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KAPITEL 9 Montag, 15. Juni 1874, 11:00 Uhr St Thomas’ Hospital

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Der Schmerz kam in Wellen und ließ den ausgemergelten Körper wieder und wieder von Kopf bis Fuß erzittern. Die bläulichen Lippen der Patientin waren kaum mehr als ein Strich. Trotz der Hitze reichte das weiße Laken bis unter ihre Kinnspitze. Sie wollte es so. Sie hatte ihren Körper verbergen wollen. Nicht wegen ihr, es war wegen der Männer. »Es ist mein Körper«, hatte sie vor Stunden geflüstert, »er gehört nur mir. Die Männer sollen weggehen.« Aber es gab hier keine Männer. Alessa wusste, dass das alles im Kopf von Gladys war. Ihrer Patientin zuliebe hatte sie auch die Vorhänge zugezogen, der Raum lag im Halbdunkel. Es war still. Die Welt draußen, sie war weit weg.

›Schaffst du es allein?‹

›Ich denke, ja.‹

›Du rufst mich, wenn du merkst, dass du der Sache nicht gewachsen bist.‹

›Das mache ich.‹

Florences Worte gingen ihr durch den Kopf. Schaffte sie es wirklich? Oft schon hatte sie Sterbende begleitet, aber bisher nie allein. Heute hatte niemand Zeit. Es hatte einen Kutschenunfall auf der Kensington Road gegeben. Auf der dicht befahrenen Straße war es infolgedessen zu einer Massenkarambolage gekommen: Insgesamt sechs Kutschen waren ineinander gefahren. Alessa wusste nicht, wie viele Verletzte ins St Thomas’ Hospital gebracht worden waren. Sie hatte bloß mitbekommen, dass in der Aufnahme ein großes Chaos herrschte. Sie strich über Gladys’ Hand. Eine Hand aus Haut und Knochen. Sie wusste, dass Gladys immer weniger wahrnahm, immer weniger spürte. Sie reagierte kaum noch auf ihre Berührungen. Die Reizschwelle sank, ein Zeichen, dass es zu Ende ging.

Gladys Temple war erst Anfang dreißig. Alessa strich ihr eine Strähne aus der glühend heißen Stirn. Die Frau entspannte sich unter Alessas Berührung.

»Es ist so gut, dass du da bist, Tom. Du bleibst doch, oder?«

»Ich bleibe bei dir. Ich bin da.«

»Gut. Ich fühle mich besser, wenn du da bist.«

Alessa griff nach einem frischen Tuch, tauchte es in die Schüssel mit kaltem Wasser und wusch ihr die Stirn. Es war in Ordnung, dass sie vorgab, Tom, Gladys’ verstorbener Ehemann, zu sein – alles war gut, solange es Gladys half. Danach schlief Gladys ein und Alessa glaubte schon, dass sie nicht mehr aufwachen würde. Aber dann rekelte sie sich plötzlich wieder unter der Decke und versuchte sogar, sich aufzurichten, was ihr aber nicht gelang. »Die Kinder …«, sie sah Alessa direkt an, »die Kinder sind bei Eleonore, ja? Sie passt doch auf die Kinder auf, ja?«

Alessa schluckte. Es fiel ihr schwer, zu lügen, wenn die Frau sie ansah. »Die Kinder sind bei Eleonore. Es geht ihnen gut, Gladys.«

Gladys sank erschöpft zurück. Die Augen öffnete sie nicht mehr. Von Zeit zu Zeit zuckte ihr Körper. Nur noch ein einziges Mal sprach sie. Es war ein leises Wimmern, aber Alessa verstand sehr gut, was sie sagte. »Mama, komm.«

Die Kapelle des St Thomas’ Hospital befand sich im Ostflügel des Hauses. Es war ein schlichter Raum mit einem kleinen Altar und einigen wenigen Stühlen darin. Gedämpftes Licht fiel durch die bunten Fensterscheiben. Florence war eine zutiefst gläubige Frau. Sie hatte Wert daraufgelegt, dass die Kapelle jederzeit für jeden zugänglich war, egal ob Arzt, Krankenschwester, Patient oder Besucher. Tatsächlich wurde der Raum regelmäßig morgens vor Dienstantritt von den Schwestern genutzt, die ihren Tag mit einem stillen Gebet begannen. Tagsüber oder abends suchten vereinzelt Patienten und Besucher die Kapelle auf. Hin und wieder fand sich sogar mitten in der Nacht die eine oder andere Schwester hier ein. Oder einer der Ärzte.

