Читать книгу Gegen die Spielregeln - Philea Baker - Страница 6

KAPITEL 1 Mittwoch, 10. Juni 1874, 14:44 Uhr Fenchurch Street, London

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Regentropfen trommelten auf das Kutschendach. In dicken Rinnsalen bahnte sich das Wasser seinen Weg am Fenster hinab, sammelte sich an dessen unterem Rand, von wo aus es durch eine unsichtbare Ritze tröpfchenweise ins Innere des Wagens drang. Eine kleine Pfütze hatte sich auf dem Boden gebildet.

Er hob den Blick und sah hinaus. Häuserfronten zogen in bizarren Formen an seinen Augen vorbei. Die Hitze im Innenraum der Kutsche hatte sich aufgestaut und erschwerte ihm das Atmen. Von Zeit zu Zeit war das Grollen eines entfernten Gewitters zu vernehmen. Den Hut in seinen Händen drehend, gab er sich dem Rütteln der Kutsche hin. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er sein Ziel erreichen würde.

Der Pfiff des Kutschers, der die Pferde in eine langsamere Gangart fallen ließ, kündigte das Ende der Fahrt an. Kaum dass die Räder stillstanden, riss er die Tür auf. Er gierte nach Kühlung, nach einem Hauch von Wind, aber in der Fenchurch Street, inmitten der City of London, war es trotz des Regens kein bisschen besser als in Mayfair. Er setzte den Hut auf. Die Straße war erfüllt von regem Treiben. Menschen mit Regenschirmen in der Hand säumten die Trottoirs, die Kutschen fuhren dicht an dicht. Das Hufgeklapper der Pferde übertönte alle anderen Geräusche.

Er stand vor dem dreigeschossigen Bau des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping. Majestätisch hoben sich die Mauern von dem wolkenverhangenen Himmel ab. Regentropfen benetzten sein Gesicht, als er die Fassade hinaufblickte. Anhand der hohen Fenster ließ sich erahnen, dass man an der Deckenhöhe im Lloyd’s Register nicht gespart hatte, denn die angrenzenden Häuser hatten bei gleicher Gebäudehöhe ein Stockwerk mehr aufzuweisen.

Wie er aus Erzählungen wusste, verdankte das Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping seinen Namen einem Kaffeehaus: dem Kaffeehaus von Edward Lloyd. Einst war es ein bescheidener Ort gewesen, an dem man sich getroffen hatte, um über Schiffe zu sprechen. Nun war es die einzige Klassifikationsgesellschaft für Schiffe weltweit. Hier, in der Fenchurch Street, wurden die Namen der Schiffe registriert nebst Baujahr, Werft, Heimathafen, Kapazitäten, Besitzer, Kapitän und vielem Weiteren – bis hin zum Abwrackdatum. Seine Gedanken wurden vom Kutscher unterbrochen, der nach seinem Lohn fragte. Er reichte dem Mann die verlangten Münzen, dann nahm er geschwind die Stufen, um ins Trockene zu gelangen.

Der Raum war von beeindruckender Größe. Er mochte mehr als die Hälfte der Grundfläche des gesamten Gebäudes einnehmen. Die groben Holzplanken knarrten leise unter seinen Füßen. Zwei große Glaskuppeln im hinteren Bereich, die an Bullaugen erinnerten, spendeten reichlich Licht für eine Vielzahl von Pulten. Jeder Winkel, jedes Detail verdeutlichte, worum es sich in diesem Haus drehte: um Schiffe. Die Wände waren olivgrün gestrichen. Mit Decken- und Wandstuck war sparsam umgegangen worden. Vor einer großen Tafel an der rechten Seitenwand diskutierten ein Dutzend Männer lautstark. In den Mauern, die als Raumteiler dienten, befanden sich Kamine. Zu dieser Jahreszeit waren sie eine bloße Zierde, im Winter waren sie jedoch sicherlich mehr als notwendig, um den großen Raum zu wärmen. Die gesamte linke Seite des Raumes war mit Bänken und Tischen bestückt, die den Besuchern Gelegenheit gaben, sich niederzulassen und dem Informationsaustausch zu frönen. Im Eingangsbereich, zu seiner Linken, befand sich die Anmeldung. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Zwei riesige Wanduhren, die in etwa fünf, sechs Metern Höhe an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren, zeigten die Zeit Londons und seine Zeit an: die Zeit Neuenglands. Während er wartete, ließ er seinen Blick über die Besucher gleiten. Das Lloyd’s Register war ein Ort von internationalem Charakter – aus allen Teilen der Welt trafen hier Menschen aufeinander. Das gefiel ihm.

