand der Forschung und Technik es ging auch um Wissensvermittlung. Wollte er die Menschen für die neuen Techniken und ihre Anwendungen begeistern, so musste er auch ihre Vorbehalte und Denkweisen kennen. Und das Spannende an den Vorträgen war immer die abschließende Diskussion. Was antwortet man auf die Frauenfrage: Besteht nicht die Gefahr, dass sich die Familie ganz auflöst, wenn neben Radio und dem neumodischen Fernsehen noch der Computer kommt? Wie reagiert man auf Mütterbedenken wie: Die Kinder werden verwahrlosen. Heute schon machen sie ihre Schulaufgaben und hören nebenbei ständig Radio!

Aber auch die Kaufleute und Selbständigen, die IHK-Vorträge besuchten, waren uninformiert: Handelt es sich bei der neuen Technik um eine Rationalisierung oder werden Arbeitskräfte gebraucht? Wird es Ärger mit Gewerkschaften geben, weil die Belastung und der Stress zu groß sind?, wollten sie wissen. Felix leistete Basisarbeit. Wo keine Information war, musste erst ein Grundstock gelegt werden. Wissensaneignung und Wissensvermittlung waren gleichermaßen wichtig.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass Felix in der Welt der Datenverarbeitung eine immer bekanntere Größe und in der interessierten Öffentlichkeit allmählich ein Begriff wurde. Felix, der Newcomer, der Aufsteiger in die Stratosphäre der Konzernmacht, war er eigentlich zufrieden? Finanziell ganz bestimmt. Er verdiente sehr gut, und dass er kaum Zeit hatte, Geld auszugeben, das störte ihn nur selten. Er brauchte keine Statussymbole, keinen Porsche und keinen Buick. Er hatte nur wenige Laster. Ganz genau besehen, nur ein einziges. Viel Geld gab er nur für gute Kleidung aus. Salopp und leger, einfach und doch raffiniert geschnitten sollte seine Feierabendgarderobe sein. Rollkragenpullover waren eine Zeit lang seine Leidenschaft. Auch in der Bank setzte er ganz vorsichtig neue Akzente. Es musste nicht immer der dunkle Anzug sein. Wichtig war ein gepflegtes Äußeres. Aber erfüllte ein Seidenhemd oder ein Kaschmirmantel nicht gerade diese Anforderung?

Er liebte es, an den Abenden durch die City zu streifen, um sich die Schaufenster der Kaufhäuser und Boutiquen anzusehen. Wie hatte sich Frankfurt verändert! Die Spuren des Krieges waren verwischt, gelegentlich noch hinter Bretterwänden versteckt. Alles war neu, modern und abends hell beleuchtet. Die Bettler waren fast ganz verschwunden, die Prostitution bis auf wenige Ausnahmen in die Bars und Kneipen um den Hauptbahnhof verlegt. Sogar seine Kinderliebe, Milina, war mit der Familie aus ihrem Schrebergarten in Frankfurt-Höchst ausgebrochen und in einem Mietshaus im Gallusviertel untergekommen. Keine feine Adresse, aber sie lebten nicht mehr am Rande des Existenzminimums. Gelegentlich hörte er von Mutter, die den Kontakt hielt, dass Milina eine Ausbildung zur Krankenschwester abgeschlossen hatte.

Um seinem kleinen Laster zu frönen, bevorzugte Felix ein Spezialgeschäft in der City. Eine Boutique, die den Vorzug hatte, dass die Inhaberin aus dem Mutterland der Mode kam und es ausgezeichnet verstand, Männer anzuziehen und anziehend auf Männer zu wirken. Annabelle führte eine exquisite Herrenabteilung. Und was fast noch wichtiger war: Sie hatte auch nach Feierabend für gute Kunden wie Felix Zeit. Ohne auf die Uhr schauen zu müssen, konnte man probieren und verwerfen und neue Creationen studieren.

Felix liebte dieses Spiel mit der Verwandlung, obwohl er am Schluss sehr oft wieder bei seinem vorsichtig lockeren aber insgesamt doch konservativen Stil landete.

Annabelle war die Frau eines stadtbekannten und wohlhabenden Kaufmanns. Ihre Boutique war Kommunikationszentrum und Galerie zugleich. Gelegentlich inszenierte sie auch Kunstausstellungen in ihren verschachtelten Verkaufsräumen. Es war ihr wichtig, neben dem Imperium des Gatten ihr kleines eigenes Reich zu haben. Eine ungewöhnliche Frau: charmant und klug.

Felix war sicher, dass an ihr auch ein Kleidchen von der Stange so ausgesehen hätte, als koste es einen Tausender. Sie unterlegte die Anproben ihrer Kunden mit leiser Musik, Champagner oder einem Chablis. „Oh lala“. Felix lachte sie dann mit ihrer hellen Stimme an: „Ich möchte so gerne die Blicke der Frauen beobachten in ihrer Bank, wenn Sie mit dieser Kombination antreten! Formidable! Wissen Sie eigentlich, dass Sie sehr verführerisch wirken?“

„Annabelle, ich möchte ja gerade nicht, dass man über meine Kleidung redet“, wandte er dann ein. Aber oft ließ er sich auch von ihrem Leichtsinn anstecken. Man gönnte sich ja sonst nichts! Und was war mit den Frauen in der Bank?

