Читать книгу Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur - Philip José Farmer, Christian Endreß - Страница 5

Frühstück für Sherlock Holmes

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Nur wenige Tage bevor wir im Dartmoor eine der gefährlichsten Episoden erleben sollten, die ich als Chronist der Fälle des großen Sherlock Holmes jemals bezeugt und niedergeschrieben habe, kam Inspector Hopkins zu unschicklich früher Stunde in die Baker Street. Nicht nur hatte an diesem Morgen im September des Jahres 1888 der Name Baskerville für uns noch keine größere Bedeutung und bescherte mir allein der Gedanke an rote Augen im Nebel noch keine Schweißausbrüche – der Inspector kam sogar noch vor dem Milchmann und dem Zeitungsboten.

Mrs. Hudson, eigentlich die gute Seele des Hauses und auch sonst in jederlei Beziehung eine Seele von Mensch, gab sich dann auch nicht die geringste Mühe, ihr Missfallen ob der frühen Stunde zu verbergen. Dabei war sie als Haushälterin von zwei Junggesellen und vor allem natürlich des exzentrischen Sherlock Holmes einiges an Kummer gewohnt – immerhin waren Säureflecken auf den Teppichen und giftige Dämpfe im Treppenhaus, wenn mein Freund ein Experiment verfolgte, ebenso normal wie Einschusslöcher in den Wänden, wenn Holmes das Kaliber einer bestimmten Mordwaffe suchte, oder Schweinehälften, die mein Mitbewohner mitten im Sommer an einen Fleischerhaken in der Decke des Salons hängte, um eine Studie in Verwesung anzustellen. Außerdem konnte Mrs. Hudson den jungen Hopkins gut leiden und brachte in der Regel sofort Tee und Kekse oder Sandwiches, wann immer der aufstrebende Chefermittler von Scotland Yard uns oder vielmehr meinen Freund zu einer sittsameren Stunde aufsuchte.

Doch dieser frühe Besuch war ein Affront gegen die Etikette, und so etwas ließ die Hausherrin nur Holmes durchgehen, bei dem sie es längst aufgegeben hatte, ihm das beizubringen, was man gemeinhin unter praktischer Förmlichkeit verstanden hätte – gegen Holmes’ ureigenen Pragmatismus war genauso wenig anzukommen wie gegen seine strapaziösen Eigenheiten als Haus- und Mitbewohner.

Darüber hinaus sah Mrs. Hudson an diesem Morgen auch nicht ganz so frisch und makellos aus wie üblich, und ich gestehe, dass ich mir bis zu diesem Moment nie Gedanken darüber gemacht hatte, wann sie morgens aufstand. Holmes und ich waren keine Frühaufsteher – Mrs. Hudson musste das Frühstück selten vor neun bringen –, und ansonsten war es wie mit einem Korsett: Ein wahrer Gentleman durfte sich durchaus am Ergebnis und den Vorzügen erfreuen, sollte aber nie zu intensiv über das Prozedere und das Leid im Hintergrund nachdenken.

»Ich nehme an, die Herren verzichten heute auf ihr Frühstück?«, fragte Mrs. Hudson frostig.

»Das hoffe ich!«, versetzte Hopkins geradezu unerschrocken, was wohl seiner Müdigkeit angerechnet werden musste, die deutlich an seinem jugendlichen Gesicht abzulesen war.

Auch über die Zeitabläufe der Männer von Scotland Yard hatte ich bisher nie großartig nachgedacht, wie ich gern zugebe. Doch wenn der Kollege von Lestrade, Gregson und MacDonald bereits zu solch früher Stunde bei uns vorsprach, musste man ihn zweifelsohne noch eher aus dem Bett gescheucht und zu einem Tatort gerufen haben.