Alessa war gekommen, um für Gladys zu beten. Den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, bewegte sie ihre Lippen im stummen Gebet. Eigentlich war sie nicht gläubig. Sie war hier, weil es ruhig war. Hier konnte sie sich am besten beruhigen und nachdenken. Weil sie allein in der Kapelle war, störte es sie auch nicht, dass Tränen ihre Wangen hinunterrannen. Gladys war letzte Woche mit starken Unterleibsblutungen ins Hospital gebracht worden. Alessa war bei ihrer Aufnahme dabei gewesen. Gladys war unsachgemäß untersucht worden – keine Seltenheit, seitdem es die Erlasse zur Bekämpfung ansteckender Krankheiten gab, die Contagious Diseases Acts. Die Gesetze, die die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten durch Prostituierte eindämmen sollten, hatten schon einigen Frauen das Leben gekostet. Die Instrumente des Arztes waren laut Gladys völlig verschmutzt gewesen. Außerdem habe er diese grob in sie hineingestoßen. Der Arzt habe gelacht, als sie aufschrien hatte. ›Ich habe doch gesehen, dass es ihm Spaß gemacht hat!, hatte sie gesagt. Als sei dies alles nicht schlimm genug, hätten während der Untersuchung Dockarbeiter – das Ganze war an den Docks passiert – durch die Fenster des Lagerhauses gegafft. Gladys hatte ihren Mann Tom letztes Jahr verloren, seitdem war sie mit fünf Kindern auf sich gestellt. Sie hatte die letzten zehn Jahre in einer Baumwollfabrik gearbeitet und sich eine Baumwolllunge zugezogen. Bald schon hatte sie nicht mehr arbeiten gehen können. Als einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, blieb, sich zu prostituieren. Hierbei hatte sie sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen, wie man bei der Untersuchung an den Docks festgestellt hatte. Aber es war nicht die Geschlechtskrankheit, an der sie gestorben war. Man hatte sie bei der Untersuchung verletzt und sie hatte sich infolgedessen eine Infektion zugezogen. Sie kam ins Krankenhaus, ihre Kinder zu ihrer Schwester Eleonore, die selbst drei Kinder hatte und knapp bei Kasse war. Eleonores Mann versoff das meiste seines Arbeitslohnes. Vor ein paar Tagen hatte diese sich an Alessa gewandt. »Ich kann die Kinder nicht behalten. Es geht nicht. Gladys hat bisher immer Geld mitgebracht, da ging es noch einigermaßen. Aber jetzt geht es gar nicht mehr.« Also hatte Eleonore die Kinder ihrer Schwester vor zwei Tagen in ein Heim gebracht. Und Gladys war in dem Glauben gestorben, dass ihre Kinder bei ihrer Schwester versorgt würden! Wut wallte in Alessa auf, grenzenlose Wut. Gladys’ Schicksal war kein Einzelfall. Das Elend musste gestoppt werden. Es brauchte ein Netz, das Frauen wie Gladys auffing. Wie aber sollte das vonstattengehen? Die Gesetze wurden von Männern gemacht – für Männer! Natürlich gab es Frauen, die für andere Frauen eintraten. Florence und Josephine Butler beispielsweise, die für die Abschaffung der Contagious Diseases Acts kämpften. Für Gladys Temple hatte es jedenfalls keine Hilfe gegeben. Unentwegt liefen die Tränen ihre Wangen hinunter. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche hervor und schnäuzte sich. In diesem Moment wurde die Tür der Kapelle geöffnet. Es war Mark Filton, der Assistenzarzt. Er wirkte verstört, und als er sie sah, schien er einen Moment zu überlegen, ob er hineinkommen sollte. Schließlich entschied er sich dafür. Er trat lautlos ein und setzte sich unweit von ihr auf einen Stuhl. Sie schielte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Filton war noch sehr jung. Er war ein hübscher Mann, mit aschblonden Haaren und blauen Augen. Seine Haut war ganz zart. Er wirkte überhaupt sehr fragil. Seine Augen glänzten, als habe er Fieber. Ohne Grund war er sicher nicht hierhergekommen.