„Leider, Annabelle, ich weiß gar nicht, was die über mich denken! Können Sie sich vorstellen, dass ich mir über die Frauen in der Bank noch keine Gedanken gemacht habe? Ich glaube, ich selbst müsste mal Mäuschen spielen, um das zu erfahren!“

Periodisch lud er Annabelle nach einer Anprobe zum Essen ein. Sie besaß Menschenkenntnis und Einfühlung, und die leichte, anregende Unterhaltung bei ,,Monsieur Jaques“ befreite ihn von den Anspannungen des Tages oder einer ganzen Woche.

Annabelle war auf eine milde Art selbstbewusst, eine Eigenschaft, die sie bei ihren deutschen Freundinnen vermisste. Sie sind duldsam, viel zu friedfertig und manche sogar unterwürfig.

„Wenn man sich zur Maus macht, wird man als Maus behandelt“, behauptete sie und schlug temperamentvoll mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Und was sagt Ihr Mann dazu?“

„Er behandelt mich jedenfalls nicht wie eine Maus. Eher wie eine exotische Katze. Das ist auch nicht immer angenehm. Dann muss ich die Krallen zeigen. Wie muss Ihre Traumfrau aussehen, Felix?“

„Ich fürchte, Annabelle, ich weiß es nicht. Können Sie sich vorstellen, dass ich mir darüber noch nicht den Kopf zerbrochen habe. Der ist einfach nicht frei für diese Dinge. Im Moment gibt es noch wichtigere Aufgaben für mich als die Suche nach einer Frau, die zu mir passt.“

„Abwarten, Felix. Kommt Zeit, kommt Frau. Dann macht es klick!, und dann ist es so weit. Ich bin gespannt!“

Je höher man kam, desto dünner wurde die Luft, dachte Felix. In dieser künstlichen Atmosphäre gedeihen vielleicht keine menschlichen Beziehungen. Die Frauen in der Bank blieben blass und gesichtslos. Aber es wurde getuschelt, es gab Affären, das wusste er. Unter den gelangweilten Alltagsmasken loderte nicht selten ein starkes Feuer. Offiziell sah man es nicht gerne, wenn Mitarbeiter untereinander Verhältnisse haben, weil man der Ansicht war, dass Verhältnisse die Arbeitsleistung beeinträchtigten. Allerdings gab es viele Beispiele dafür, dass Sekretärinnen, die in ihren Chef verliebt waren, enorm hart arbeiteten und sich wünschten, die Woche hätte noch mehr Arbeitstage.

Felix kannte auch unverheiratete Pärchen, die morgens aus dem selben Bett stiegen, im selben Auto in die Bank fuhren und in der Eingangshalle so kühl miteinander umgingen, dass man meinen konnte, sie führten einen Prozess gegeneinander.

Das alles galt jedoch nicht für ihn. Sein Tag könnte 48 Stunden haben. Wie bei einem totalen Einsatz, der nun schon über Monate ging, bei wenig Schlaf und kaum einer Stunde am Wochenende noch eine schöne Frau beglücken? Dann doch lieber ein zölibatäres Leben. Schon die Beziehung mit Mirja war zerflossen, weil er keine Zeit investieren wollte. Von der großen Liebe war sowieso nie die Rede gewesen.

Und doch: an diesem Abend fühlte Felix zum ersten Mal seit langer Zeit wieder eine Sehnsucht nach weiblicher Nähe. Es gab noch ein Leben außerhalb der Bank. Er wollte nicht als Mönch enden. Frau und Kinder standen schon auf seinem Lebensplan, allerdings bis jetzt noch unter ferner liefen.

Mit der Zeit bekam Felix immer mehr Kontakt zu den Mitgliedern des Aufsichtsrats. Der Sechserclub war mit den Jahren durch unzählige private und halbprivate Treffen miteinander verwoben. Der konventionelle Kontakt tat der Konkurrenz keinen Abbruch.

Man traf sich gelegentlich zu einer Weinprobe oder zu einem Abendessen. Allerdings nie mit Generaldirektor Carwitz, den seine Beraterpflichten in alle Welt führten. Er hatte auch auf die Familie keine Rücksicht zu nehmen, denn er war seit Jahren Witwer.

Wenn die Herren des Vorstands unter sich waren, hatte Felix oft den Eindruck dass ihr Interesse in erster Linie seinen EDV-Kenntnissen und seinem Wissen über die internationale Technik-Entwicklung galt. Einige der Vorstände hatten große Informationslücken, die man so geschickt auffüllen konnte.

So unterrichtete Felix die Herren mit abgeschlossenem Studium bei einem Glas Wein über die Entwicklung der Programmiersprachen, die immer benutzerfreundlicher wurden oder über Ansätze einer Forschung zur künstlichen Intelligenz.

