Читать книгу Gegen die Spielregeln - Philea Baker - Страница 8

KAPITEL 3 Samstag, 13. Juni 1874, 20:00 Uhr Claridge’s

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Der 14. Ball des Lloyd’s Register of Shipping fand wie jedes Jahr im Claridge’s statt. Das berühmte Hotel in Mayfair bot alles, was für dieses Ereignis vonnöten war: die richtige Lage sowie luxuriös ausgestattete, architektonisch beeindruckende und ausreichend große Räume für rund dreihundert Gäste. Alessa kannte das Claridge’s gut, da sie ihren Onkel und ihre Tante bereits zum dritten Mal begleitete. Es war einer der letzten Bälle in London, bevor die Saison sich dem Ende zuneigte. Alles, was Rang und Namen besaß, verschwand die Sommermonate über in die See-Regionen nach Bath, Clacton-on-Sea und andere renommierte Kurorte. Die Stadt war bereits jetzt angenehm leergefegt, wie Alessa es spitzbübisch auszudrücken pflegte.

Der Ball hatte einen völlig anderen Charakter als alle anderen Bälle. Mitarbeiter des Lloyd’s Register, Schiffseigentümer, Schiffsoffiziere und Kapitäne, Ingenieure, Investoren, Versicherer, schlicht alle, die mit Schiffen zu tun hatten, trafen sich hier. Die Veranstaltung wurde von Männern dominiert, und diese waren nicht etwa aufgrund ihrer Abstammung hier, sondern aufgrund ihres Könnens. Diese Tatsache und der Umstand, dass sie aus den unterschiedlichsten Teilen der Welt kamen, fesselten Alessa. Sie interessierte sich für fremde Sitten und Gebräuche, für all die fernen Länder, deren Namen in ihren Ohren bisweilen so seltsam klangen, als handle es sich um fiktive Welten. Ein weiterer Grund, warum Alessa diesen Ball liebte, war, dass ihre Stiefmutter Fiodora bei dieser speziellen Veranstaltung nie zugegen war. Auch wenn Richard Bridgetown seine Schwester immer wieder einlud, sagte sie jedes Mal ab. Das viele Gerede über Schiffe, das Meer und ferne Länder langweile sie: »Was ist an einem Schiff so besonders? Es schwimmt auf dem Wasser wie jedes andere Stück Holz auch!« und »Was interessiert mich die Unkultiviertheit anderer Länder? Sieh sie dir doch alle nur an, Richard: Sie kommen nach London! Hier spielt die Musik!« waren ihre Kommentare. Außerdem waren ihr die Gattinnen der Kapitäne oder Ingenieure, sofern vorhanden, zu simpel. »In dieser Gesellschaft, lieber Bruder, bin ich sicherlich völlig fehl am Platz.«

Darin steckte tatsächlich ein Fünkchen Wahrheit.

Als Alessa mit ihrem Onkel und ihrer Tante den weitläufigen Eingangsbereich des Claridge’s betrat, war es kurz nach acht Uhr. Obwohl sie all das kannte, verschlug es ihr wieder den Atem. Der Raum erstrahlte in goldgelbem Glanz. Gewaltige Kronleuchter glitzerten von der Decke und ihr Licht sprühte einen Reigen schillernder Punkte auf die Wände und den schwarz-weiß gefliesten Boden. Einige Gäste verweilten in Gespräche vertieft vor dem Kaminsims, unter den Arkaden oder vor der schwungvollen Treppe, die zum Ballsaal in den ersten Stock führte. Schwerer Moschusduft lag in der Luft.

Ihr Ankommen blieb nicht unbemerkt. Überall nickte man ihnen zu und hier und dort wurden sie in ein kurzweiliges Gespräch verwickelt. Die Blicke der Damen hafteten auf Alessas Robe.

Sie trug ein blassrotes Kleid aus Tussahseide, welche von einer floralen Struktur durchsetzt war. Der runde Ausschnitt des Dekolletés und auch der des Rückens waren mit Brüsseler Spitze versehen. Die Rückenpartie des Kleides war geschnürt, die schmalen Ärmel, die über die Ellenbogen reichten, schlossen ebenfalls mit der Spitze ab. Fast ein Jahr lang hatte das Kleid im Schrank gehangen, sie hatte es explizit für diesen Ball aufgehoben. Viele Frauen hatten ihre Haare nur teilweise hochgesteckt, wie es der neue Schick war. Sie hingegen hatte sich von Laura, dem Dienstmädchen, überzeugen lassen, dass ihr die klassische Hochfrisur am besten zu Gesicht stand. Eine mit kleinen, tiefblauen Saphir-Steinen bestückte Kette zierte ihren schlanken Hals. Das kostbare Schmuckstück war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. ›Aus Montana, mein Schatz.‹ Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem er ihr die Kette überreicht hatte. Die Erinnerung schmerzte. Nichts war mehr, wie es war. Er fehlte.

Sie schritten an einem großen Spiegel vorbei und für einen kurzen Moment erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Sie war kein kleines Mädchen mehr: Sie war eine Frau mit einem Lebensplan. Sie würde die Dinge selbst in die Hand nehmen. Wenn sie es nicht tat, würden es andere für sie tun. Fiodora machte keinen Hehl daraus, dass sie sie verheiraten wollte – und zwar bald. Nun, gegen das Heiraten hatte sie ja gar nichts einzuwenden. Es musste nur der Richtige sein. Und wer das war, das wusste sie, Alessa, besser als Fiodora. Er war heute Abend nicht zugegen. Aber das minderte ihre gute Laune nicht.

Der Saal war bereits übervoll, ein deutliches Zeichen, dass sie recht spät dran waren. Die großen runden Tische waren mit feinstem Porzellan und Silber gedeckt, in denen sich das Licht der pompösen Kronleuchter spiegelte. Gebinde aus roten Rosen verströmten einen betörend sinnlichen Duft. Im hinteren Teil des Raumes spielte ein Orchester einen Walzer von Strauß. Die Töne schwebten leise über dem Murmeln der Menge dahin. Noch war das Spiel der Musiker verhalten, bald schon aber, nach dem Essen, würde die Musik den Abend dominieren. Die Abendsonne warf ihre Strahlen durch die großen Balkonfenster und ließ das Kirschholzparkett feurig aufleuchten.

»Mr. Bridgetown, Mrs. Bridgetown.« Ein junger Mann trat auf sie zu. Der blassen, sommersprossigen Haut nach zu urteilen, ein Ire. Alessa schätzte ihn auf etwa zwanzig Jahre. Interessiert betrachtete sie ihn. Auch er warf ihr einen neugierigen Blick zu.

»Mr. Carlisle!« Ihr Onkel lächelte erfreut auf, während er ihm die Hand schüttelte. »Meine Frau Beth und meine Nichte Alessa Arlington, wenn ich vorstellen darf.«

Alexander Carlisle! Verblüfft hielt Alessa die Luft an. Natürlich hatte sie von dem Ausnahme-Ingenieur gehört, der für die White Star Line arbeitete. Carlisle nahm ihre Hand. Formvollendet verbeugte er sich, einen Kuss andeutend, wie es sich schickte. Als er sie wieder anblickte, lächelte er.

»Wo sitzen Sie, Mr. Carlisle?«, nahm Richard Bridgetown den Faden wieder auf, nachdem Carlisle auch Beth seine Aufwartung gemacht hatte.