»Guten Tag.« Der Mann hinter dem Pult musterte ihn interessiert.

»Guten Tag. Ich möchte ein Schiff registrieren lassen.«

»Das Schiff ist wo gebaut worden?«

»In Maine.«

»Wenden Sie sich bitte an Schalter sieben.« Der Mann deutete auf den Bereich mit den Glaskuppeln. Der Mann am Schalter sieben hieß Peck, wie er dem kleinen Metallschild auf dem Pult entnehmen konnte.

»Guten Tag. Ryon Buchanan aus Kennebunkport, Maine. Ich möchte ein Schiff anmelden.«

T. C. Peck musterte ihn skeptisch. »Guten Tag. Zunächst benötige ich die Konstruktionspläne und die Schiffsdaten.«

Ryon beugte sich hinab, öffnete seine Tasche und holte ein Bündel Unterlagen hervor. »Hier sind die Konstruktionspläne und Schiffsdaten der Ocean King, signiert von Nathaniel Thompson, dem Eigentümer der Thompson Werft.« Er legte die Papiere auf das Pult. Als er den Kopf hob, sah er, dass der Blick des Schalterbeamten starr auf seinem Zopf haftete, der durch das Hinabbeugen zur Tasche auf seine Brust gerutscht war. Am Schalter nebenan scherzte man.

»Ich benötige ferner Ihre Ausweispapiere, Mr. Buchanan«, erklärte T. C. Peck kurzangebunden.

Ryon fasste in die Innenseite seines Jacketts, ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden. Die Stirn in Falten gelegt, durchblätterte T. C. Peck seine Papiere und das Anschreiben von Nathaniel Thompson. Er atmete hörbar durch die Nase ein, während er den Lederumschlag öffnete, in dem sich die Unterlagen befanden. Um seine Mundwinkel zuckte es von Zeit zu Zeit, als er diese prüfte. »Die Dokumente werden hier verwahrt, damit die Daten im Greenbook aufgenommen werden können. Sie erhalten einen Beleg für die Aufnahme.« Er füllte ein Formular aus, setzte einen Stempel darauf, unterschrieb und reichte es ihm. »In zwei Tagen können Sie wiederkommen und Ihre Unterlagen abholen.« T. C. Peck hüstelte. »Die Konstruktionspläne sind nicht unterschrieben. Wenn Sie der Ingenieur dieses Schiffes sein wollen, unterzeichnen Sie sie jetzt.« Ryon nahm die Feder sowie die Unterlagen entgegen und signierte diese. »Das war es auch schon«, ließ der Schalterbeamte ihn wissen.

Die Verabschiedung erfolgte durch ein stummes Nicken.

Ryon schritt zurück zur Anmeldung, und nachdem er abermals gewartet hatte, bis er an der Reihe war, legte er einen Brief auf den Schalter. »Ich würde gern Mr. Bridgetown sprechen, sofern er im Hause ist.«

Der Mann hinter dem Schalter las das Schreiben und nickte schließlich. »Mr. Buchanan, wenn Sie bitte meinem Kollegen folgen möchten.« Er rief einen Bediensteten.

Im zweiten Stock des Lloyd’s Register of British and Foreign Shipping befanden sich der berühmte Committee Room und die Büros der Vorsitzenden. Auch hier waren Holzplanken ausgelegt, doch war die Einrichtung deutlich gehobener: Die Türrahmen waren von Marmorsäulen eingefasst, komplexe Mosaikmuster zierten die Decken. Der Geruch von Tabak und Holz, der im unteren Geschoss dominierte, war ebenfalls wahrnehmbar, jedoch schwächer.

Richard Bridgetown saß hinter einem riesigen Schreibtisch in einem Ledersessel und studierte Papiere, als Ryon Buchanan eintrat. Jeder Winkel des Raumes strahlte Macht und Eleganz aus: Orientalische Teppiche bedeckten den Boden des großen Büros, beeindruckende Gemälde mit Schiffsmotiven schmückten die Wände. Er wurde von dem Bediensteten vorgestellt. Bridgetown reagierte im ersten Moment irritiert, doch dann blitzten seine Augen auf. Er erhob sich und kam ihm entgegen.»Mr. Buchanan, ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Ryon ergriff die ihm dargebotene Hand. »Mr. Bridgetown, es ist mir eine Ehre.«

Bridgetowns Blick durchbohrte ihn förmlich. »Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen einen Brandy anbieten? Oder einen Gin Fizz?«