»Richtig so, Hopkins. Was sind schon Porridge und Würstchen im Vergleich mit einem Mordfall am Morgen, was?«, meinte Holmes gut gelaunt. Mit einem Blick auf die wenig entzückte Mrs. Hudson fügte mein Freund jedoch eilig hinzu: »Nichts gegen Ihre fabelhafte Küche, Mrs. Hudson … Watson wäre ohne Ihr Frühstück ja geradezu ungenießbar!«

Für den Detektiv selbst war ein Mord freilich besser und nahrhafter als jedes noch so üppige Frühstück und jeder noch so starke Kaffee – von Tee hielt Holmes sowieso nicht viel, ob mit oder ohne Milch, und seinen Kaffee trank er ebenfalls schwarz und ohne Zucker.

Mir fiel auf, dass Holmes an diesem Morgen auch ohne Kaffee von uns allen am frischsten wirkte. Dabei wusste ich ganz genau, dass er erst eine Stunde vor Morgengrauen von einem Erkundungszug in den Opiumhöhlen in Limehouse zurückgekommen war, wo er im mysteriösen Verschwinden des Kapitäns der Bella Swan ermittelte. Vermutlich hatte Holmes wie so oft, wenn er an einem Fall arbeitete, sogar seit zwei oder drei Tagen nicht geschlafen, ja nicht einmal an Schlaf oder auch nur ein kurzes Nickerchen gedacht. Allerdings war kein Schlaf ab einem gewissen Punkt oberflächlich betrachtet meist besser denn lediglich ein bisschen Schlaf, was Holmes’ gute Verfassung erklären mochte. Und habe ich selbst nicht oft genug darauf verwiesen, dass sich der große Sherlock Holmes ohnehin innerhalb anderer Grenzen bewegte als wir übrigen Normalsterblichen?

Zu gern hätte ich ihn an diesem Morgen gähnen gesehen, nur ein einziges Mal, wenn schon nicht verschämt, dann doch zumindest verstohlen hinter seiner bleichen Hand!

Der angenehm sterblich und müde wirkende Hopkins blinzelte dagegen überrascht in das künstliche Licht in unserem Salon.

»Woher wissen Sie denn jetzt schon wieder, dass es um einen Mord geht, Holmes?«

»Also bitte!« Mein Freund verschwand in seinen Räumlichkeiten, um sich mit der ihm zu eigenen Schnelligkeit beim Wechsel seiner Kleidung umzuziehen und den purpurfarbenen Hausmantel gegen Hemd, Weste, Anzug und Krawatte einzutauschen. Ich ging ebenfalls in mein Schlafzimmer und hoffte, nicht allzu lange nach dem theatererprobten Detektiv fertig zu werden, worauf ich jedoch nicht zu wetten bereit gewesen wäre, selbst wenn ich schweren Herzens auf meine ordentliche Morgenrasur verzichtete.

Kurz überlegte ich, wann Holmes sich eigentlich rasierte. Denn sah man einmal von seinen lethargischen Phasen ab, in denen er sich intensiv seiner siebenprozentigen Kokain-Lösung hingab und nur selten vom Sofa erhob, während er in den Untiefen seines eigenen, gelangweilten Geistes auf die Jagd nach Stimulanz ging, dann waren die hageren Wangen des Detektivs immer vorbildlich glatt rasiert.

Wann rasierte sich Sherlock Holmes zwischen einer Nacht wie der letzten und einem Morgen wie diesem?

Holmes’ putzmuntere Stimme tönte derweil laut an allen angelehnten Türen vorbei und erreichte jeden Winkel der Wohnung, in meinem Zimmer wie im Salon, wo Hopkins neben Mrs. Hudson wartete und sich das allgegenwärtige Chaos besah, das Holmes’ Profession und Lebensweise mit sich brachten und das ich längst als Teil meines Lebens akzeptiert hatte.