»Ich sitze in der Mitte.« Carlisle deutete auf die erste Reihe. Sie verabredeten sich für ein späteres Gespräch und Carlisle erbat sich von Alessa und Beth die Erlaubnis, sie später zum Tanz auffordern zu dürfen. Einer der Diener führte sie zu ihrem Tisch. Das freudige Gefühl, das sie bis eben erfüllt hatte, schwand schnell, als sie sah, wer sie dort erwartete. Natürlich hatte sie gewusst, dass er dem Ball beiwohnen würde. Aber sie hatte es bis auf die letzte Sekunde verdrängt. Wieder wurde ihr bewusst, wie sehr er sie anwiderte.

»Alessa! Onkel Richard, Tante Beth!« Gerald Bonniers stand sogleich auf, um sie zu begrüßen. Er war von mittelgroßer Statur und somit fast mit ihr auf Augenhöhe. Sein Gesicht, das unterhalb der Wangenknochen leicht eingefallen war, erinnerte ein wenig an einen Vogel, was durch die eng beieinanderstehenden Augen und die leicht gekrümmte Nase noch unterstützt wurde. Als Franzose trug er ausschließlich Haute Couture de Paris. Die braunen Haare teilte ein weit seitlich gezogener Scheitel. Alles an ihm wirkte seltsam übertrieben. Sie zuckte heftig zusammen als er seine feuchten Lippen auf ihren Handrücken drückte. Über seinen gebeugten Rücken hinweg warf sie ihrem Onkel einen verzweifelten Blick zu. Aber dieser zeigte sich unbeteiligt. Weil Bonniers ihre Hand länger als nötig für sich beanspruchte, zog sie sie schließlich entschlossen zurück. Gerald Bonniers sah sie einen Moment lang überrascht an, fasste sich aber schnell wieder und wandte sich Richard und Beth zu.

Das Essen an Bonniers Seite schien Alessa schier endlos und gestaltete sich umso unerträglicher, als dieser die Unterhaltung mit Selbstkomplimenten zu spicken verstand. Sie entfernte sich schließlich von der Tischrunde, um ein wenig mit Eliza Berett zu plaudern, die mit ihrer Mutter und ihrem Vater am Nachbartisch saß. Gespannt blickte sie sich während des Gespräches um. Von ihrem Onkel hatte sie in Erfahrung bringen können, dass einige spanische Schiffsoffiziere anwesend sein würden. Gerade die Spanier hatten sich beim letztjährigen Ball als die besten Tänzer erwiesen. Außerdem gab es noch eine andere Person, nach der sie Ausschau hielt. Aber er war nirgends zu sehen. Ihren Onkel hatte sie nicht zu fragen gewagt, ob dieser Jemand kommen würde. Auch wenn es irrational war, so befürchtete sie doch, allein das Aussprechen seines Namens könne etwas in ihr verfestigen, was sich auf keinen Fall verfestigen sollte.

»Suchst du die spanischen Schiffsoffiziere?«, fragte Eliza augenzwinkernd.

»Erwischt!« Sie lachte. Eliza war ihre engste Vertraute; sie kannten sich seit Kindertagen. Sie hatte Esprit, Witz und Charme. Zudem war sie sehr attraktiv. Stets wurde sie von Männern umschwärmt. An diesem Abend würde es genauso sein, spätestens, wenn die Tanzfläche freigegeben würde. Ihr Blick glitt bewundernd über ihre Freundin. Eliza hatte ihre dunkle Haarpracht zu einem mit Zöpfen durchwobenen Dutt aufgesteckt. Ihr lindgrünes Satinkleid bestach durch seine Schlichtheit und brachte ihre perfekte Figur deutlich zur Geltung. Eliza war schlank, ihre Haut weiß wie Schnee – ganz im Gegensatz zu der ihren.

»Dort drüben, sieh nur! Das ist ja der reinste Augenschmaus.« Eliza deutete mit dem Kinn auf den hinteren Bereich des Raumes. Ja, sie sahen wirklich hinreißend aus, diese Spanier. Wenn auch nicht so gut wie John. Oder Ryon Buchanan. Augenblicklich verkrampfte sie sich. Ryon Buchanan hatte nichts in ihrem Leben verloren. Dennoch hatte er ihr Herz berührt und sich in ihren Gedanken verankert – sie konnte die Begegnung auf der Bothnia nicht vergessen. Ohne Unterlass spukte er in ihrem Kopf herum. Die letzten zwei Tage war sie mit Florence zu einem Informationsaustausch zum Thema Gesundheitswesen in einem anderen Krankenhaus gewesen. Die Gedanken wieder einmal bei den Geschehnissen auf der Bothnia, hatte sie dem Fachgespräch kaum zu folgen vermocht. Als Florence sich schließlich zu ihr gebeugt und gefragt hatte, ob ihr der Kaffee schmecke, war sie überhaupt nicht in der Lage gewesen, zu verstehen, was diese von ihr wollte. »Er schmeckt vorzüglich«, hatte sie deshalb geantwortet. Florence hatte daraufhin mit säuerlichem Blick erwidert: »Dann ist es ja gut, Alessa. Die Schülerinnen werden sich in der nächsten Stunde sicherlich freuen, wenn du über die Kaffeequalität berichten wirst.« Sie hatte sich über Florences sarkastische Art geärgert, obwohl sie deren Unmut in jenem Moment nachvollziehen konnte. Florence nahm sie nicht mit, damit sie träumend dabeisaß, wenn es galt, etwas zu lernen. Ryon Buchanan bestimmte ihr Denken und sie ließ es geschehen. Wieder und wieder. Am vorangegangenen Abend hatte sie die Skizzen überarbeitet, die sie im Kreißsaal angefertigt hatte. Auch hier hatte er sich in ihre Gedanken gedrängt, denn sie hatte die Skizzen beiseitegeschoben, um ihn zu zeichnen. Sie hatte ihn so klar vor sich gesehen, als stünde er vor ihr. Dabei war ihr wieder bewusst geworden, wie groß er war: Er überragte sie um Kopfeslänge – und sie war keineswegs klein. Sein Körperbau war feingliedrig und schlank. Anders als bei den meisten Männern war sein Kehlkopf nur eine schwache Andeutung. Das verlieh seiner Erscheinung zusammen mit dem streng geflochtenen, hüftlangen Zopf sowie der vollen, wie von Meisterhand geschaffenen Oberlippe und den nach oben hinauslaufenden Mundwinkeln etwas Feminines. Die melancholisch wirkenden schwarzen Augen, umrahmt von dichten Wimpern, hatten etwas Magisches an sich, als bärgen sie das Leben aller vorangegangenen Generationen, eine verborgene Geschichte in sich. Überhaupt war alles an ihm sehr eigen. Seine Hand in der ihren zu fühlen war wie ein Schock gewesen, und sie erinnerte sich genau, wie bemüht sie gewesen war, konzentriert seine Brandblasen zu versorgen, sich abzulenken. Fast hatte es sie gefreut, dass sie einen Makel an ihm gefunden hatte: die wilde Braue über seinem linken Auge. Vermutlich lag eine Narbe unter dieser verborgen. Nein, er war nicht perfekt, kein außerirdisches Wesen, sondern ein Mensch wie jeder andere auch! Diese Erkenntnis hatte jedoch nicht ausgereicht, ihn aus ihren Träumen zu bannen. Dabei war sie doch in John verliebt! Ihr zukünftiger Mann konnte nichts anderes sein als ein Mediziner. Sie blickte sich erneut um. Ryon war wirklich nicht hier. Vielleicht blieb er dem Ball fern, weil er in Trauer war. Es gab so viele Menschen um sie herum: Wer brauchte ausgerechnet ihn? Sie spürte, wie sich ihre Unterlippe vorschob, auf die Fiodora zu gerne starrte, wenn sie wütend auf sie war. Vor Jahren hatte sie einmal den Satz »Ihr steht der Trotz ins Gesicht geschrieben – immer diese vorgeschobene Unterlippe!« fallen lassen. Seitdem kam ihr diese Bemerkung stets in den Sinn, wenn ihr bewusst wurde, dass ihre Lippen einen Schmollmund formten. Es ärgerte sie. Fiodora war nicht da. Sie hatte nichts in ihren Gedanken zu suchen. Nicht heute Abend.