»Ich bevorzuge ein Glas Wasser.«

Bridgetown hob die Brauen, wies dann auf den Sessel vor seinem Schreibtisch und schritt zu einem Buffet, auf dem einige Flaschen standen. Ryon nahm in dem ihm offerierten Sessel Platz und betrachtete den muskulösen Mann, der Wasser aus einer Karaffe in ein Glas füllte und einen der oberen Schränke öffnete, um daraus eine Flasche zu entnehmen und sich aus dieser ein Glas einzugießen. Bridgetown war schlank und von stattlicher Größe. Seine halblangen, grauen Haare waren nach hinten gestrichen und hingen teilweise über die Ohren. Die Koteletten waren ebenfalls grau, nur der Schnurrbart schwarz. Er hatte eine gerade, kurze Nase und buschige Brauen. Obwohl sich seine Mundwinkel hinabneigten, wirkte dies weder abschätzig noch bitter, sondern vielmehr entschlossen. Der Vorsitzende des Lloyd’s Register strahlte Stärke aus.

Bridgetown durchquerte den Raum und reichte ihm das Glas Wasser. Nachdem er sich gesetzt und sein Glas auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, lehnte er sich zurück und musterte ihn aufmerksam. »Juni 1851 ist es gewesen, als Ihr Vater hier das erste Mal in diesem Sessel saß, in dem Sie nun sitzen. Er erzählte mir damals, dass er sehr bald Vater werden würde. Ich erinnere mich an dieses Zusammentreffen mit Ihrem Vater noch sehr genau. Ich weiß, dass er seinen Aufenthalt in London verkürzte, um rechtzeitig zu Ihrer Geburt daheim zu sein.«

»Ich kam am Tag seiner Rückkehr abends auf die Welt.«

»Ich weiß.« Bridgetown beugte sich über den Schreibtisch. »Lassen Sie uns auf unsere Zusammenkunft anstoßen.« Sie stießen an. Bridgetown lehnte sich wieder zurück. Einen Moment lang war nur das Plätschern der Regentropfen gegen die Fensterscheiben zu hören. »Es ist Ihnen sicher nicht entgangen, dass ich soeben einen Moment benötigte, Sie mit Ihrem Vater in Verbindung zu bringen.«

»Sie sind nicht der Einzige, dem es schwerfällt, eine Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir zu entdecken. Mein Bruder und ich sind nach der Mutter geraten.«

Bridgetown sah ihn nachdenklich an. »Ja, es ist offensichtlich, dass Ihr Vater Ihnen nichts von seiner weißen Haut vererbt hat. Dafür aber hat er Ihnen etwas anderes mitgegeben: die Leidenschaft für den Schiffsbau.«

»Ich habe sehr viel von meinem Vater über Schiffsbau gelernt, das ist richtig.«

Bridgetown hob die Brauen, verzichtete jedoch auf einen Kommentar hierzu. »Wie lange sind Sie schon in London?«

»Vier Tage. Ich hätte Sie gern früher aufgesucht, aber mein Weg hat mich zunächst zu Palmer’s Shipbuilding nach Jarrow geführt, da ich Charles und George Palmer sprechen wollte, bevor sie nach Liverpool reisen.«

»Nathaniel Thompson interessiert sich für den Bau doppelbödiger Schiffe?«

»Nein. Ich bin für eine Zusammenarbeit mit der Harland Werft diesbezüglich angefragt worden. Heute morgen traf ich mich mit Alexander Carlisle, um ihn über meine jüngsten Erkenntnisse zu informieren und die weiteren Schritte zu besprechen.«

»Davon hat er mir gar nichts erzählt! Ich traf Alexander Carlisle im Zuge der Registrierung seiner Britannic kürzlich hier im Hause. Die White Star Line kann sich glücklich schätzen, einen Ingenieur wie ihn in ihren Reihen zu haben. Das dürfte eine spannende Zusammenarbeit für Sie werden.«

»Das denke ich auch. Man kann nur von ihm lernen.«

»Dasselbe sagte er über Sie.«

Ryon sah verblüfft auf.

»Carlisle sagte mir, Sie hätten nicht nur das Know-how, sondern auch die Weitsichtigkeit eines Brunels. Er beschrieb Sie mir als einen Mann mit Fantasie, reich an unkonventionellen Ideen.«

Ryon nahm einen Schluck Wasser. »Ich weiß dieses Lob sehr zu schätzen«, erwiderte er.

Ein greller Blitz ließ den Raum hell aufleuchten, ein tiefer Donnerschlag folgte.

»Das ist England«, kommentierte Bridgetown mit Blick zum Fenster.