„In den USA entstehen zunehmend Expertensysteme, die es erlauben, das Wissen einer größeren Gruppe von Experten in einem Rechner zu speichern und dieses in einem Dialog den naiven Benutzern verfügbar zu machen. In Holland wird an einem Konzept eines optischen Massenspeichers gearbeitet, der als Bildplatte auf den Markt kommen soll. Nur in der Bundesrepublik Deutschland sind die Forschungsanstrengungen gleich Null. Das heißt die Verantwortung liegt bei den Unternehmen.“

Felix vergaß nie bei solchen Gesprächen auf die Fortbildung hinzuweisen. Allmählich lernte er einzelne Vorstandsmitglieder einzuschätzen. Der Marketingmann Dr. Rose, der immer ein süffisantes Lächeln auf den Lippen hatte und mit zynischen Bemerkungen nicht sparte, war mit Sicherheit kein intellektueller Überflieger. Er entpuppte sich als ein Nörgler ohne festen Standpunkt, der sich allerdings mit einer offenen Meinung nicht vortraute, sondern sie hinter Fragen versteckte und sich krampfhaft bemühte, nichts von sich preiszugeben.

Felix wurde deutlich, dass Dr. Rose ziemlich isoliert war. Gefragt war er allerdings als Golfer. Bis auf Felix frönten alle diesem Sport, und die Treffen arteten nicht selten in eine Fachsimpelei aus, zu der er keinen Zugang hatte. Golf war für ihn eine Altherrensportart.

Oft waren es auch die Ehefrauen, die Beziehungsfäden unter den Vorstandsmitgliedern woben. Die Frauen wollten sehen und gesehen werden. Bei Bällen, Tanztees, Ausstellungseröffnungen, Konzerten und Wohltätigkeitsbällen und Basaren, Theaterpremieren. Der kulturelle Anlass war oft nur der Rahmen für einen Empfang oder eine Stehparty, die immer mehr in Mode kamen. Eingeladen wurde auch im privaten Rahmen: Verlobungen und Hochzeiten, Jubiläen, runde Geburtstage, Cocktailparties und Gartenpartys.

Felix bekam Gelegenheit, seine lässig-elegante Kleidung auch vorzuführen. Er war ein gut aussehender und begehrter Junggeselle auf diesem Parkett, das war nicht zu übersehen. Aber er war auch unbedarft. So clever, gescheit und informiert er in seinem Job agierte, so unerfahren war er, wenn es darum ging, weibliche Angeln zu erkennen. Über die Macht der Frauen hatte er noch nie nachgedacht. Maß er den Frauen überhaupt eine Macht zu? Aber er liebte die kleine Gefahr, den unverbindlichen Flirt. Dort setzte er gezielt seinen Charme ein, aber er konnte sich so auch leicht wieder entziehen. Schließlich gab es ja unendlich viel zu tun.

„Wenn ich abends nach Hause gehe, und es wird oft spät, immer brennt noch Licht bei Ihnen. Man getraut sich ja kaum, Sie zum Arbeitsessen einzuladen“, scherzte Sell eines Tages.

„Ich habe verstanden, wann und wo soll ich einen Tisch reservieren lassen?“ Sein Verhältnis zu Sell wurde immer enger. Er war nicht nur sein Förderer, sein Ratgeber, er war ein väterlicher Freund, wenngleich so ein Wort wie Freundschaft zwischen ihnen nie fiel. Aber sie vertrauten sich. Und Felix wusste, dass er so manche Klippe umschiffen konnte, weil der Steuermann für Organisation sie vorausgesehen und einen anderen Kurs angesagt hatte.

„Sie sind zu schnell Felix. Es ist richtig, dass wir alle Vorbereitungen für die Mini-Computer-Schulungen treffen müssen. Aber es ist möglicherweise falsch, das Papier jetzt schon aus der Tasche zu ziehen. Bereiten Sie alles vor. Legen Sie es in die Schublade. Aber warten Sie den richtigen Zeitpunkt ab. Und wenn der erst in drei Jahren ist.“

„Wir haben aber keine Zeit. Zeit ist kostbar. Zeit ist Geld, das hat man auch schon hierzulande gemerkt. Wir müssen in die Praxis gehen, ausprobieren. Wir müssen schulen. Nur so können wir Erfahrungen sammeln.“

„Da spricht ja auch nichts dagegen. Probieren Sie das in Ihrem Arbeitskreis aus. Verlagern sie diese Geschichte eine Zeit lang aus Dasers Gesichtskreis. Arbeiten Sie mit der Computer-Elite daran. In der Breite sollten Sie nicht vorpreschen. Es gibt Widerstände. Manche Mitarbeiter klagen, fühlen sich überfordert. Und möglicherweise ist das auch subjektiv so, weil ja verschiedene Systeme nebeneinander laufen. Die Gefahr ist nur, dass Daser diese Situation ausnützen könnte. Missmut, sobald er sich gegen Sie wenden könnte, lässt er sich sicher nicht entgehen.“