Endlich war es soweit und die Musik spielte zum Tanz auf. Alessa sah, wie Onkel Richard Tante Beth zur Tanzfläche führte. Die beiden gaben ein bemerkenswertes Paar ab. Ein beklemmendes Gefühl legte sich um ihre Brust.

»Alessa? Was ist?« Eliza kniff sie in den Unterarm.

Alessa schüttelte den Kopf, als könne sie damit die Gedanken und Gefühle, die gerade in ihr aufstiegen, abschütteln. »Nichts. Es ist gar nichts.«

Eliza lächelte sie aufmunternd an. Vermutlich wusste ihre Freundin, was in ihr vorging. Es war nicht nötig, darüber zu sprechen. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn ihre Mutter und ihr Vater noch lebten und sie es wären, die dort tanzten. Und die glücklich miteinander wären.

»Alessa?« Versonnen drehte sie sich um. Bonniers! Er besaß die Frechheit, einfach ihre Hand zu ergreifen und siegessicher daran zu zerren. Ausgerechnet er sollte ihr erster Tanzpartner sein an diesem Abend? Alles in ihr schrie nein! »Ich habe gehört, Tanzen sei dein Steckenpferd? Jetzt will ich mich höchstpersönlich davon überzeugen …«

Alessa biss die Zähne zusammen und schlug die Augen nieder. Sie konnte ihn nicht abweisen, denn damit würde sie ihren Onkel und ihre Tante verärgern. Sie musste das Spiel mitspielen.

»Ich kann mir nichts Vergnüglicheres vorstellen, Gerald, als mit dir zu tanzen …« Es war ironisch gemeint, aber er bemerkte es nicht. Bonniers grinste schräg. »Teuerste Alessa …«, stieß er aus, aber sein Satz wurde jäh unterbrochen.

»Ms. Berett? Darf ich um diesen Tanz bitten?« Ryon Buchanan, in bester Garderobe, war zu ihnen an den Tisch getreten. Er sah umwerfend aus. Ihr war heiß. Sollte sie etwas sagen? Wieso forderte er nicht sie zum Tanz auf, sondern ihre Freundin?

Ryons Augen wanderten zu ihr. »Ms. Arlington. Wie schön, Sie heute Abend zu sehen.«

Sie nickte nervös. »Mr. Buchanan …« Sie verschluckte sich und musste husten. Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte sie endlich wieder ein Wort heraus, wobei sie hätte schwören können, dass ihre Stimme wie die einer Zwölfjährigen klang, die die falsche Mahlzeit serviert bekommen hatte, dies aber nicht zugeben wollte. »Es freut mich ebenfalls, Sie wiederzusehen. Aber … entschuldigen Sie … ich wurde gerade zum Tanz aufgefordert.«

Sie wechselte einen Blick mit Eliza. Ihre Freundin schien sich zu amüsieren, ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Eliza stand schließlich auf und reichte Ryon Buchanan ihre Hand. »Nun, Mr. Buchanan, da Sie bereits meinen Namen kennen und ich nun auch den Ihren, müssen wir nicht unnütz Zeit vergeuden, uns bekannt zu machen. Lassen Sie uns tanzen gehen!« Ryon lachte auf, ein tiefes, warmes Lachen, und reichte Eliza galant seinen Arm.

Alessa kochte innerlich vor Wut als sie an Bonniers’ Seite den beiden zur Tanzfläche folgte. Es ärgerte sie maßlos, dass Buchanan nicht sie, sondern Eliza als Partnerin ausgewählt hatte. Und dass er ganz locker mit ihrer Freundin lachte. Als würden sie sich kennen. Eliza war ihre Freundin.

Der Tanz dauerte viel zu lang. Immer wieder sah sie Eliza mit Ryon Buchanan vorbeiziehen, graziös, geschmeidig und voller Elan. Beide trugen ein Lächeln auf den Lippen, wenn sie nicht gerade angeregt miteinander plauderten. Ihre Füße hingegen schmerzten, denn Bonniers verstand vom Tanzen genauso wenig wie von allem anderen. Immerhin sprach er nicht, da er sich aufs Tanzen zu konzentrieren schien. Als die Musik endlich endete, bedankte sie sich kurzangebunden bei ihm. Sie entzog sich ihm, obwohl sie damit seinen Satz unterbrach, in welchem er sie gerade auf ein Glas Champagner hatte einladen wollen. Sie sah seinen irritierten Blick, als sie ihre Röcke raffte und den Ausgang des Saals ansteuerte. Genaugenommen steuerte sie die Damentoilette an. Nicht etwa, weil sie sich frisch machen wollte, sondern weil es schlicht und ergreifend keinen anderen Ort gab, der sie vor Gerald Bonniers bewahren konnte. Keinen besseren Ort, an dem sie ihre Gedanken sortieren und nachsehen konnte, wie rot sie war. Dass sie rot war, bezweifelte sie keineswegs.

Die Toilette im Claridge’s war neben ihrer eigentlichen Funktion nicht nur eine überaus luxuriöse Rückzugsmöglichkeit, sondern auch ein viel besuchter Ort, an dem recht freizügig über dies und das gesprochen wurde. So auch in dem Moment, als sie diese betrat.

»… unverschämt!«

»Aber er hat.«

»Hm. Mit mir hätte er das nicht machen dürfen.«

»Ach, Marly, tu nicht so. Dir hätte das doch gefallen!«

»Nein, Julie. So etwas darfst du nicht sagen. Ich bin eine Dame.«

»Aber ja doch. Wir sind alle Damen.« Gelächter.

Sie blieb abrupt stehen. An den Waschbecken standen Mrs. Lovett, Mrs. Duprey und Mrs. Donut. Ihr eigenes Spiegelbild strahlte ihr zwischen beiden letzteren wie eine überreife Erdbeere entgegen. Das eben geführte Gespräch fand ein jähes Ende, als die Damen von ihr Notiz nahmen. Sie grüßte kurz und verschwand in einer der Kabinen. Gott, war sie rot! Das durfte einfach nicht wahr sein. Und über wen hatten die Damen wohl gesprochen? Sie hörte, wie eine Tür aufging.

»Habt ihr diesen Mann gesehen? Diesen … Indianer?«

»Das ist der Sohn von Helt Buchanan!«

Es war die Stimme von Cynthia Bonham. Natürlich!