»Für die einen ist es England, für die anderen Wakinyan, der Donnervogel.«

Bridgetown lachte auf und nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Diesen Samstag findet der alljährliche Ball des Llyod’s im Claridge’s statt. Ich würde Sie gern mit einigen Leuten bekannt machen.«

»Vielen Dank für die Einladung. Ich komme ihr gerne nach.«

Es klopfte an der Tür und gleich darauf stürzte ein junger Mann in das Büro.

»Mr. Bridgetown«, stieß dieser mit aufgelöster Miene aus, »auf der Bothnia gab es eine Explosion. Möglicherweise ist der Geschäftsführer der Cunard Line, Charles MacIver, tot oder unter den Verletzten. Es wurde übermittelt, dass er sich just zum Zeitpunkt der Explosion im Maschinenraum befand.«

Bridgetowns Miene verfinsterte sich augenblicklich. »Wann ist das passiert?«

»Vor etwa einer Stunde.«

»Lassen Sie meine Kutsche vorfahren und sagen Sie meine Termine für heute Mittag ab.«

Bridgetown fasste die Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen und legte sie in eine Schublade, richtete einen kleinen, silber eingefassten Bilderrahmen auf, der zwischen diesen lag und sah schließlich Ryon mit ernster Miene an. »Die Bothnia wurde vor vier Tagen in unserem Haus registriert. Ein bemerkenswertes Schiff. Das Beste, das die Cunard Line seit langer Zeit gebaut hat. Charles MacIver«, Bridgetown hielt kurz inne, bevor er weitersprach, »ist mir seit vielen Jahren bekannt.« Er verharrte abermals einen Moment. »Ich traf Ihren Vater gestern Abend im White’s Club, als er gerade mit Charles MacIver sprach. Er tat sein Interesse kund, die Bothnia zu besichtigen. Möglicherweise ist er auch auf dem Schiff.«

Ryons Wangenmuskeln spannten sich an. »Ich komme mit«, sagte er.

Bereits von Weitem war die Unglücksstelle zu erkennen: Eine riesige schwarze Rauchwolke stieg unheilversprechend von dieser in den Himmel auf. Aufgeregte Stimmen drangen vom Schiff zu ihnen herüber, während sie den Steg passierten. Die Luft war von einem beißenden Gestank erfüllt. William McMickan, der Kapitän der Bothnia, stand auf dem oberen Deck und blickte mit versteinertem Gesichtsausdruck hinab auf die Geschehnisse unter ihm. Ein Dutzend Policemen war damit beschäftigt, Ordnung ins Chaos zu bringen, die Mannschaft zu vernehmen und dafür zu sorgen, dass niemand das Schiff verließ. Ein Verbrechen könne bislang nicht ausgeschlossen werden, hieß es. Schmerzensschreie ertönten vom Achterdeck, auf das man offenbar die Verletzten gebracht hatte. Ein kurzer Seitenblick verriet Ryon, dass Bridgetown ihn besorgt ansah.

Das Unwetter hatte sich gelegt, die Sonne sandte bereits wieder ihre Strahlen aus. Es war nach wie vor unerträglich heiß, die Luft strotzte vor Feuchtigkeit. Alles wirkte scharf, grell und bunt. Alles, bis auf den Rauch, der dem Maschinenraum der Bothnia entstieg. Nachdem sie sich ausgewiesen hatten, wurden sie von einem Constable auf das Schiff gelassen. Ohne Umschweife steuerte Ryon auf die Unglücksstelle zu. Bridgetown begleitete ihn ein Stück, entschied sich dann aber, auf das obere Deck zu gehen, um mit Kapitän William McMickan zu sprechen.

Ryon sprang die Stufen zum unteren Deck hinab. Wenige Schritte von der Tür entfernt, aus der der Qualm aufstieg, stand ein junger Mann der Fire Brigade, der seinen Helm unter dem Arm geklemmt hielt und angespannt auf die Tür blickte.

»Wissen Sie, wie viele Männer schon herausgeholt wurden?«, fragte Ryon ihn ohne Umschweife. Der junge Mann wandte sich ihm zu und blickte auf seinen Zopf, als sähe er einen Geist. »Sieben. Bis jetzt sind es sieben.«

»War darunter ein Mann von etwa vierzig Jahren? Ein Amerikaner? Braune Haare, mittelgroß?«

»Alle, die herausgeholt wurden, sind Maschinisten der Bothnia. Zwei von uns sind noch drin und suchen. Es heißt, der Geschäftsführer der Cunard Line sei noch im Maschinenraum, zusammen mit einem Ingenieur, der sich den Motor ansehen wollte. Ist das der Mann, den Sie suchen?«