„Wer beklagt sich? Zu mir ist noch niemand gekommen. Ich habe auch von anderen noch nichts gehört. Gibt es konkrete Anlässe?“

„Nein, lieber Admont. Es ist noch nicht so weit. Man darf es nicht soweit kommen lassen. Aber die Zwerge sind unterwegs und geben Stichworte. Und sie warten darauf, dass jemand sie aufnimmt. Das alte Spiel, Sie verstehen. Und wo die Arbeitskräfte heute so selten wie Edelsteine sind, dürfen wir Daser natürlich keinen Vorwand liefern.“

„Sie reden von Überforderung. Inwiefern? Jeder kann seine Überstunden sammeln und dann geballt abbummeln. Das ist doch ein Ausgleich. Wir verlangen doch nichts Unbilliges. Die Schulung nutzt beiden Seiten. Und die Nachfrage nach Schulung ist ungebrochen.“

„Vielleicht ist es auch ein Generationenproblem. Die Jugend ist elastisch und schnell. Sie selbst haben ja das Problem des Konservatismus schon erkannt. Man muss ihn schrittweise überwinden. Ich jedenfalls finde Ihre Idee, einen Mini-Computer-Schein einzuführen ausgezeichnet. Das ist ein Anreiz. Aber sie sollte zum rechten Zeitpunkt kommen, sonst geht sie unter“.

„Sie haben wahrscheinlich recht. Mancher ist schon auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, weil seine guten Ideen zum falschen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit kamen. Ich werde das zunächst im internen Kreis testen. Dann abwarten und danach so kleine Steine ins Wasser werfen, um zu sehen, welche Kreise sie ziehen. Das wäre doch eine Möglichkeit?“

„Hervorragend, lieber Admont. Ich bin so froh, dass ich meinen Nachfolger selbst bestimmen konnte. Und das, obwohl Daser nur auf Akademiker setzt.

Das musste auch von langer Hand und gründlich vorbereitet werden. Nach dem Motto: zwei Schritte vor, einen zurück.“

„Ist es denn nicht immer so, dass die Vorstände ihre Nachfolger wählen oder auch gezielt aufbauen? Das wäre doch eigentlich schon wegen der Kontinuität der Arbeit notwendig.“

„Sicher, das wäre logisch. Aber nicht selbstverständlich. Da sei Daser vor. Ist Ihnen bekannt, wie er Rupp behandelt hat?“

„Nein, er ist ausgeschieden, da war ich im ersten Lehrjahr.“

„Ich kann Ihnen sagen, mir läuft heute noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Eines Tages kommt Rupp in sein Büro, das war ungefähr ein halbes Jahr vor seinem 65. Geburtstag, und findet einen jungen Herrn im Vorzimmer, der ihm erklärt Guten Tag, ich bin Ihr neuer Vorgesetzter. Ich hoffe, wir kommen gut miteinander aus! Und das nach 46 Jahren treuen Diensten in der Bank. Das war auch so ein oberschlauer Akademiker, ein Dr. Neumann. Der hat dann die Probezeit nicht überlebt. Aber Rupp war ein gebrochener Mann. Das ist Daser, Herr Admont. Also, ziehen Sie sich warm an!“

Felix war beeindruckt. Von Daser, aber auch von Sell. Sell war wirklich ein Orientierungspunkt. Was er sagte, war für ihn überlebenswichtig. Er musste vorsichtig agieren und sich klar machen, dass sein Aufstieg für Daser unerträglich war. Irgendwann würde er eine Möglichkeit finden, um ihn zu stoppen. Koste es, was es wolle. Das war sein Denken. Und Felix musste dies einkalkulieren.

Donovan, dem er die Ruppstory zwei Wochen später erzählte, war nicht überrascht. „Diese Geschichten gibt es bei uns täglich. Das amerikanische Big Business ist ein Kriegsschauplatz. Und wenn du nicht aufpasst, wirst du geopfert. Das ist die Realität, Felix. Wir haben weniger Hierarchien, wir haben schnellere Entscheidungswege, wir haben dadurch oft die Nase vorn. Aber, die andere Seite der Medaille ist, dass auch Barrieren fehlen, hinter denen man in Deckung gehen kann, wenn plötzlich aus irgendeiner Ecke Feuer kommt. Vorstände haben hier oft eine kurze Lebenserwartung. Aber es gibt auch Leute wie Sell. An denen kannst du dich hochziehen, die setzen auf dich und setzen dich durch. Das ist unerlässlich, das gehört zu dem Quäntchen Glück, das man braucht, um nach oben zu kommen. Wie lange man oben bleibt, ist dann wieder eine andere Frage. Die Luft ist extrem dünn, und du musst sehen, dass du potenzielle Gegner wieder ausschaltest, sonst bist du dran. Das ist das Gesetz, Felix.“

„Na, ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll. Bei uns wird noch nicht in jedem Fall gleich geschossen. Aber Daser ist bestimmt kein Einzelfall. Und wenn ich mir den Dr. Rose vorstelle, der ist möglicherweise auch von diesem Kaliber.“