»Waren Sie bei dem Kaiserschnitt dabei?«, fragte er in die Stille des Raumes hinein, ohne sie anzusehen.

»Nein. Ich war bei Gladys Temple. Sie ist gerade gestorben.«

Filtons Wangenmuskeln spannten sich an. Er hatte Gladys in dieser Woche mehrfach untersucht, kannte sie. Eine Weile saßen sie da und sagten nichts. »Man hat also einen Kaiserschnitt gemacht bei Mrs. Thornsby?«, nahm Alessa den Faden wieder auf.

»Das hatte man vor. Ich habe es nur nebenbei gehört.« Filton begann unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen, dann sprudelten die Worte plötzlich aus ihm hervor: »Ich habe den Kutscher nicht retten können … es war …« Er schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte leise auf. Alessa erhob sich und setzte sich zu ihm. Sie wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte. Mark nahm schließlich die Hände hinunter und sah sie an. Seine Augen waren stark gerötet. »Ich habe mich so hilflos gefühlt.« Er atmete lautlos durch die geöffneten Lippen, sein Blick schien durch Alessa hindurchzusehen ins Nichts.

»Das kann ich verstehen, so erging es mir eben auch bei Gladys«, versuchte Alessa ihn aufzufangen.

Filton sah sie direkt an. Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Schließlich räusperte er sich. »Als ich Sie hier sitzen sah, dachte ich, Sie wären bei diesem Kaiserschnitt dabei gewesen und es sei etwas Schlimmes passiert. Das letzte Mal, als Sie bei einem Kaiserschnitt dabei waren, sahen Sie aus, als hätten sie den leibhaftigen Tod vor sich. Und das Mal davor sind Sie sogar fortgelaufen.«

Sie schlug die Augen nieder. »Meine Mutter starb bei einem Kaiserschnitt.« Sie schluckte. Nie zuvor hatte sie im Krankenhaus mit jemandem darüber gesprochen. »Mein Bruder hat es ebenfalls nicht überlebt.«

Marks Blick ruhte unverwandt auf ihr. Sie konnte nichts dagegen tun, Tränen rannen erneut ihre Wangen hinunter. Mark legte seine Hand sanft auf die ihre. Sie ließ es geschehen, denn es fühlte sich gut an. »Ich finde Sie unglaublich tapfer, Ms. Arlington.«

Sie versuchte zu lächeln. »Nicht wirklich …«

»Möchten Sie mit mir darüber sprechen?«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

Filton drückte ihre Hand. Das Geräusch von Schritten im Flur war zu vernehmen, entfernte sich dann aber wieder.

»An dem Tag, an dem meine Mutter starb, zog mein Vater sich in die Bibliothek zurück.«

Es war ihr, als wollten die Worte einfach heraus, als könne sie gar nichts dagegen tun. »Er verlangte, dass niemand ihn stören möge. Im Haus herrschte völlige Stille. Der Arzt war gegangen und das Personal hatte sich zurückgezogen. Durch den Türspalt zur Bibliothek sah ich, dass mein Vater an seinem Schreibtisch saß und weinte. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen und es war … beängstigend …« Sie holte Luft. »Niemand merkte, dass ich das Zimmer, in dem meine Mutter lag, aufsuchte.« Alessa wurde ganz heiß. Es kam ihr seltsam vor, dass sie mit Mark Filton darüber sprach – sie hatte sich doch geschworen, mit niemandem darüber zu reden. Warum tat sie es nun? Zudem kannte sie Mark Filton doch kaum. Oder lag es gerade daran? Sie holte erneut Luft, bevor sie weitersprach. »Ich vergesse niemals, wie sie aussah.« Marks Hand lag noch immer fest auf der ihren. Die Wärme, die von ihm ausging, tat ihr unendlich gut. »Simone, das Dienstmädchen, fand mich bei ihr. Sie hat mich auf mein Zimmer geführt und hat in dieser Nacht bei mir geschlafen. Als ich ihr sagte:›Ich frage mich, wohin meine Mutter und mein Bruder gegangen sind‹, antwortete sie mir: ›Vielleicht hat sie ein Engel an die Hand genommen.‹«