»Ich glaube, ja. Würden Sie mir Ihren Helm und Ihre Uniform leihen?«

»Es sind zwei Leute von unseren Jungs drin, Mister. Und wenn Sie mich fragen, die hätte unser Chef gar nicht reinschicken sollen. Meine Kollegen riskieren ihr Leben für nichts. Da drin lebt keiner mehr, da bin ich sicher.«

Ryon blickte ihn mit eisiger Miene an. »Es ist mein Vater, nach dem ich suche.«

Der Brigadist sog die Luft laut durch die Nasenflügel ein. »Sie sind doch gar kein Weißer. Das soll Ihr Vater sein, da drin?«

»Mein Vater ist Amerikaner. Meine Mutter Lakota. Genügt Ihnen das als Erklärung?«

Der Brigadist betrachtete ihn skeptisch, reichte ihm jedoch den Helm und zog seine Uniform aus. »Das ist die Hölle da drin«, meinte er.

Ryon zog sein Jackett aus, stieg in die Uniform und setzte sich den Helm auf. »Das glaube ich Ihnen. Aber ich muss gehen. Haben Sie vielen Dank.«

Die Hitze schlug ihm wie ein Peitschenhieb ins Gesicht. Durch die Augenschlitze erkannte er verschwommen Feuer am Ende des Ganges. Entschlossen ging er darauf zu, doch mit jedem Schritt wurde die Hitze unerträglicher. Lautes Prasseln und Zischen betäubte seine Ohren. Plötzlich wurde er aus dem Nichts heraus grob angestoßen. Er stützte sich mit seiner Rechten an der Wand ab. Ein blitzartiger Schmerz schoss in seine Hand: Die Wand glühte. Schwach meinte er die Umrisse eines Mannes zu erkennen, der einen anderen schulterte. Er blickte noch einmal den Gang hinunter zum Maschinenraum. Alles war orange, verzerrt. Eine weitere Gestalt tauchte plötzlich auf, fasste ihn grob an der Schulter und zog ihn mit sich zum Ausgang. Er besaß kein Quäntchen Luft mehr in den Lungen. Das Gefühl, zu ersticken, war alles bestimmend.

Kaum dass sie draußen waren, sog er gierig die frische Luft in seine Lungen. Er beugte sich vornüber, der Helm fiel hinab. Seine Haut glühte. Als er die Augen aufschlug, besah er sich seine Hand, auf der sich gerade Brandblasen bildeten. Er sah sich nach Wasser um, fand einen Eimer und ließ die Hand darin versinken. Er öffnete die Uniform und strich sie von sich ab. Ihm war heiß, unfassbar heiß. Mit der linken Hand krempelte er die Ärmel hoch, öffnete die oberen Knöpfe seines Hemdes. Sein Brustkorb hob und senkte sich heftig von der Anstrengung. Die gebräunte Haut und das große Tattoo auf seiner Brust, welches durch sein offenes Hemd zutage trat, glänzten von Hitze und Schweiß. Unweit von ihm entfernt standen die beiden Männern der Fire Brigade, die mit ihm im Maschinenraum gewesen waren. Sie wurden von Kollegen und Krankenschwestern versorgt. Auf dem Boden lag der Mann, den sie herausgeholt hatten. Es war sein Vater. Ein Arzt saß kniend vornübergebeugt vor diesem. In der nächsten Sekunde war er bei ihm. Schwere Verbrennungen und Verletzungen, vermischt mit Blut, waren sichtbar. Der Brustkorb seines Vaters hob und senkte sich kaum wahrnehmbar, die Augen waren geschlossen. Sein Vater bewegte die Lippen, sie formten ein Wort, ohne jedoch einen Laut zu bilden. Unversehens zog er deutlich hörbar die Luft ein, dann sank sein Oberkörper zusammen und regte sich nicht mehr.

»Für diesen Mann kommt jede Hilfe zu spät«, sprach der Arzt. Er atmete tief ein. »Sie kannten ihn?«, fragte er Ryon zugewandt.

»Er ist mein Vater.« Ryon ergriff die Hand seines Vaters und murmelte leise Worte in seiner Muttersprache. Kaum dass er gesagt hatte, was er seinem Vater hatte sagen wollen, erklang eine helle Frauenstimme.

»Dr. Croft?« Eine Krankenschwester trat zu ihnen. »Wir bräuchten Ihre Hilfe auf dem Achterdeck. Wenn Sie Zeit hätten …«

Ryon musterte sie. Die Krankenschwester war größer als die meisten Frauen. Ihre schwarze Schwesterntracht war durchnässt und klebte an ihr. Sie blickte abwechselnd auf seinen Vater und ihn, Traurigkeit und Überraschung spiegelte sich in ihren bernsteinfarbenen Augen.