„Wie lange bist du jetzt dabei? Im Vorstand?“

„Fast ein Jahr. In wenigen Monaten wird Sell 65. Dann wird es irgendwann soweit sein. Warum fragst du?“

„Ich glaube, das ist noch eine zu kurze Zeit, um hinter die Visiere zu schauen. Ich bin jetzt vier Jahre dabei. Und es gibt immer wieder Überraschungen, wer mit wem Allianzen eingeht oder sich neu bekämpft.“

Felix hatte noch nicht den Hörer auf der Gabel, als Frau Binder schon im Zimmer stand. „Sie haben in drei Minuten Ihren Termin bei Herrn Carwitz!“ Verflucht! Das hatte Felix glatt vergessen. Dabei legte Carwitz allergrößten Wert auf Pünktlichkeit. Da war er überaus penibel, der Herr Generaldirektor, der Vorstandssitzungen, Pressekonferenzen und die Jahreshauptversammlung schon ein Jahr im Voraus festlegte und die Pläne an die Vorstandsmitglieder verteilen ließ. Wie ein geschickter Choreograph inszenierte er schon weit im Voraus die vorgeschriebenen Rituale.

Felix hastete nach oben und wäre unterwegs beinahe mit Daser zusammengestoßen. Wenn man an den Teufel denkt... Fräulein Sindermann beruhigte: „Er telefoniert noch.“

Gut, so konnte er nochmals seine Gedanken sortieren und Souveränität zurückgewinnen. Carwitz war ein Mann, der ihm Respekt abnötigte. Auch wenn ihn der Spleen mit der Überpünktlichkeit auf ein menschliches Mittelmaß zu stutzen schien. Er war kompetent. Er war auch eigenständig in seinen Entscheidungen. Und ihm hatte bisher noch niemand hineingefunkt.

„Herr Admont, bitte“, Carwitz' Stimme wirkte etwas verzerrt durch die Sprechanlage. ,,Und keine Störung!“

Der Kapitän, verantwortlich für das Bankenschiff, hatte sich eine Pfeife angesteckt. Ein VIP, kein Zweifel. Aber die vielen kleinen Fältchen um die grau-blauen Augen gaben seinem Blick etwas Menschliches. Seine Augen blickten ernst und ruhig.

„Nun, Herr Admont, wir haben nur eine Viertelstunde. Worum handelt es sich?“

„Es geht um die Umsetzung des Projektes Mini-Computer. Wir kommen jetzt langsam in die Praxisphase. Wenn wir horrende Kosten bei der Einführung vermeiden wollen, müssen wir jetzt an die Personalentwicklung denken. Das ist eine langfristige Aufgabe, denn es wird ein radikales Umdenken verlangt. Es geht ja nicht mehr nur um Eingabe, es geht um Dialog mit dem Computer.“ „Sie wissen ja, ich verstehe nichts davon. Ich gebe auch ehrlich zu, dass mir der Wille fehlt, mich in die Materie einzuarbeiten. Worauf wollen Sie hinaus? Soll eine neue Arbeitsgruppe gegründet werden?“

„Die arbeitet ja kontinuierlich weiter. Und ist auch bei der Mini-Computereinführung unentbehrlich. Ich wollte eine neue Idee in unser Schulungssystem integrieren: Kompakte Seminare über wenigstens zwei Wochen mit Trockenübungen am Computer für die Praxis. Danach gibt es eine Prüfung und einen Computer-Führerschein. Es geht aber nicht nur um Schulung, auch die Freizeit sollte besonders gestaltet sein. Unterhaltung, Sport, Kultur, Ausflüge, Wettbewerbe. Die ganze Sache sollte so aufgezogen werden, dass sich die Mitarbeiter darum reißen, mitkommen zu dürfen.“

„Das wird nicht billig, warum die Investition?“

„Es wird sich für uns auszahlen. Die Computerisierung wird enorme Umstellungen bringen. Und Rationalisierungseffekte. Wenn wir das alles möglichst reibungslos etablieren wollen, brauchen wir Mitarbeiter, die mitziehen. Wenn wir die Anforderungen verbinden mit einer Auszeichnung, dann könnte das gelingen.“

„Wie haben Sie sich das konkret gedacht?“

„Wir suchen ein spezielles Hotel, vielleicht in den Alpen oder an der Nordsee, das die Räumlichkeiten zur Verfügung hat. Wir entwerfen ein Schulungs- und ein Freizeitprogramm und wir machen Werbung im Haus dafür. So schaffen wir die Antriebskraft, die wir für die Etablierung der Mini-Computer brauchen.“

„Klingt nicht schlecht. Haben Sie das mit Herrn Daser abgesprochen, die Kosten ausgerechnet?“

„Noch nicht, ich wollte zuerst Ihre grundsätzliche Zustimmung, bevor ich damit weiter an die Öffentlichkeit gehe. Als nächstes spreche ich mit Herrn Daser.“

„Gut, Sie stellen das Ganze dann auf der nächsten Vorstandssitzung vor. Und die Kostenseite nicht vergessen.“

Felix war erleichtert. Nach dem Gespräch mit Sell hatte er tagelang über das Problem der Akzeptanz nachgedacht. Er konnte nicht drei Jahre warten, um dann neu anzusetzen. Es musste einen Weg geben, das Misstrauen der Belegschaft gegen die Veränderungen umzulenken. Auf der Suche nach der Lösung war ihm ein Artikel in einer amerikanisches Wirtschaftszeitung aufgefallen, der sich mit betrieblicher Menschenführung beschäftigte. Human relations war ein Zauberwort in Amerika.