»Warum sonst sollten Sie um diese Uhrzeit hier vorsprechen, Hopkins? Das ist nun wirklich keine Zauberei. Entweder wurden über Nacht die Kronjuwelen gestohlen, oder jemand wurde ermordet und Sie haben keinen Schimmer, was Sache ist. Und da das erste, unter uns gesagt ziemlich verlockende Szenario meinen zu dieser Stunde eher unbekömmlichen Bruder zu Ihrem Begleiter gemacht hätte, bleibt ein schöner, altmodischer Mord.«

Holmes’ älterer Bruder Mycroft war ein wichtiger Mann im Schatten des Throns, und gleichwohl er seinen heiß geliebten, schweigsamen Gentlemen’s Club in der Pall Mall nur selten verließ, wäre der beleibtere Holmes ohne Frage eine würdige Ergänzung unserer morgendlichen Runde gewesen.

»Ach du liebe Güte!«, hörte ich Mrs. Hudson indes murmeln, bevor sie uns Männer alleine ließ in der Wohnung im ersten Stock, deren Mietvertrag sie sicherlich ein- bis zweimal die Woche am liebsten zerrissen hätte.

»Heute also keine Kekse«, sagte Hopkins bedauernd, sobald die Tür hinter unserer Haushälterin ins Schloss gefallen war.

Ich hatte mich beeilt und band noch mein Halstuch, als ich in den Salon zurückkehrte – Holmes stand dennoch bereits fertig angezogen mit Mantel, Hut und Spazierstock neben Hopkins.

»Ah, Watson, endlich!« Mein Mitbewohner warf mir meinen Mantel zu, den er sich über den Arm gelegt hatte. »Das wurde aber auch Zeit!« Und da ihm natürlich nicht entging, dass ich mir mehrere Male unbehaglich mit der Hand übers Gesicht fuhr, fügte er hinzu: »Haben Sie sich etwa noch rasiert? Watson, Watson.« Der Detektiv schüttelte in einer Geste sanften Tadels sachte den Kopf. »Sie sagen mir doch immer, ich solle mich häufiger an die Etikette halten. An das, was angebracht und schicklich ist. Dann muss ich Ihnen das nun – bei aller Freundschaft – vermutlich auch sagen: Man rasiert sich nicht, wenn irgendwo eine Leiche kalt wird, alter Knabe …«

* * *

»Das ist das Opfer.« Hopkins verbarg ein Gähnen hinter der Hand und deutete mit der anderen vage auf den Mann, der nicht viel älter oder jünger war als der Inspector. Er lag am Boden, als wäre er einfach dort zusammengebrochen, mit aschgrauer Haut, angstverzerrtem Gesicht und wie zum Schrei aufgerissenem Mund. Was immer den Mann zu früher Stunde in seinem bescheidenen Heim ereilt hatte – er musste seinem Mörder und einem geradezu kosmischem Schrecken von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden haben. »Wayne Blossom, einunddreißig, Junggeselle. Arbeitet … arbeitete als Ausfahrer für die Bäckerei unten im Haus. Als er nicht wie jeden Morgen erschien, um seine Lieferung aufzuladen, wollte ihn der Bäckermeister holen und fand ihn so.«

»Wie kam er ins Zimmer?«, fragte Holmes, während er gemäßigten Schrittes eine Reihe von Kreisen um den Toten zog und anschließend in die Hocke ging und sich den Leichnam aus verschiedenen Positionen und Perspektiven besah.

»Ihm gehört das Haus. Er hat einen Schlüssel zu jedem Zimmer, das er vermietet.«

»Hm-mh. Wer lebt sonst noch im Haus? Irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche? Eine kürzlich zerbrochene Beziehung? Eine Erbschaft? Geschwister? Sonstige Streitigkeiten? Politische Interessen? Nein, sparen Sie sich das. Ire ist er keiner, Schotte auch nicht. Der Knoten seiner Krawatte ist typisch für jemanden, der erst vor einem Jahr aus Leeds hierherkam und der Londoner Mode zwar nacheifert, sie aber noch nicht vollkommen verinnerlicht hat.«

Hopkins und ich schwiegen andächtig.

Holmes’ durchdringender Blick ruhte nachdenklich auf dem Toten, ehe er sein Raubvogelgesicht ruckartig wieder dem Inspector zuwandte.