»Ich komme«, sprach der Arzt. »Mein Beileid«, sagte er zu Ryon, während er aufstand.

Dieser nickte und sah den beiden nach, als sie gingen. Die Krankenschwester drehte sich noch einmal um, wandte sich aber sogleich abrupt ab, als sie gewahr wurde, dass er sie ansah. Der Arzt schritt mit ihr zu einem Policeman, der Ryon aus der Ferne taxierte. Sofort hatte er das Gefühl, dieser habe ihn schon länger im Visier. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung wirkte der Mann abgebrüht. Das Chaos an Deck schien ihn nicht im Geringsten zu erschüttern. Ryon stand auf und schritt wieder zum Eimer, um seine Hand zu kühlen. Er atmete tief durch, betrachtete seinen Vater, der nun von zwei Männer der Fire Brigade auf eine Trage gelegt wurde.

»Wer sind Sie? Was hatten Sie da drinnen zu suchen?«, wurde er barsch zur Rede gestellt. Er blickte in kühle, graue Augen. Es war der Policeman. Sein Blick durchbohrte ihn förmlich.

»Mein Name ist Ryon Buchanan. Ich wollte meinen Vater aus dem Feuer retten.« Ryon wies mit dem Kopf auf seinen toten Vater. »Und wer sind Sie?«

»Das können Sie irgendwem erzählen, aber nicht mir! Halten Sie sich aus unserer Arbeit raus. England ist nicht Amerika. Wir befinden uns nicht in der Prärie. Hier macht nicht jeder, was er will.«

Ryons Miene verfinsterte sich. »Offenbar schon.« Er deutete mit dem Kopf auf die Tür, aus der noch immer schwarzer Rauch drang.

»Ein Dampfkessel ist explodiert. Offenbar ein technischer Defekt.«

»Warum sind Sie dann hier, Mister …?«

»Baker. Inspector Orville Baker. Ich bin hier, um sicherzustellen, dass kein Verbrechen vorliegt, was aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht der Fall ist. Die Bothnia ist ein brandneuer Segeldampfer. Sie wäre nicht das erste Schiff, das aufgrund eines technischen Defekts ein Unglück ereilt.«

Ryon beugte sich vor und seine Augen verengten sich zu engen Schlitzen. »Mein Vater ist tot.« Er nahm die Hand aus dem Eimer und betrachtete die Verbrennung, bevor er wieder anhob zu sprechen und sich dem Inspector zuwandte. »Im Maschinenraum riecht es nach Dynamit.«

»Haben Sie auch Geister gesehen da drinnen, die uns Hinweise geben könnten?« Der Inspector lachte spöttisch auf. »Wir untersuchen die Unglücksstelle und prüfen jeden Mann. So arbeitet man in England, nicht mit der Nase.«

»Das ist der Blick eines Wasicu. Der Schuldige befindet sich möglicherweise gar nicht mehr auf dem Schiff, Inspector Baker. Sie sind später eingetroffen als die Krankenschwester – ihre Kleidung ist nass, die Ihrige trocken.«

Der Inspector rümpfte die Nase. »Wie sind Sie überhaupt auf dieses Schiff gekommen? Und wann?«

»Ich bin mit Mr. Bridgetown auf dieses Schiff gekommen. Nach dem Regen, wie Sie sehen.«

»Ich werde das prüfen.«

»Machen Sie das. Ich werde jetzt Mr. Bridgetown aufsuchen.« Mit diesen Worten wandte Ryon sich ab.

Unwillkürlich rückte der Schmerz wieder in den Vordergrund, vertrieb jeden anderen Gedanken. Eine leichte Brise zog über das Schiff und ließ ihn innehalten, spontan den Kopf in den Nacken werfen und die Augen schließen. Das Bild seines sterbenden Vaters war sogleich da. All das Blut. All die Verletzungen. Sein Brustkorb, der sich hob und zum letzten Mal senkte. Er hatte den Namen seiner Mutter ausgesprochen, ohne einen Laut.

Ryon öffnete die Augen wieder und sah in den blauen Himmel. Er musste Bridgetown finden.

Auf dem oberen Deck war dieser nicht mehr. Auch der Kapitän war nirgends zu sehen. Die erhöhte Position erlaubte ihm jedoch, das Schiff zu überblicken. Schließlich fand er Bridgetown auf dem Achterdeck stehend, bei den Verletzten und den Krankenschwestern.