Es ging darum, die Freiwilligkeit und das Verantwortungsgefühl der Mitarbeiter zu stärken. Nur der glückliche und zufriedene Mitarbeiter ist auch ein guter und tüchtiger Mitarbeiter, so der Kern der Aussage. Wie war das mit dem Wettbewerbsgedanken zu verbinden? So hatte sich aus der Gedankenskizze allmählich der Plan entwickelt, den er jetzt auch Daser vortrug.

„Generaldirektor Carwitz kennt Ihre Überlegungen?“ war Dasers erste Frage. „In groben Zügen. Ich bin erst in der Entwicklungsphase.“

„Mir ist die Umsetzung noch nicht klar. Wenn Sie die Kosten ermitteln, ist ja auch zu berücksichtigen, dass die Mitarbeiter zwei Wochen nicht am Arbeitsplatz sind. Wir brauchen Ersatz, den es nicht gibt auf dem Arbeitsmarkt. Oder es gibt Unzufriedenheiten, weil die Kollegen dann Überstunden machen müssen. Sie haben dafür sicher eine Lösung?“

„Ich denke, wir müssen beim Kopf anfangen. Es geht zunächst um die Abteilungsleiterebene. Die braucht natürlich eine andere Ansprache als später die Sachbearbeiterebene. Bei den Abteilungsleitern gehe ich einfach davon aus, dass die Stellvertreter das übernehmen. Unaufschiebbare Entscheidungen können auch mal per Telefon getroffen werden. Bei den Sachbearbeitern, da gebe ich Ihnen recht. Wir müssen dafür sorgen, dass der Bankbetrieb reibungslos weiterläuft. Es darf kein böses Blut geben. Das ist eine gute Anregung. Gut, dass wir jetzt schon darüber gesprochen haben. Ich werde sie bei der konkreten Ausarbeitung meines Planes berücksichtigen.“

Felix bewegte sich bei den Daser-Gesprächen immer vorsichtig und ausgesucht höflich. Er fühlte sich auf dünnem Eis, aber er gab sich keine Blöße. Das Bemühen, den Zwergen keinen Anlass zu liefern, zu Giftzwergen zu werden, war mit vielen Anstrengungen verbunden. Denn er musste versuchen, sich auch in den Gehirnwindungen seines Gegners auszukennen. So war es sein Bestreben, nach Möglichkeit nie direkt neben Daser zu stehen, um dann im Gespräch auf ihn herabzublicken. Wenn sich beide in Dasers Büro gegenübersaßen, war ein Gespräch in Augenhöhe möglich, da Daser einen verstellbaren Drehstuhl benutzte, der ihn hinter dem Schreibtisch größer erscheinen ließ. Was würde er wohl dafür geben, wenn es möglich wäre, seine Körpergröße zu verändern, dachte Felix. Was wäre möglicherweise aus diesem Zwerg geworden, wenn er sich nicht so erniedrigt gefühlt hätte? Immerhin hatte er es mit seinen Intrigen bis in die Vorstandsetage gebracht. Und ich habe jetzt unter den Kompensationsversuchen zu leiden.

Sells Abschied nahte. Auch er hatte, zog man die Kriegsjahre ab, fast 40 Jahre in der Bank zugebracht. Auch er kam aus einem guten Stall der Oberschicht. Schon der Großvater war Bankier gewesen, der Vater hatte sich als Wirtschaftsprofessor einen Namen gemacht. Aber er wurde nicht verweichlicht. Er arbeitete viel, verstand es aber auch zu genießen. Allerdings gingen die Freizeitaktivitäten immer eher von Frau Sell aus, die ihren Mann dann aus der Vorstandsetage loseisen musste.

Auch seinen Abgang organisierte der Vorstand für die Organisation perfekt. Ein Sektfrühstück für den Stab, einen Empfang für die Etage, einen Brief an die lieben Mitarbeiter und ein außerordentliches Vorstandsessen im Frankfurter Hof, das waren die Stationen des Abschieds, die sich auf mehrere Wochen verteilten. Und immer musste Felix neben ihm stehen, wenn er die Hände schüttelte. Er freute sich sichtlich, dass er bei der Auswahl seines Nachfolgers eine so glückliche Hand bewiesen hatte.