»Nun? Reden Sie schon! Was haben Sie bisher, Mann?«

»Nichts.« Hopkins beschwor sein Notizbuch und unterdrückte ein weiteres Gähnen. »Ein unauffälliger, allein stehender junger Bursche, wie es sie in London zuhauf gibt.«

Holmes durchsuchte inzwischen die Taschen des Toten.

»Ah, hütet euch vor den Junggesellen und passt auf eure Töchter auf, was, Watson?« Der Detektiv erhob sich, ohne etwas gefunden zu haben. »Sagen Sie, Hopkins, was ist eigentlich aus der Tochter von Lord Streisand geworden, die Sie vergangenen Sommer getroffen haben? Ich glaube, wir waren zwei oder drei Mal sogar bei ein und demselben Konzert zugegen. Ich wusste gar nicht, dass Sie Pugnani schätzen! Oder sind dessen exquisite Kompositionen doch eher eine Vorliebe der Dame?« Bevor der perplexe Inspector antworten konnte, deutete Holmes schon mit seinem spitzen Kinn auf die Wand neben der Tür: »Ist Ihnen oder einem Ihrer Männer aufgefallen, dass auf der Kommode eine Waffe liegt, Inspector? Ich hoffe doch. Das sollte selbst Ihnen auffallen, wenn Sie einen Raum mit einem Toten betreten, was?« Holmes, der bei diesen Worten keineswegs lächelte, ging zu dem Schränkchen, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und nahm den Revolver. »Ah, ein Webley, was sagen Sie dazu, Watson? Sehen Sie doch mal, ob Sie mehr Glück haben als ich und an unserem unauffälligen Freund hier vielleicht sogar ein Einschussloch finden, das Ihnen bekannt vorkommt.«

Nicht, dass ich – anders als der Detektiv – einem Einschussloch mehr als ein Kaliber hätte zuordnen können, obwohl ich selbst tatsächlich einen ähnlichen Webley-Revolver besaß, wie manch einer meiner geneigten Leser sicherlich weiß.

»Sie haben sich die Leiche doch gerade selbst angesehen, Holmes. Er hat keinerlei sichtbare Verletzungen«, murrte Hopkins gekränkt. Während ich mich dennoch daranmachte, nun ebenfalls die Leiche des jungen Mannes zu untersuchen, zählte der Inspector an den Fingern ab. »Keine Schusswunde. Keine Stichwunde. Keine blauen Flecken. Keine Quetschungen. Keine Würgemale. Keine Abschürfungen. Nicht einmal schmutzige oder abgebrochene Fingernägel. Nichts, was auf einen Kampf oder auch nur Gewalteinwendung schließen ließe.«

»Er hat recht«, bestätigte ich, wobei Hopkins’ Miene keinerlei Aufschluss darüber gab, ob meine fachliche Bestätigung ihn nun erfreute oder ihm missfiel. »Nichts. Wer auch immer ihn erwischt hat, er hat nicht mit ihm gekämpft.«

Holmes, der inzwischen methodisch die Schubladen des Schränkchens durchsuchte, nickte abwesend.