»Mein Gott! Jetzt wissen wir, warum er nie etwas über seine Familie erzählt hat.«

»Ich weiß nicht …«

»Oh. Ich denke, das erklärt so einiges. Auch, warum er hier in London ein derart wildes Leben geführt hat. Ist ja kein Geheimnis. Wahrscheinlich hat er sich von ihr getrennt, weil er eingesehen hat, dass eine Verbindung mit einer Indianerin nicht gesellschaftstauglich ist.«

»Aber die Zeiten ändern sich.« Das war wieder Cynthia Bonhams Stimme, sie klang zögerlich.

»Cynthia. Indianer skalpieren Menschen. Im Häuten sind sie gut, sagt mein Mann.«

»Ich finde eigentlich, dass er zivilisiert aussieht.«

»Er muss sich anpassen. Etwas anderes bleibt ihm gar nicht übrig. Wie in England, so auf Erden.«

Alessa spürte, wie der Zorn ihre Halsschlagader anschwellen ließ.

»So etwas hat hier nichts zu suchen. So etwas gehört zurück zu seinesgleichen. Da hilft auch die beste englische Garderobe nichts. Als Mann hier mit einem Zopf aufzutreten, der bis zur Hüfte reicht, ist eine Provokation sondergleichen. Ich mache ja vielerlei Zugeständnisse bei diesem Ball, doch das geht entschieden zu weit. Aber was soll man da erwarten? Indianer denken nicht wie wir. Wenn sie überhaupt denken können. Sie sind primitiv wie Tiere. Leben von der Hand in den Mund. Sie sind ohne Reflexion, ohne Ziele, ohne Zukunft. Denn: Wenn es morgen keine Büffel mehr gibt, verhungern sie.«

Alessa stieß die Tür mit einem Schlag auf. Wutentbrannt trat sie hinaus. Die Frauen starrten sie entgeistert an. Eigentlich hatte sie den Frauen das Schlimmste entgegenschleudern wollen, was sie jemals würde sagen können. Aber ihre Lippen waren wie versiegelt. Sie war in ihrem eigenen Körper gefangen. Nichts, rein gar nichts, brachte sie hervor. Sie stob einfach nur hinaus. Mit rasendem Herzen.

Sie konnte sich überhaupt nicht beruhigen. Das Gehörte wollte nicht aus ihrem Kopf, nicht aus ihrem Herzen. Immer wieder fragte sie sich, warum sie nichts gesagt hatte. Wieso war sie völlig tatenlos, wortlos an den Frauen vorbeigegangen? Es fehlte ihr doch sonst nicht an Mumm, Dinge auszusprechen, die ihr am Herzen lagen. Ohne nachzudenken hatte sie sich ein Glas Champagner geholt und binnen weniger Sekunden leer getrunken. Und sich gefragt, was sie selbst über Indianer wusste. Herzlich wenig. Gar nichts, im Grunde genommen. Alles, was sie wusste, war, dass Ryon Buchanan es nicht verdient hatte, dass man so über ihn sprach. Schließlich entschloss sie sich, alle Gedanken zu diesem Thema beiseite zu schieben, denn das hier war ihr Abend. Auf den sie sich seit Monaten gefreut hatte. Zum Teufel mit Merryl Vaughn & Co.!

Es war ein Glück, dass der weitere Abend, zumindest was das Tanzen betraf, nicht so verlief, wie er begonnen hatte. Die spanischen Offiziere erwiesen sich als überaus charmant und waren ausgezeichnete Tänzer. Sie flog mit ihnen regelrecht über die Tanzfläche und es gelang ihr sogar, ihre Gedanken auf John zu lenken. Das Orchester stimmte gerade ein langsames Stück an, als Alessa sich bei ihrem Tanzpartner entschuldigte, um ein wenig zu verschnaufen. Sie lehnte sich an eine der Säulen und betrachtete die Gäste, als ihr Blick an Ryon Buchanan hängen blieb. Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Saales bei Alexander Carlisle und diskutierte angeregt mit ihm. Wie gerne wäre sie an Carlisles Stelle und würde sich so lebhaft mit ihm unterhalten! Anderen Menschen gegenüber zeigte er sich aufmerksam und interessiert. Ihr gegenüber nicht. Warum war das so? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Ryon Buchanan ganz bewusst Eliza zum Tanz aufgefordert hatte statt ihrer. Er wollte nicht mit ihr tanzen! Sonst hätte er doch später die Gelegenheit ergreifen können sie aufzufordern – aber das hatte er nicht. Sah er vielleicht auf sie hinab, weil sie als Krankenschwester arbeitete?

Ryon gestikulierte energisch, während er sprach. Es war etwas Wildes, Ungezähmtes an ihm. Er hatte sich auf der Bothnia mir nichts, dir nichts, in die Feuerbrunst begeben, offenbar ohne eine Sekunde über mögliche Konsequenzen nachzudenken. Allerdings hatte er es getan, um seinen Vater zu retten. Ihre Augen tasteten unverhohlen seine Gestalt ab. Seine Kleidung sprach von gutem Geschmack, wer könnte das besser beurteilen als sie, Tochter eines Kleidermanufakturbesitzers. Langsam wanderten ihre Augen wieder hinauf. Sie schrak augenblicklich zusammen, als ihre Blicke aufeinandertrafen. Rasch wandte sie sich um – und stieß mit Gerald Bonniers zusammen. »Alessa. Bist du am Träumen? Ich wollte dich zu einem Glas …«

»Besten Dank, Gerald, aber ich habe bereits einiges getrunken. Außerdem hatte ich gerade etwas vor …« Sie schob sich an ihm vorbei, ließ ihn einfach stehen. Aufgelöst sah sie sich um: Eliza war nirgends zu sehen. An ihrem Tisch saß Onkel Richard mit einem Mann, den sie nicht kannte. Beth war ebenfalls nirgends zu sehen. Sie durchquerte rastlos den Raum. Bis ihr eine Idee kam.

Ryon Buchanan schien ihr übergroß, als sie sich durch die Menschenmenge schob und sein Rücken in ihr Blickfeld kam. Einen winzigen Augenblick lang wankte sie, ob sie ihr Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen sollte. Aber in diesem Moment wandte er sich um. Überraschung spiegelte sich in seinen Augen, als er sich ihr plötzlich gegenübersah. »Ms. Arlington.« Er deutete eine Verbeugung an und wollte an ihr vorbeigehen. Fast erschien es ihr, als wolle er flüchten, aber sie vereitelte sein Vorhaben, indem sie ihm in den Weg trat. Die Augen fest auf ihn gerichtet, lächelte sie ihn charmant an. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Mr. Buchanan?«

Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er, als wüsste er nicht, wie er reagieren sollte. Dann jedoch formte sich sein Mund zu einem Lächeln. Er beugte sich zu ihrem Ohr vor, sodass seine Worte nur von ihr wahrgenommen werden konnten. In diesem Moment roch sie ihn zum ersten Mal. Es war wie ein Rausch, wie eine Droge, die sich ihrer bemächtigte und sie augenblicklich schwindeln ließ. Seine Stimme, tief und weich, klang fern, obwohl er ihr ganz nah war. »Ja. Aber nur, wenn Sie versprechen, mir einige Fragen zu beantworten.«

Bestürzt riss sie die Augen auf. Was meinte er damit?

»Ms. Arlington? Was ist?«, drängte er.