Ein Schreckensszenario bot sich seinen Augen, als er die Treppen zu diesem hinabstieg. Fünf verletzte Männer zählte er. Weiter rechts, in einigem Abstand, registrierte er drei mit Tüchern zugedeckte Körper. Die Verletzten wimmerten und stöhnten, während die Krankenschwestern sich mühten, sie mit sauberem Wasser, frischen Tüchern und Verbänden soweit zu versorgen, dass sie für den Transport ins Krankenhaus bereit waren. Auf dem Boden neben ihm lagen zu eben diesem Zweck Tragen bereit. Bridgetown stand einige Meter entfernt vor einem der Verletzten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ins Gespräch mit einer der Schwestern vertieft, von der er nur den Rocksaum und die Schuhe sehen konnte, da Bridgetown die Sicht auf sie versperrte.

»Onkel Richard«, hörte er eine energische Frauenstimme, »ich weiß es nicht! Und nun lass mich meine Arbeit machen …«

»Mr. Bridgetown …« Alles in ihm spannte sich an, als er neben Bridgetown die Krankenschwester wiedererkannte, die zuvor zu ihm und dem Arzt getreten war. Es lag eine Entschlossenheit in ihrem Blick, in ihren dunkelbraunen Augen, die er noch nie zuvor bei einer anderen Frau gesehen hatte.

»Mr. Buchanan.« Bridgetown holte tief Luft, während er irritiert auf Ryons offenes Hemd blickte und das Tattoo auf seiner Brust wahrnahm. »Kapitän McMickan sagte mir, dass Ihr Vater an Bord war. Dass es keine Hoffnung gibt, noch Lebende aus dem Maschinenraum zu bergen. Er steht unter Schock, konnte mir nicht sagen, ob Ihr Vater unter den Verletzten ist … Sagen Sie, waren Sie etwa im Maschinenraum?«

»Ja, doch ich kam zu spät. Einer der Männer der Fire Brigade hat meinen Vater geborgen. Er ist tot.«

Bridgetown zuckte zusammen und blickte ihn erschüttert an. »Es tut mir leid …«

»Mein herzliches Beileid, Mr. Buchanan.« Bridgetowns Nichte senkte den Kopf.

Eine Pause entstand.

»Was ist das?« Sie ergriff sein Handgelenk und betrachtete die Verbrennung.

»Ich wurde angerempelt und stützte mich an einer heißen Wand ab.«

Sie hob die Brauen und schüttelte missmutig den Kopf. »Das muss behandelt werden.« Rasch wandte sie sich um, schritt zu ihrem Koffer und entnahm eine Dose. »Dies ist eine Brandsalbe, Mr. Buchanan.« Sie schraubte die Dose auf und nickte ihm aufmunternd zu. »Kommen Sie, lassen Sie sich versorgen.« Sein Herz begann zu rasen. Ihre Hand fühlte sich weich an. Er sah, dass ihre Finger gerötet waren, sie trug keinen Ring. Als er aufsah, gewahrte er, dass sie seine Tätowierung in Augenschein nahm. Er wandte den Blick ab, sah einen Mann, der trotz der schwerwiegenden Verletzung, die er von dem Unglück davongetragen hatte, bei Bewusstsein war. Ein großes Holzstück ragte aus seinem Bein heraus. Der Fremdkörper war mit einem Verband fixiert worden. Eine derartig hässliche Verwundung hatte er schon einmal gesehen. Damals war der Verletzte auf die gleiche Weise versorgt worden. Sein Blick schweifte weiter. Ein Koffer mit Tüchern, Verbänden und Medikamenten stand offen neben diesem, ebenso eine Schale mit Wasser, das rot gefärbt war. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt dem Verband, den sie ihm, nachdem sie seine Hand eingesalbt hatte, anlegte.

»Mr. Buchanan, ich habe Sie noch nicht miteinander bekannt gemacht. Dies ist meine Nichte Alessa Arlington.«

»Bitte treten Sie zur Seite.« Ein paar Schiffsleute hatten sich eine der Tragen gegriffen und bahnten sich einen Weg zu den Verletzten. Voran schritt eine junge Schwester. »Wen sollen wir zuerst mitnehmen?«, fragte diese Bridgetowns Nichte.

Alessa deutete mit dem Kopf auf einen der Verletzten. »Den hier zuerst. Jack heißt er, so viel habe ich aus ihm herausbringen können. Mary, lass ihn nicht aus den Augen. Pass auf, dass er nichts macht. Das Holzstück darf auf keinen Fall bewegt werden.«

Mary nickte. »In Ordnung.«

Alessa trat zur Seite, um den Männern Platz zu machen, ebenso Ryon und Bridgetown.