»Was denken Sie, Watson – wann starb er?«

Ich besah mir noch einmal den Toten. »Vor Morgengrauen, schätze ich.«

»Schätzen Sie. So, so.« Holmes beendete seine Durchsuchung der alten Kommode, die trotz allem noch so etwas wie das Prunkstück des spärlich möblierten Zimmers war, und wandte sich wieder uns und dem Rest der kargen Kammer zu. »Wir haben also einen kleinen Raum, dessen Tür und Fenster von innen verschlossen sind«, begann mein Freund dozierend. »Geheimgänge dürfen ausgeschlossen werden, das hier ist nicht gerade eine Burg – stimmen Sie mir zu, meine Herren?« Holmes wartete unser Gemurmel nicht ab. »Einen Junggesellen, der zu früher Stunde tot in seinem Zimmer liegt, allerdings nicht in der Kleidung, in der man ihn zweifelsohne unten erwartet hat, um Körbe mit Brotlaiben und anderen Backwaren auf seinen Karren zu laden, und mit keinem Penny in der Tasche. Das ist Ihnen wieder entgangen, was, Hopkins? Nun. Wo wollte unser Freund also in dieser frühen Stunde und diesem geschäftstüchtigen Aufzug ohne Geld hin? Dazu kommt eine geladene Waffe auf der Kommode neben seiner Wohnungstür, griffbereit, sobald er seine Festung der Einsamkeit verlässt, geladen und noch mit allen Patronen in den Kammern. Er hätte sich also wehren können. Es sei denn natürlich, sein Mörder war ein Geist.«

»Das ist nicht Ihr Ernst, Holmes!«, entfuhr es Hopkins.

»Natürlich nicht«, entgegnete der Detektiv schroff. »Obwohl man aus dem Mehl in der Backstube unten und Watsons Schriftstellerfantasie sicherlich ein passables Eifersuchtsdrama um einen gut aussehenden Mieter und die junge Gattin des Bäckermeisters spinnen könnte, in dem auch Platz für einen falschen Geist wäre.«

»Der Mann war nicht in der Wohnung«, sagte Hopkins sofort. »Seine Schuhe sind voller Mehl. Er hätte Abdrücke hinterlassen. Er schloss auf, sah den Toten und rief einen Constable zwei Straßen weiter.«

»Sehr gut, Hopkins! Sie werden langsam wach, scheint mir. Aber haben Sie auch des Rätsels Lösung?«

Hopkins blickte erst den Toten und dann mich an.

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ah, Watson, nicht so bescheiden!« Holmes schnalzte mit der Zunge. »Sie haben uns schließlich bereits die Lösung dieses Falles präsentiert!«

»Habe ich?«, fragte ich verwirrt.

»Hat er?«, wunderte sich auch Hopkins.

Holmes seufzte mit der Ernüchterung eines Lehrmeisters, der sich wieder einmal nicht für die Engelsgeduld belohnt sah, die er gegenüber seinen Schülern aufbrachte.

»Eine geladene Waffe lässt darauf schließen, dass unser junger Freund hier überzeugt war, einen gewissen Schutz gegen etwas oder jemanden zu benötigen. Dass sie auf der Kommode liegt, legt zudem den Schluss nahe, dass er den Webley mit dorthin zu nehmen gedachte, wohin auch immer er noch vor Tagesanbruch in aller Stille und Heimlichkeit aufbrechen wollte.« Fast beiläufig ergänzte der Detektiv: »Es ist außerdem offensichtlich, dass er Spielschulden hatte.«

Holmes wollte bereits beschwingt fortfahren, als Hopkins ihn wie vom Donner gerührt unterbrach. »Woher wissen Sie das denn auf einmal?«

Holmes bedachte den Inspector mit einem vielsagenden Blick. »Wie oft habe ich Ihnen und Ihren Kollegen gesagt, dass Sie an einem Tatort all Ihre Sinne einsetzen müssen, Hopkins? Es ist nicht damit getan, nach Fußspuren Ausschau zu halten – obwohl das schon ein guter Anfang ist, wir wollen ja nicht übertreiben.« Von dieser Belehrung ging es umstandslos zur Analyse seiner Spielschulden-Theorie: »Sein Anzug – den er als Junggeselle mit schmalem Lohn nicht so oft gewaschen hat, wie es schicklich gewesen wäre – riecht nach Schweiß, Tabak, Alkohol, Opium und Tieren. Und Sie wissen ja beide, dass man am Rand einer Grube viel Geld verlieren kann, wenn der Terrier an einem Abend einmal keine Lust auf Ratten hat oder der Waschbär sich als ausgesprochen clever erweist. Von den anderen barbarischen Konstellationen und den Variablen, die unten in den Spelunken an den Docks dann und wann ins Spiel kommen, ganz zu schweigen. Das und die Abwesenheit jedweden Zahlungsmittels innerhalb dieser vier Wände sind ein sicheres Indiz dafür, dass unser Opfer Spielschulden hatte. Natürlich könnten Sie sich auch mit dem Schuldschein als Erklärung begnügen, den ich ganz hinten in der Schublade der Kommode gefunden habe.« Holmes gab ein abfälliges Geräusch von sich, wie so oft, wenn er sich mit dem irrationalen Verhalten der Menschen konfrontiert sah. »Als ob er dadurch aus der Welt gewesen wäre. Sie hätten den Schuldschein übrigens mit Leichtigkeit selbst finden können, Hopkins, wenn Sie und Ihre Kollegen sich nicht immer den einfachen und elementaren Dingen verweigern und einen Tatort auch einmal abseits seiner Leiche ernst nehmen würden.«