»Natürlich«, erwiderte sie, um Gelassenheit bemüht, »fragen Sie nur.«

Er reichte ihr den Arm, um sie zur Tanzfläche zu führen. War es ein Fehler gewesen, ihn um einen Tanz zu bitten? Wieso suchte sie seine Nähe? Um ihm zu zeigen, dass sie selbstbewusst war? Um ihm zu zeigen, dass er sie längst zum Tanz hätte auffordern sollen? Fatalerweise hatte sie bereits mehrere Gläser Champagner getrunken. Die von ihren Freundinnen oft beschriebenen Folgen des Alkohols traten unglücklicherweise alle zugleich auf: Die Musik klang mit einem Male anders, die Menschen um sie herum verschmolzen zu einer undeutlichen Masse, ihr schwindelte und der einzige ruhige Punkt, den sie fixieren konnte, war ausgerechnet Ryon Buchanan, der sie den ganzen Abend wie Luft behandelt hatte. Sie hatte sich einen Spaß erlauben, ihm eine Lektion erteilen wollen, weil es sie verletzt hatte, dass er sie nicht zum Tanz aufgefordert hatte. Aber nun, als sie vor ihm stand und zu ihm aufsah, schwand aller mädchenhafter Schalk, der sie zu diesem Unternehmen angetrieben hatte. Ryon betrachtete sie intensiv. Und sie war sich nicht sicher, was er sah. Er streckte den linken Arm aus und lächelte. Sie spürte mit jeder Faser ihres Körpers, wie er ihre Hand sanft aufnahm und er seine rechte Hand, die in einem Verband steckte, auf ihrer Taille platzierte. Hitze durchflutete ihren Körper.

Ryon war ein ausgezeichneter Tänzer. Die Musik schien geradewegs durch seinen Körper zu fließen und sich auf den ihren zu übertragen. Sie schloss die Augen, hörte, fühlte und roch. Ryon verströmte einen herben Duft von Holz und Kräutern, Ferne, Freiheit und Meer … Als sie wieder aufsah, ruhte sein Blick auf ihr. Es war, als sähe er direkt in sie hinein. »Schwindelig?«

»Oh ja«, gab sie zu.

»Tanzen Sie trotzdem mit mir weiter?«

»Ja. Sie tanzen hervorragend.« Sie spreizte die Finger weit über seine Schulter. In ihrem Bauch kribbelte es. Ihre Nase streifte seinen Hals, als sie sich drehten. Seine Haut fühlte sich weich und warm an. »Wie geht es Ihrer Hand, Mr. Buchanan?«

»Die Brandblasen sind aufgegangen.« Er schmunzelte. Um seine Augen bildeten sich kleine Fältchen. »Ich habe Ihre Anweisung befolgt, Ms. Arlington, und die Salbe regelmäßig aufgetragen. Es hat sich nichts entzündet.«

»Das ist gut.« Sie nickte zufrieden.

Nach einer kurzen Pause hob er wieder an zu sprechen. »Ihr Onkel sagte mir, dass Sie darüber nachdenken, auszuwandern. Ist das wahr?«

Die Frage überraschte sie. Onkel Richard hatte mit Ryon Buchanan über sie gesprochen? Wieso hatte er ihn wissen lassen, dass sie Pläne hatte, auszuwandern? Irritiert sah sie ihn an. »Ich denke darüber nach, ja. Ich bin eine moderne Frau und möchte Medizin studieren. Aber das ist, zumindest hier in England, für Frauen so gut wie unmöglich. Falls man es schafft, einen Platz an einem College zu erhalten – was wirklich sehr schwierig ist – kann man zwar studieren, aber keinen Abschluss machen. Die Frauen, die in England studieren, müssen allesamt für ihren Abschluss ins Ausland gehen.«

»Das ist, als besäße man ein Pferd, das man nicht reiten darf.«

Alessa hielt die Luft an und biss sich auf die Unterlippe. Der Vergleich war mehr als unkonventionell. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, mehr Sachlichkeit in das Gespräch zu bringen. »In diesem Jahr wird die Leiterin meines Krankenhauses, Florence Nightingale, mit anderen Frauen, die bereits in Amerika studiert haben, die London School of Medicine for Women eröffnen, um Ärztinnen auszubilden. Ich könnte dort einen Studienplatz bekommen. Aber erst nächstes Jahr. Sie sagt, sie brauche mich im Krankenhaus, da sie selbst mit dem neuen Projekt stark eingebunden sei. Das ist ebenfalls eine Option, über die ich nachdenke.«

Ryons Hand umfing sie fester. Die Stelle auf ihrem Rücken glühte. »Ich habe den Eindruck, Ms. Arlington, dass Sie kein Freund von Halbherzigkeiten sind, dass Sie genau wissen, was Sie wollen. Sie wollen Medizin studieren, einen Abschluss machen. So bald wie möglich.«

»Das haben Sie völlig richtig erkannt, Mr. Buchanan. Deshalb überlege ich auch noch immer, nach Amerika auszuwandern, um dort zu studieren. Dieses Jahr schon.«

»Haben Sie sich schon beworben?«

Sie nickte. »Ja. Dennoch weiß ich nicht, ob ich wirklich gehen würde, falls ich eine Zusage bekäme …«

»Was hält Sie davon ab?«

Genau genommen hielt sie nur John ab. Aber das konnte sie ihm unmöglich sagen. »Eine gute Frage«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht fällt es mir schwer, England zu verlassen. Ans andere Ende der Welt zu ziehen.«

»Amerika ist in weniger als zehn Tagen zu erreichen. Mehr nicht. Es sei denn, Sie möchten an die Westküste oder ins Landesinnere.«

Sie schüttelte verneinend den Kopf. »Es gibt zwei Colleges, die infrage kommen. Beide liegen an der Ostküste. Einmal das Women’s Medical College of the New York Infirmary in New York, das Elizabeth Blackwell gegründet hat, und zum anderen das Boston Female Medical College. Allerdings ist mir zu Ohren gekommen, dass diese Städte nicht ganz ungefährlich seien.«

Ryon schmunzelte. »Ich habe in New York studiert. Und ich lebe noch.«

Sie lachte auf. Sie sind aber ein Mann, wollte sie ihm entgegnen, unterließ es aber. Er war zweifelsohne ein Mann. Aber kein Weißer. Vermutlich hatte er es nicht leicht gehabt in New York. Sie entschied, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. »Was haben Sie studiert, Mr. Buchanan?«

»Mathematik und Philosophie.«

Verdutzt sah sie ihn an. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er weiter. »Auch ich habe mein Zuhause verlassen. Ich bin in der Nähe von Philadelphia, Pennsylvania, großgeworden.«

Sie sah, wie sich auf Ryons Stirn Falten bildeten. Er wirkte mit einem Male angespannt. »Ms. Arlington, Ihr Wunsch, Medizin studieren zu wollen, beeindruckt mich, ebenso wie die Tatsache, dass Sie sich bereits mit den Möglichkeiten der Realisierung befasst haben.« Er schürzte die Lippen. »Sie werden Ihren Weg gehen, da bin ich mir sicher.« Mit dieser Feststellung hatte er die letzten Worte für sich beansprucht, denn das Orchester beendete das Stück. Atemlos blieb sie vor ihm stehen. Er ließ ihre Hand los, doch nahm er seine Rechte nicht von ihrer Taille, als hielte ihn etwas davon ab, sie gehen zu lassen. »Ich glaube, Sie sind wirklich eine moderne Frau, Ms. Arlington, auch, wenn wir uns kaum kennen und ich mir kein Urteil erlauben dürfte. Ich hege keinen Zweifel, dass Sie Ihren Traum in die Realität umsetzen werden. Vielleicht früher, als sie selbst ahnen.«