Mark Filton lächelte. Alessa fühlte sich seltsam erleichtert. Das hatte sie nicht erwartet.

»Das ist ein schönes Bild mit diesem Engel … Ich würde das auch gern glauben. Es würde so vieles erleichtern. Ich … ich wünschte, ich könnte mir alles, was mein Herz erschwert, von der Seele reden wie Sie …«

»Warum tun Sie es nicht einfach?«

Er schüttelte energisch den Kopf. »Das … das ist unmöglich …«

Die Tür wurde unversehens geöffnet. John Croft steckte den Kopf zu ihnen herein und sah sie beide erstaunt an. Sein Blick blieb auf ihren Händen haften.

»Ah, hier bist du, Mark. Du wirst gebraucht. Mr. Kronsberg ist bereit für die Amputation.«

Mark löste die Hand von der ihren und stand auf. »Ich komme«, sagte er, John Croft zugewandt.

Nachdem Filton gegangen war, trat John Croft in den Raum. Er setzte sich neben sie und sein wunderbarer, wohlvertrauter Geruch umfing sie. »Alessa, ich habe gehört, du warst gestern im Haus und hast dich nach mir erkundigt. Ich wollte fragen, ob das einen bestimmten Grund hatte …«

Alessa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Ich war hier, um einige Akten zu studieren. Ich hatte nur interessehalber gefragt, ob du da seiest.«

John Croft sah sie intensiv an. Es schien ihr, als sei für ihn die Frage unbeantwortet geblieben, aber er drang diesbezüglich nicht weiter in sie. »Warum bist du hier?«

»Eine Patientin ist gestorben. Ich wollte kurz Luft holen. Es geht mir soweit gut.«

»Wirklich?«

»Ja.« Sie stand auf und verabschiedete sich von ihm.

Alessa steuerte ihr Büro an. Sie war wütend. Vor wenigen Tagen noch hätte sie sich über diesen Blick, den er auf Mark Filtons Hand auf ihrer geworfen hatte, gefreut. Dieser Blick, aus dem sie Eifersucht zu lesen gemeint hatte. Jetzt war sie nur verwundert gewesen, nicht mehr. Ihre Gefühle für John waren einfach nicht mehr da, so unfassbar das auch war. Und Ryon Buchanan war fort! Die halbe Nacht hatte sie seinetwegen wachgelegen. Ihr war klargeworden, dass es sie weniger wegen des Schlüssels an die Docks getrieben hatte – da hatte sie sich selbst etwas vormachen wollen. Eigentlich hatte sie sich Ryons Schiff ansehen wollen, das ihr Onkel in den höchsten Tönen gelobt hatte. Und dann war sie unerwartet Zeugin geworden, wie das Schiff abgelegt hatte! Es hatte geschmerzt, mehr als sie ertragen konnte. Sie hatte sich gedemütigt gefühlt. Er hatte beim Ball nicht ein einziges Wort darüber verlauten lassen, dass er am nächsten Tag abreisen würde. Eigentlich war sie davon ausgegangen, dass er zur Beerdigung seines Vaters bleiben würde, aber offensichtlich hatte er eine andere Entscheidung getroffen. Sie wusste gar nicht, worüber sie mehr empört war: darüber, dass er nichts über seine Abreise gesagt hatte, oder darüber, dass sie sich in einen Mann, der sich so verhielt, verliebt hatte.

Gegen die Spielregeln

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