»Also hat ihn einer seiner Gläubiger umgebracht«, folgerte ich und sprach vermutlich aus, was auch dem betreten schweigenden Hopkins durch den Kopf ging. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht eine Bisswunde am Handgelenk übersehen und jemand unseren Freund umgebracht hatte, indem er jene kaltblütige Mordmethode angewandt hatte, die Holmes und mir schon in dem Fall begegnet war, den ich als Das gesprenkelte Band niedergeschrieben habe. Laut Holmes’ sollte es schließlich unlängst eine oder zwei chinesische Banden in der Nähe des Flusses geben, die in London im großen Stil operierten und inzwischen auch hier, im Herzen des Empires, ihre schmutzige Mordarbeit mithilfe giftiger Schlangen aus ihrer fernöstlichen Heimat erledigten.

»Haben Sie das etwa gesagt, Watson?« Holmes schnaubte. »Nein. Haben Sie nicht. Vor Morgengrauen. Das sagten Sie, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Und wann tut sie das schon?« Mein Freund deutete mit einer dramatischen Geste auf den Toten am Boden. »Und damit hätten wir die Todesursache. Denn man könnte auch sagen, er starb vor Grauen in Anbetracht dessen, was an diesem Morgen vor ihm lag. Wer weiß, was seine Kreditgeber ihm angedroht haben, wenn er bis zum Morgengrauen nicht das nötige Geld aufgetrieben hat? Tagesanbruch ist eine übliche Frist in diesem Gewerbe. Beim Gedanken, den skrupellosen Privatbankiers am Kanal mit leeren Taschen zu begegnen, ist dem Guten trotz seiner Waffe noch vor Verlassen der Wohnung das Herz stehen geblieben, um das es ohnehin nicht gerade gut stand, wenn ich die Notiz auf dem Papierfetzen richtig deute, der neben dem Schuldschein in der Schublade lag – Crataegus wird doch Patienten mit Herzschwäche empfohlen, richtig, Watson?«

»Weißdorn, richtig«, sagte ich leise, wohl wissend, dass Holmes sich nicht wirklich für meine medizinische Sachkompetenz interessierte, wenn er einmal dermaßen in Fahrt war und seinem staunenden Publikum seine brillanten Schlüsse präsentierte.

»Er starb also an seinem schwachen Herzen und in diesem Zusammenhang vor allem am Grauen dieses Morgens«, eröffnete uns der Detektiv im Folgenden auch schon schwungvoll. »Sehr poetisch, das Ganze, finden Sie nicht? Ah. Ich sehe schon. Sie sind anderer Meinung. Nun gut. Kommen Sie trotzdem, Watson? Hier sind wir fertig, und ich glaube, wir sollten in der Bäckerei vorbeischauen, um uns mit ein paar ofenfrischen Köstlichkeiten Mrs. Hudsons Gunst zumindest teilweise zurückzuholen. Mir macht es nichts aus, auf Rührei und Würstchen zu verzichten, doch Ihre athletische Gestalt würde unter einer Diät nur unnötig leiden …«

Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur

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