»Wie kommen Sie darauf, Mr. Buchanan?«

»Ihre Leidenschaft wiegt schwerer als Ihre Heimatliebe oder Ihre möglichen Bedenken hinsichtlich der Ferne oder lauernder Gefahren in einer Großstadt, Ms. Arlington. Sie leben in einer der größten Städte der Welt. Es ist etwas anderes, das Sie hier hält.«

Sie richtete sich auf. »Warum haben Sie mich nicht zum Tanz aufgefordert, Mr. Buchanan?«

Er warf einen flüchtigen Blick zur Seite und ihr war sofort klar, dass ihre Frage ihn unangenehm berührte. Ryon richtete seine dunklen Augen wieder auf sie. »Vielleicht habe ich darauf gewartet, dass Sie mich zum Tanz auffordern.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie wollten nicht mit mir tanzen. Wenn ich Sie nicht gefragt hätte, wäre dieser Tanz niemals zustande gekommen.« Sie sah, wie sein Wangenmuskel zuckte. Sein Blick wurde hart. »Ich habe den Tanz mit Ihnen genossen, Ms. Arlington. Haben Sie herzlichen Dank, sowohl für die Aufforderung als auch für das Gespräch.« Er nahm seine Hand von ihrer Taille und verbeugte sich. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. »Ich danke auch, Mr. Buchanan«, erwiderte sie mit belegter Stimme, als er sich wieder aufrichtete. Er lächelte nicht, sondern trat mit verschlossenem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück und wandte sich um.

Ihr war heiß. Sie hatte Durst. Und Tausend Fragen. Der größte Teil davon ging an sie selbst. Wieso hatte sie einem Fremden so viel von sich preisgegeben? Wie war es möglich, dass Ryon Buchanan den Haken, der sie hier in England hielt, sogleich geahnt hatte? Instinkt? Sie hatte sich unmöglich benommen! Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Was war nur mit ihr los? Warum war sie derart direkt und unfreundlich zu ihm gewesen? Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ryon Buchanan hielt sie sicherlich für ein selbstgefälliges Mädchen. Vielleicht war sie das ja auch. Mehr nicht. Sie hätte längst ihre Ziele verfolgen können, hatte es aber nicht getan. Damals nicht, weil es ihren Vater gegeben hatte. Der zugegebenermaßen mehr auf Reisen als zu Hause gewesen war. Aber er war eben immer wieder mal zu Hause gewesen. Das war damals ihr Grund gewesen, zu bleiben, und auf jeden Fall einfacher, als sich einzugestehen, dass es ihr an Mut fehlte, den Schritt über den Atlantik zu wagen. Jetzt war es John, der sie hielt. Es würde wahrscheinlich immer einen Grund geben, nicht nach Amerika auszuwandern. Sie kam sich kläglich vor. Einen Mann zurechtzuweisen, der sein Zuhause verlassen hatte, der seine Ziele direkt ansteuerte, obwohl ihm mit Sicherheit Steine in den Weg geworfen worden waren und noch wurden – das war einfach unerhört von ihr. Ihr legte niemand Steine in den Weg und dennoch ging sie nicht. Lange hatte sie sich schon nicht mehr derart elend gefühlt. Sie sehnte sich nach ihrer Arbeit, nach Sicherheit, nach John, der zuverlässig war, auch wenn sich überhaupt nichts zwischen ihnen entwickeln wollte. Ihr Selbstbewusstsein war auf dem Nullpunkt, erbsengroß. Erst als sie saß und ein Glas Wasser vor sich hatte, ließ das Zittern nach und ihre Atmung normalisierte sich. Noch immer hatte sie Ryons Duft in der Nase. Sie seufzte. Die bisherigen Bälle des Lloyd’s Register waren allesamt aufregend gewesen. Aber nie so wie heute. Außerdem müsste sie ein schlechtes Gewissen haben. John gegenüber. Doch seltsamerweise empfand sie keine Gewissensbisse.

»Ms. Arlington? Darf ich Sie um einen Tanz bitten?« Es war Alexander Carlisle.

Sie schluckte. »Ja. Gern.«

Seine Hand fühlte sich, im Gegensatz zu der Ryon Buchanans, kühl an. Er wirkte ein wenig unsicher. Oder täuschte sie sich? Eine Weile sprachen sie nicht miteinander, tanzten einfach nur. Er war es schließlich, der das Gespräch begann. »Sie sind eine gute Tänzerin, Ms. Arlington.«

»Vielen Dank, Mr. Carlisle. Das Lob möchte ich gern zurückgeben. Ich fühle mich bestens aufgehoben.«

Er lachte. »Das hat mir bisher noch niemand gesagt.«

»Die Damenwelt hat da wohl etwas verpasst. Lassen Sie mich raten: In der Regel kreist der Gesprächsstoff um Schiffe.«

»Mein Ruf macht alles andere zunichte. Alle wollen nur über mein neues Schiff sprechen.«

»Das wollte ich auch gerade.«

Er blinzelte. »Sie scherzen, oder? Ich hörte, Sie seien recht keck.«

»Ach? Wer sagt denn so etwas?«

»Das hat mir Ihr Onkel verraten.«

»Hm … und finden Sie, das trifft zu?«

»Gewiss. Eine Frau, die einen Mann zum Tanz auffordert, ist keck. Zumindest für meine Begriffe.«

Sie schluckte. Natürlich. Carlisle hatte neben Ryon Buchanan gestanden, als sie diesen zum Tanz aufgefordert hatte. Er hatte alles mitbekommen. Wie der Rest des Saales vermutlich. »Letztes Jahr noch habe ich mit Helt Buchanan getanzt. Sein Sohn scheint auf das Tanzen nicht ganz so aus zu sein wie er. Außer mit meiner Freundin hat er mit niemandem getanzt. Er kann mich doch nicht unaufgefordert links liegen lassen, wir wurden einander schließlich vorgestellt.«

Carlisle grinste über das ganze Gesicht. »Da bin ich ja froh, dass ich Ihnen zuvorgekommen bin.«

»Sie haben sich viel zu viel Zeit gelassen, wenn ich anmerken darf. Es hätte nicht mehr lange gedauert, dann hätte Sie das gleiche Schicksal ereilt.«

»Ehrlich gesagt ist das Tanzen nicht ganz meine Welt. Es gibt andere Dinge, die mich mehr fesseln.«

»Oha. Ein Bekenntnis. Ich höre …«

Auf Carlisles Wangen bildeten sich leicht rote Flecken, wie sie feststellte. »Das dürfte wohl kein großes Bekenntnis sein, Ms. Arlington. Jeder weiß, dass ich am liebsten meine Zeit mit Konstruieren verbringe. Diese Bälle dienen mir in erster Linie zum Austausch mit Kollegen.«

Alessa machte ein übertrieben trauriges Gesicht und legte den Kopf schräg. »Nun, nun. Bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen«, schob er schnell hinterher. Er wirkte tatsächlich ziemlich nervös, sogar verlegen – aber irgendwie auch belustigt. Sie musste lächeln.

Zufällig fiel ihr Blick auf Ryon Buchanan, der an einem der Tische saß. Er sah zu ihnen hinüber und seine Augen wirkten, selbst auf die Entfernung, tiefschwarz. Alles in allem erweckte er den Eindruck, als passe es ihm nicht, dass sie mit Carlisle tanzte.