Zum Empfang war die Elite der Frankfurter Bankenwelt und Versicherungswelt vorgefahren. Geldadel verpflichtet. Auch die Vertreter der Großkunden nippten am Champagner. Felix kannte nun alle, wusste über finanzielle Transaktionen und komplizierte Geschäfte Bescheid. Der Banken-Dschungel hatte sich längst gelichtet. Er war bekannt, und er kannte fast die gesamte Geld- und die Politikelite, die leider nicht immer aus den fähigsten Leuten bestand. Auch EL traf er an diesem Abend wieder. Er hatte vorzeitig eine Glatze bekommen, aber sonst schien er sich kaum verändert zu haben. Felix hatte er überschwänglich begrüßt und ihm auf die Schulter geklopft.

„Man hört ja viel von dir, du hast dich ja richtig eingefuchst in die Computergeschichte. Gratuliere!“

„Danke“, antwortete Felix und lächelte geschäftsmäßig freundlich. ,,Habt ihr Euch schon mit der Rechnerentwicklung befasst?“

„Da bin ich überfragt. Du weißt ja, ich beschäftige mich nur mit den Bilanzen!“

Felix lachte und war froh, dass die Konversation damit beendet war. Man musste Kreide fressen beim Gespräch mit diesen Wölfen. Das hatte er schon im ersten Jahr durch Vogt gelernt. EL war ja keine Ausnahme, wenn er auch bemerkenswert einfältig war.

Zum vorstandsinternen Abschiedsessen im Frankfurter Hof wurde Felix neben Daser platziert. Das war Zufall, und beide waren wahrscheinlich nicht begeistert. Aber man ließ es sich nicht anmerken. Daser hatte wieder den Platz neben Carwitz. Schade, dachte Felix, dass so die Köstlichkeiten ein ganz klein wenig vergiftet schmecken: Trüffel aus Alba im Piemont zum Beispiel und Kaviar auf Wachtelei und als zweite Vorspeise Gänseleberparfait mit Sauternesgelee und Seeteufel in Rotweinbutter.

„Wunderbar, und was kommt jetzt als Hauptgericht?“ scherzte Seidel, das für die Revision zuständige Vorstandsmitglied, das ihm gegenüber saß. Seidel war ein Genießer, ein Gourmet, der in den fetten Nachkriegsjahren Ringe angelegt hatte. Was aber seine Anziehungskraft auf Frauen nicht schmälerte, im Gegenteil. Es wurde kolportiert, dass er bei Baby-Pute in Estragon mit grünem Spargel seiner dritten Frau den Heiratsantrag gemacht hatte. Und bei Quarksouffle auf Himbeermark hat sie wohl ausgerechnet, dass dies ein gutes Geschäft ist, denn sie ist immerhin zwölf Jahre jünger als er. Seit dem wurde Seidel ständig beleibter und seine Frau immer dünner. Was das wohl zu bedeuten hatte?

Tratsch und Klatsch, alberne Spekulationen, gab es auch in der Luxusetage der Gesellschaft. Anders Esch. Das für die Innenbetriebe zuständige Vorstandsmitglied war rank und schlank geblieben. Er hatte seine Assistentin geheiratet, die er ein Jahr zuvor in einem Flugzeug kennengelernt und vom Fleck weg engagiert hatte. Das hatte für beträchtliche Aufregung gesorgt. Denn die Assistentenposition war besetzt. Dort saß ein fähiger Mitarbeiter, der aus der Abteilung Großkredite aufgestiegen war. Esch hatte ganz bewusst einen Mann herangezogen. Er war ein überzeugter Junggeselle, wie er gelegentlich lautstark verkündete. Sehr zum Leidwesen der Weiblichkeit verstand er es, ihren Netzen zu entgehen. Mit dem etwas plötzlichen Erscheinen der jungen, gutaussehenden Assistentin war das Image dahin. Die unhaltbare Situation musste schließlich durch eine große Hochzeit gerettet werden.

Inzwischen produzierte das Ehepaar fast jährlich Nachwuchs. Esch, mit Mitte 50, war nun ein glücklicher und überzeugter Familienvater, so wie er jahrelang der überzeugte Junggeselle gewesen war. In der Vorstandsriege pflegte er das Image eines Weinkenners. Aber es mussten schon besondere Weine sein. Ein Chateau Mouton Rothschild oder Chateau Haut-Brion und der leichte Saint Saphorin aus der Schweiz waren seine Lieblingsweine, die seinen Keller und so manches Gespräch füllen konnte. Keiner konnte auch geschickter das Weintrinken hochstilisieren „Ich habe zum Wein eine geistige Beziehung“, war eines der beliebten Esch-Worte.

Wenig wusste man von Carwitz' Privatleben. Er war Witwer, und nach dem Tod seiner Frau wurde an seiner Seite niemand gesehen. War es vorstellbar, dass der ,,Erpel“ monogam lebte? Und Gerüchte gab es auch nicht. In dieser Beziehung verstand er sich auf Diskretion. Zur Carwitz-Familie gehörte noch eine Tochter. Felix kannte noch nicht einmal ihren Namen.