»Vielen Dank für die Versorgung, Ms. Arlington.«

Alessa schraubte den Verschluss der Dose zu und reichte sie ihm, wobei sie ihm tief in die Augen sah. Sie wirkte mit einem Mal streng. »Tragen Sie die Salbe jede Stunde auf, Mr. Buchanan. Das lindert die Schmerzen und fördert den Heilungsprozess. Wenn die Blasen aufgehen, legen Sie besser wieder einen Verband an, um einer Infektion vorzubeugen.«

Er bedankte sich.

Bridgetown drängte zum Aufbruch und sie verabschiedeten sich voneinander. Bevor er Bridgetown folgend das Deck verließ, sah er sich nochmals nach ihr um. Sie stand noch immer am selben Platz. Irgendwie schien sie sich ertappt zu fühlen, als ihre Blicke aufeinandertrafen, denn sie senkte unwillkürlich die Lider und wandte sich ab.

In der Kutsche kreiste ihr Gespräch um die Explosion auf der Bothnia und den Tod seines Vaters. Sie trafen eine Verabredung für den nächsten Tag; Ryon wollte einen Blick in das Greenbook werfen, um mehr über die technischen Details der Bothnia in Erfahrung zu bringen. Für ihn stand fest, dass es sich nicht um ein Unglück, sondern um Sabotage handelte. Ryon versäumte es auch nicht, mit Bridgetown über Inspector Baker zu sprechen. »Ich bin skeptisch, ob er den Aufgaben eines Inspectors gewachsen ist. Er ist viel zu jung, besitzt vermutlich keine Erfahrung«, tat Ryon seine Zweifel kund.

Doch Bridgetown wischte seine Bedenken beiseite. »Kapitän McMickan sagte mir, er habe direkt nach der Explosion The Met, das ist der Metropolitan Police Service, verständigt. Der Leiter, Garrick Bowie, habe gesagt, er schicke einen seiner besten Männer. Möglicherweise täuscht der erste Eindruck. Warten Sie ab.«

Ryon beschloss, Bridgetowns Rat zu folgen und abzuwarten. Vielleicht hatte der junge Inspector entgegen seiner Annahme doch einiges in petto. Sein abweisendes Verhalten ihm gegenüber stand auf einem anderen Blatt.

Inzwischen war es später Nachmittag. Die Kutsche bog in die Fenchurch Street ein. Bridgetown stieg aus, verweilte aber mit einem Fuß auf der letzten Stufe, während er sich Ryon zuwandte. Auf seiner Stirn hatte sich eine tiefe Furche gebildet. »Mir ist aufgefallen, dass meine Nichte Eindruck auf Sie gemacht hat. Deshalb möchte ich Ihnen etwas über sie sagen: Alessa hat ihren Vater vor einem Jahr verloren. Er ist bei einem Brand auf einer Baumwollplantage in North Carolina ums Leben gekommen, als er diese für seine Kleidermanufaktur besichtigte. Meine Schwester, Alessas Stiefmutter, ist in großer Sorge, denn Alessa hat vielerlei Flausen im Kopf. Seit ein paar Jahren arbeitet sie in diesem Krankenhaus von Florence Nightingale, aber das scheint ihr nicht zu genügen. Sie spielt mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern, zu studieren, redet von Selbstverwirklichung und Emanzipation … Ja, sie hat so ihren eigenen Kopf.« Bridgetown presste die Lippen aufeinander. »Meine Schwester ist der Ansicht, dass sie bald heiraten sollte. Und tatsächlich gibt es da auch einen Anwärter. Ich möchte, dass Sie das wissen.«

»Mr. Bridgetown, Ihre Nichte ist nicht nur eine hübsche, sondern auch eine in jeder Hinsicht wunderbare Frau, davon bin ich überzeugt. Ich schätze es zudem überaus, wenn eine Frau weiß, was sie will.«

Verwirrt blickte Bridgetown ihn an. Dann schien er zu begreifen, was Ryon ihm sagen wollte. Er nickte. »Wir sehen uns dann morgen.«

»Bis morgen, Mr. Bridgetown.«

Bridgetown schloss die Kutschentür und die Pferde trabten langsam an.

Ryons Blick wanderte zu seiner verbundenen Hand. Es gibt da einen Anwärter … Wieso gruben diese Worte sich derart verletzend in seine Gedanken? Wer war diese Frau, dass sie solche Gefühle in ihm auslöste?

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