Das Gespräch mit Carlisle verlief weiterhin recht erquicklich. Nachdem das Musikstück geendet hatte, verbeugte er sich und bedankte sich für den Tanz. Auch sie ließ ihn wissen, dass sie den Tanz mit ihm genossen hatte.

Sie brauchte dringend eine Pause, brauchte Luft zum Atmen, zum Nachdenken. Zielstrebig steuerte sie den Balkon an. Ein leichter Wind war aufgekommen, zog über die gusseiserne Brüstung und strich ihr angenehm über Stirn und Dekolleté. Der Balkon verlief einige Meter an der Front des Hauses entlang und weiter um das Gebäude herum. Erleichtert stellte sie fest, dass niemand auf diesem war. Sie stützte ihre Hände am Geländer ab, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Doch kaum dass sie sich über ihren gelungenen Rückzug gefreut hatte, wurde die Balkontür geöffnet.

»Alessa! Hier steckst du also.«

Missmutig drehte sie sich um. »Gerald! Bitte, lass mich allein. Ich will nur ein wenig Luft schnappen.«

»Aber das will ich doch auch!« Bonniers’ Stimme war wirklich einzigartig dümmlich und der französische Akzent setzte dem Ganzen die Krone auf. Sie ärgerte sich, dass er ihre Bitte völlig ignorierte. Er trat dicht neben sie. »Alessa. Immer wenn wir zusammen sind, legst du so viel Ungeduld an den Tag. Ich weiß, dass du eine aktive Frau bist und dass du dich deshalb nicht leicht entspannen kannst …«

»Wie bitte?!« Ihre Stimme schallte schrill über den Balkon.

»Deine Mutter …«

»Sie ist nicht meine Mutter!«, korrigierte sie ihn scharf.

»Deine Stiefmutter hat mir alles erzählt. Ich weiß, dass du ein modernes Mädchen bist, dass du anders sein möchtest, dass du ein bisschen arbeiten möchtest und …«

»Ich«, erhob sie ihre Stimme unheilvoll über die ihres Gegenübers, »möchte nicht ein bisschen arbeiten. Ich –« Aber sie kam nicht dazu, weiterzusprechen, denn Bonniers unterbrach sie recht geschickt.

»Alessa«, murmelte er versöhnlich, »ich möchte doch überhaupt nichts gegen dich sagen. Ich bin allein hinausgekommen, um etwas Luft zu schnappen und um dir zu sagen, wie wunderschön du heute aussiehst in dem Kleid, das dein Vater entworfen hat. Und ich wollte dich einladen. Für morgen. Zum Tee.«

»Zum Tee?«, grummelte sie.

»Genau.«

»Ich möchte nicht, Gerald. Es tut mir leid.«

»Bitte sei nicht so! Menschen, die dich mögen, weist du ab, und Menschen, die sich nicht für dich interessieren, läufst du hinterher!«

»Was meinst du damit?« Alessas Stimme nahm eine tiefe Färbung an.

»Nichts. Gar nichts. Ich wollte dich einladen. Du bist doch so interessiert an Naturwissenschaften. Ich wollte dir meine Schmetterlings-Sammlung zeigen.«

»Du tötest Schmetterlinge?«, fragte sie, wobei sich ihre Stimme fast überschlug.

»Alessa, beherrsche dich. Ich tue das aus rein ästhetischen und wissenschaftlichen Gründen. Denk daran, was ihr im Krankenhaus in euren Gläsern alles aufbewahrt …«

»Ich möchte nicht, dass du noch einmal meine Arbeit auf dein Fliegenfänger-Niveau herunterziehst. Du füllst Bilderrahmen – ich rette Menschen.« Eine Pause entstand, wenn auch von kurzer Dauer. Der Ton, den sie nun anschlug, kannte sie nicht einmal selbst. »Und wenn du noch ein einziges Mal abwertend über Menschen wie Ryon Buchanan sprichst, dann reiße ich dir den Kopf ab und seziere ihn eigenhändig in der Pathologie des St Thomas’ Hospital, um jedermann zu beweisen, wie klein dein weißes Hirn ist.«

»Alessa! Bist du des Wahnsinns? Du weißt nicht, was du da sagst! Der Mann, mit dem du getanzt hast …« Seine Hand umfing ihren Oberarm, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, doch sie entriss sich ihm sofort.

»Der Mann, mit dem ich getanzt habe, geht dich nicht das Geringste an. Und nun verschwinde, bevor ich mich völlig vergesse!« Ihre Stimme war nur noch ein Zischen.

Bonniers schrak zurück. »Du hast zu viel getrunken, Alessa. Du bist nicht ganz bei Sinnen.«

»Vielleicht habe ich zu viel getrunken. Aber ungeachtet dessen habe ich meine Sinne immer noch besser beisammen als du. Wäre es anders, würdest du endlich begreifen, dass ich nichts mit dir zu tun haben möchte. Oder, um es deutlicher auszudrücken: Hättest du nur halb so viel Verstand und Feingefühl wie Ryon Buchanan, dann hättest du das längst begriffen!«

»Aber deine Mutter …«

»Sie ist nicht meine Mutter, geht das nicht in deinen Schädel?! Geh jetzt, Gerald. Sofort.«

Bonniers sah sie entgeistert an, dann verzogen sich seine Gesichtszüge zu einem hämischen Grinsen. »Du hast doch nur Mitleid mit ihm.«

»Nein. Mitleid habe ich bestimmt nicht mit ihm. Er ist ein Mann. Ein echter Mann. Ein angesehener Schiffsbauingenieur, der auf eigenen Füßen steht. Vor wenigen Tagen hat er seinen Vater verloren. Es ist schändlich, wie über ihn gesprochen wird, ganz besonders in der Situation, in der er sich befindet.«

Sie lachte hart. »Mit den Leuten da drinnen, die schlecht über ihn reden, habe ich Mitleid, Gerald. Und natürlich mit dir …«

Bonniers Brauen zogen sich so stark zusammen, dass sie wie ein einziger Strich aussahen. »Das wird ein Nachspiel haben, Alessa.«

»Das wird überhaupt kein Nachspiel haben, Gerald. Du bist hier nicht der Bestimmer. Oder willst du etwa petzen? Ich weiß auch einiges über deine Person, bedenke dies.«

Er sah sie entsetzt an und stieß heftig den Atem aus, bevor er kopfschüttelnd den Balkon verließ. Für einen kurzen Moment drang beschwingte Ballmusik zu ihr hinaus. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür ins Schloss. Dann wurde es wieder angenehm still.