Auch über Dasers Privatleben wusste man sehr wenig. Angeblich sollte der 48-Jährige drei Leidenschaften haben: Golf, die Jagd und seinen Porsche. Zum Essen war er mit einem anthrazitgrauen Porsche vorgefahren. Das hat er mit EL gemeinsam, dachte Felix. Wahrscheinlich hat er sich noch ein Sitzkissen einbauen lassen. Daser übte sich gerade im name dropping, jenes lässige, scheinbar beiläufig vertraute Fallenlassen großer Namen. Natürlich kannte er Pablo Cassals und hatte schon mit Karajan gespeist und die Vockes hatten angeblich keine Gartenparty in seinem Hause ausgelassen.

Beim Cognac in der Kaminrunde konnte Felix die Sitzordnung ändern und neben Sell Platz nehmen. Sell, der Maßvolle, der gut und lange verheiratet ist, gerne mäßig isst und sehr mäßig trinkt und so keinen Anlass für Tratsch lieferte. Mit seinen 65 Jahren war er geistig und körperlich topfit. ,,Gibt es da ein Rezept?“

„Immer so viel Ärger wie nötig und so viel Arbeit wie möglich, lieber Admont. Und was die Arbeit betrifft, so bin ich auf bescheidene Weise anspruchsvoll. Arbeit ist nicht Selbstzweck, sie musste immer auch Herausforderung sein. Auch den Auseinandersetzungen bin ich nicht ausgewichen, wenn ich sie gewinnen konnte. Das hält fit.“

„Aber Sie gelten nicht als streitlustig, eher als konziliant.“

„Stark in der Sache, mild in der Form, das ist meine Devise.“

„Ich bin ihnen für ihre milde Form, für Ihre Förderung und die Anforderungen sehr dankbar. Sie haben für mich die Weichen gestellt, Herr Sell, und auch so manchen Zug umgelenkt, so dass es nicht zur Kollision kam.“

„Felix, ich sage heute Felix zu Ihnen, denn es ist mein letzter Arbeitstag und ich war ausnahmsweise beim Trinken nicht so mäßig wie sonst. Felix, ich glaube, Sie werden ihren Weg weiter gehen. Auch ohne Weichensteller. Sie kennen jetzt die Steine, und Sie erahnen die Fallen. Probleme sind da, um an ihnen zu wachsen, auch so eine Weisheit von mir an diesem letzten Tag.“

„Aber es wird neue Probleme geben. Die Expansion will ja gründlich geplant sein, mit den Mini-Computern sind wir ja wieder am Anfang einer neuen Entwicklung. So wird das immer weitergehen. Vielleicht bis die erste Krise kommt.“

„Sind Sie pessimistisch? Die Konjunkturdaten zeigen nach oben, auch wenn es mal kleine Schwankungen gibt. Es ging doch in den letzten Jahren immer aufwärts. Das Feld ist bestellt, die Zuwachsraten schwindelerregend.“

„Ja, aber man darf nicht leichtsinnig werden. Die Aufgaben wachsen ja auch in ungeheurem Umfang. Und die Ansprüche. Ich kann mich da nicht ausnehmen. Ich komme heute auch nicht mehr mit einem VW-Käfer in die Bank.“

„Na, das wäre ja noch schöner. Jetzt, wo Sie für die gesamte Organisation gerade stehen müssen. Sie müssen auch repräsentieren. Aber auch da hinterlasse ich Ihnen ja einen guten Garten. Frau Sindermann wird ihn beackern, und die Zusammenarbeit mit Frau Binder war schon immer reibungslos. Wenn das Sekretariat funktioniert, ist der Rücken frei für große Aufgaben. Und wenn Sie gelegentlich einen Rat brauchen, Felix, ich helfe ihnen gerne. Was die Bank angeht, da bin ich überaus optimistisch. Eine gut geführte Bank ist wie ein Goldesel. Man muss nur aufpassen, dass man im Gold nicht erstickt.“

Am nächsten Abend saß Felix zum ersten Mal an Sells Schreibtisch in seinem neuen Büro. Er blickte über die Glitzerstadt, die jetzt oft Bankfurt genannt wurde. Er, der Junge aus dem Dorf, hatte sich ganz oben etabliert. Schaute er zurück, so war der Weg an die Spitze alles in allem doch relativ gradlinig gewählt. Er hatte sehr schwer gearbeitet, er hatte aber auch das unbedingt notwendige Quäntchen Glück gehabt. Schaute er nach vorne, so ging es darum, das Erreichte abzusichern und die nächsten Schritte behutsam vorzubereiten.

An seinem neuen Büro wollte er vorerst nur wenig ändern. Er musste in Ruhe seinen Stil finden. Das Ansehen der Bank, die Position ließ keine Eskapaden zu. Ich werde die Bank von innen her verändern, dachte Felix. Die Mikro-Elektronik würde alle Bereiche umfassen und alle Fähigkeiten der Menschen ansprechen: Wissen und Können genauso wie Phantasie und Mut. Hoffentlich bleibe ich schwindelfrei, wünschte er sich und griff zum Hörer, um seinem Freund Donovan von den Abschiedsfeierlichkeiten zu berichten.

Karriere und Liebe

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