Sie seufzte laut auf. Unendlich froh, dass er gegangen war, ließ sie den Blick über die Stadt schweifen. Gerald war lästig. Die rassistischen Bemerkungen über Ryon, die sie an diesem Abend hatte anhören müssen, verletzten sie zutiefst. Sie wusste selbst zu gut, wie es war, wenn schlecht über einen gesprochen wurde. Als sie bei Florence zu arbeiten angefangen hatte, war es wie ein Lauffeuer durch alle Kreise gezogen: Alessa Arlington arbeitet jetzt als Krankenschwester! Nur Frauen aus der Unterschicht übten diesen Beruf aus. Alkoholikerinnen und Drogenabhängige, Prostituierte! Sie bringt ansteckende Krankheiten in unsere Häuser. Sie fasst Blut an. Sie wäscht Männern den Po. Sie fasst Tote an. Sie muss eine Schwesterntracht tragen! Sie muss tun, was andere von ihr verlangen … Inzwischen stand sie über dem Gerede. Aber vergessen war es nicht. Ihre Gedanken wanderten wieder zu Ryon Buchanan. Er hatte studiert, ein Schiff konstruiert. All das zählte nicht. Die Leute sahen in ihm, was sie sehen wollten: einen Wilden. In Amerika war das ganz sicher anders. Amerika war fortschrittlich. Schon allein deshalb, weil Frauen dort studieren und ihren Abschluss machen konnten. Sie sollte nicht länger zögern, sofern sie eine Zusage erhielt. Allerdings rechnete Florence fest damit, dass sie das kommende Schuljahr betreuen würde, und sie hatte zugesagt, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber was hieß das schon? Nichts! Sie war ein freier Mensch. Genauso frei wie Ryon Buchanan, der sein Zuhause verlassen hatte, um in einer fremden Stadt zu studieren. Sie atmete tief durch und schlenderte den Balkon entlang, langsam, noch immer ihren Gedanken nachhängend. Als sie die Ecke des Balkons erreichte, hob sie den Blick. Die Ellenbogen auf das Geländer gestützt, die Augen auf sie gerichtet, stand Ryon Buchanan. Als er sie sah, richtete er sich auf.

Ihr stockte der Atem und das Blut schoss ihr ins Gesicht. »Sie haben die ganze Zeit hier gestanden? Und haben alles gehört?«

Ryon schritt auf sie zu. Er legte beide Hände um ihre Taille und zog sie an sich. Sie konnte seine Atemzüge spüren, als er sich langsam zu ihr hinabbeugte und sie küsste. Das Gefühl war berauschend und ließ sie schwindeln. Ein unbändiges Verlangen überkam sie. Sie schlang die Arme um seinen Körper, doch kaum dass sie es tat, löste er die Umarmung. »Sie sind ein Wildfang, Ms. Arlington«, sprach er lächelnd.

Mit diesen Worten wandte er sich ab und ging.

Nach wenigen Minuten schon betrat Alessa wieder den Ballsaal. Sie drängte sich durch die Menschen, suchte nach Ryon. War er noch da? Sie fand ihn in ein Gespräch vertieft mit einem Mann. Verwundert erkannte sie, dass es der Inspector war, den sie durch John Croft auf der Bothnia kennengelernt hatte. Der Inspector war im Anzug da. Warum war er hier? Der Inspector ließ gerade seinen Blick abschätzig über Ryons Zopf streifen, wobei er registrierte, dass sie die beiden Männer beobachtete. In der nächsten Sekunde wandte er sich wieder um, doch Ryon hatte bemerkt, dass die Aufmerksamkeit des Inspectors abgewandert war und drehte ebenfalls den Kopf. Sie zuckte zusammen, als er sie ansah. Genau in diesem Moment wurde es laut im Raum.

»Sabotage! Die Bothnia ist sabotiert worden! Es wurde Dynamit sichergestellt auf dem Schiff!«

Alessa sah, wie ein Mann bei Kapitän William McMickan stand und – offensichtlich in Rage – nun auf ihren Onkel, der mit ihrer Tante und zwei Herren zusammenstand, zuschritt. Entsetzt verfolgte sie das Geschehen.

»Mr. Bridgetown feiert! Als sei nichts geschehen!« Der Mann baute sich vor ihrem Onkel auf. Die Musik brach ab. Alle Augen im Saal richteten sich auf den Mann und Bridgetown. »Ich, George Tendman, bin im Lloyd’s of London eingetragen als The Name of the Bothnia, also als Versicherer der Bothnia. Kaum dass sie im Lloyd’s Register registriert ist, fliegt der Dampfkessel der Bothnia in die Luft – und nun erfahre ich, dass Dynamit sichergestellt wurde und dass außerdem die Konstruktionspläne, die Sie, Mr. Bridgetown, sicher in Ihrem Hause verwahren sollten, gestohlen wurden!«

»Beruhigen Sie sich, Mr. Tendman«, entgegnete Bridgetown scharf.

»Beruhigen?«, schrie Tendman aufgebracht. »Ich habe ein Vermögen verloren. Das Lloyd’s Register ist kein sicherer Ort für die Verwahrung von Dokumenten. Offenbar hatte jemand in Ihrem Hause die Möglichkeit, sich über den Wert der Bothnia zu vergewissern und die Dokumente zu stehlen, und ist dann die entsprechenden Schritte gegangen, um die Bothnia aus dem Wettbewerb hinauszubomben! Wenn Sie es nicht selbst gewesen sind! Waren Sie nicht jüngst in Belfast und haben die Harland Werft besucht? Sind Sie nicht ein naher Freund von Thomas Ismay der White Star Line?«

Bridgetown holte aus und schlug Tendman mit der Faust ins Gesicht. Dieser fiel der Länge nach um und blieb reglos liegen.

Entsetzte Aufschreie von Frauen erfüllten den Raum, ein allgemeiner Aufruhr machte sich breit. Von irgendwoher hörte man eine Stimme rufen »Dann könnte man ja alle Reedereien verdächtigen!«, eine Frauenstimme schrie: »Vielleicht ist es ja der Indianer gewesen! Er war doch am Tag der Explosion auf der Bothnia!«

»Wir benötigen einen Arzt!«Bei diesen Worten löste Alessa sich aus ihrer Starre. Sie schritt zu ihrem Onkel und dem auf dem Boden liegenden Versicherer der Bothnia, kniete sich neben diesen und begann ihn zu untersuchen.

»Ich wusste nicht, dass Tendman derart aus der Rolle fallen würde, Mr. Bridgetown.« Es war Kapitän McMickan, der zu ihnen getreten war. »Er warf der Cunard Line Inkompetenz vor! Wir hätten die Fehlkonstruktion des Motors zu verantworten. Ich musste dies richtigstellen. Seine fälschliche Behauptung schadet dem Ansehen der Cunard Line. Charles MacIver ist bei diesem Sabotageakt zu Tode gekommen!«

Baker trat zu ihnen. Der Blick, den er Kapitän McMickan zuwarf, war eiskalt. »Ich hatte Sie um Stillschweigen gebeten. Es hat Tote und Verletzte gegeben, der Motor Ihres Schiffes wurde zerstört. Wenn Sie noch einmal meine Ermittlungen behindern …«, Baker beugte sich ein wenig vor und sprach leise weiter, »lasse ich Sie einsperren, bis dieser Fall gelöst ist.«

Kapitän McMickan sah erschrocken auf.

Alessa sah sich nach ihrer Tante um. Hatte Beth nicht eben noch neben Onkel Bridgetown gestanden? Sie hätte ihre Hilfe jetzt gebrauchen können!

»Mr. McMickan. Vielleicht könnten Sie und noch jemand helfen, diesen Mann in einen der Nebenräume zu tragen, damit ich ihn versorgen kann, ohne dass dreihundert Menschen dabei zusehen!«

McMickan nickte und einer der Gäste bot Hilfe an. Als sie den Raum verließen, begann das Orchester wieder zu spielen, und obwohl es laut war, konnte es den allgemeinen Aufruhr nicht wirklich überdecken.

Gegen die Spielregeln

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