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Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur

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Als ich von meinem Besuch bei einem Patienten in die Baker Street zurückkehrte, wurde mir von innen ein vielzackiger Wurfstern entgegengeworfen, der neben meinem Ohr im Türrahmen unserer Wohnung einschlug.

Attentäter!, hätten wohl die meisten gedacht.

»Holmes!«, rief ich lediglich genervt.

»Ja, Watson?«, ertönte es arglos aus dem Salon.

»Sie haben mich doch längst auf der Treppe gehört und mit Absicht genau in dem Moment geworfen, als ich zur Tür hereinkam.«

»Das würde mir nicht mal im Traum einfallen, alter Knabe.«

»Natürlich nicht.« Ich seufzte. »Soll ich Ihnen Ihr Spielzeug mit zurück in den Salon bringen?«

»Kommt ganz darauf an.«

»Worauf denn, Holmes?«

»Ob die gute Mrs. Hudson bei ihrem nächsten Abstecher in unsere Junggesellen-Räuberhöhle einen Herzinfarkt bekommen soll oder nicht, wenn ein Wurfstern in ihrer Tür steckt.«

»Ich würde sagen, sie ist dank Ihnen Kummer gewohnt«, murrte ich und fügte leiser hinzu: »Genau wie ich.«

»Was sagen Sie, Watson?«

»Nichts«, erwiderte ich, stellte meine Arzttasche ab und zog kraftvoll mit beiden Händen an einem Zacken, um den Wurfstern aus Mrs. Hudsons armer Tür zu bekommen, ohne mir dabei die Finger aufzuschneiden.

Holmes saß, leger in Hose und Hemd gekleidet, im Salon. Einen seiner stets heillos überladenen, chaotischen Schreibtische hatte er halbwegs freigeräumt und darauf ein Sammelsurium aus Messern, Dolchen, Blasrohren, Pfeilen, Wurfsternen und anderen Waffen ausgebreitet, zu denen er sich Notizen machte.

»Exotische Waffenstudien?«, fragte ich.

Er blickte nicht auf, als er sagte: »Vielleicht bin ich ja auch einfach nur sauer auf Sie und sichte meine Optionen.«

»Unwahrscheinlich«, gab ich in meiner besten Imitation des Detektivs zurück und stellte meine Tasche an ihren Platz in dem, was Holmes nicht ganz zu Unrecht als unsere Räuberhöhle bezeichnete – denn wir hatten unsere Räumlichkeiten wirklich wild mit Büchern, Zeitschriften, Utensilien unserer jeweiligen Professionen und allen möglichen Dingen vollgestopft, die ich der Einfachheit halber als Artefakte unser beider abenteuerlicher Leben deklarieren möchte.

»Lestrade hat mir von einem Krieg zweier Banden aus Asien erzählt, die an den Docks um die Vorherrschaft im Opiumgeschäft streiten«, sagte Holmes. »Wovon ich selbstverständlich früher wusste als Lestrade und der Rest von Scotland Yard. Ich erstelle gerade einen Katalog ihrer Waffen, da ich befürchte, dass den ersten Scharmützeln bald die größeren, hässlicheren Schlachten folgen werden.«

»Das heißt, Sie haben da ein paar Originale von früheren Schauplätzen des Bandenkriegs? Tatorten, nehme ich an?«

»Richtig. Der chinesische Wurfstern, den Sie da in der Hand halten, steckte zum Beispiel in der Stirn eines Türstehers einer von Indern betriebenen Opiumhöhle.«

Ich warf den Wurfstern ein wenig hastiger als nötig auf den Tisch meines Mitbewohners.

»Keine Sorge, Watson. Er wurde gereinigt.«

»Ja? So zimperlich sind Sie doch sonst nicht, Holmes.«

Der Detektiv zuckte mit den Schultern. »Das getrocknete Blut hätte die Flugeigenschaften beeinträchtigen und somit meine Studien verfälschen können.«

Ich enthielt mich eines Kommentars, nicht zuletzt deshalb, weil in diesem Moment die Türglocke läutete, Stimmen unten an der Haustür zu vernehmen waren und Mrs. Hudson jemanden die knarzenden Treppenstufen zu unserer Wohnung emporführte.

»Hat Sie ein wütender Ehemann verfolgt?«, wollte Holmes wissen. »Alternativ: Bruder, Vater, Vetter, Onkel, Nebenbuhler, Verflossener.«

»Wenn ich am Schritt höre, dass es eine Frau mit Stiefeln und Absätzen ist, die Mrs. Hudson die Treppe hoch folgt, dann wissen Sie das längst«, gab ich kühl zurück.

»Nicht schlecht, Watson.«

Die Frau, die von Mrs. Hudson in unsere Wohnung geleitet wurde und Holmes um ein Gespräch bat, war eine exotische Schönheit, die sich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze bewegte. Sie gehörte zu den hübschesten Frauen, die ich je gesehen habe: langes, glattes schwarzes Haar, ein dunkler Teint, hohe Wangenknochen, tiefgründige braune Augen und eine Ausstrahlung, die wir Briten so gern als aristokratisch bezeichnen. Sie wirkte wie eine Prinzessin aus zwei Hemisphären, eine Göttin aus einer orientalischen Kolonie des Empires. Die Dame trug eine Bluse aus hellem Leinen, ein smaragdgrünes Halstuch aus Seide sowie Hosen und hohe Stiefel aus dunklem Leder – als wäre sie drauf und dran, sich in ein Dschungelabenteuer zu stürzen.

Sie war eine Frau, die das Herz eines jeden Mannes – bis auf das von Sherlock Holmes – höher schlagen und einen auf eine möglichst aufrechte Haltung achten ließ.

»Atmen, Watson«, raunte Holmes mir zu, nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten und Platz nahmen.

»Danke, dass Sie mich ohne Termin empfangen«, sagte Ms. Samantha Sterling. Ihre Stimme war ebenso angenehm wie ihr Anblick, wenngleich bar jedes Akzentes, den man womöglich erwartet hätte.

»Aber gerne doch«, sagte Holmes. »Ich gestehe, ich bin neugierig. Was führt eine Frau aus Eschnapur, die mit Tigern arbeitet, nach London – und in unser bescheidenes Heim?«

Ms. Sterling riss die sinnlichen braunen Augen auf. »Kennen wir uns etwa schon, Mr. Holmes? Wenn ja, so verzeihen Sie mir, dass ich mich nicht an die entsprechende Begegnung erinnere …«

»Ich sehe Sie heute zum ersten Mal«, beruhigte mein Freund unsere Besucherin sogleich.

»Es ist sein Trick, um die Leute beim ersten Treffen zu beeindrucken«, erklärte ich Ms. Sterling.

Holmes warf mir einen warnenden Seitenblick zu. »Wenn Sie gestatten?«, fragte er die Dame dann und erhielt ein zurückhaltend-aufforderndes Nicken. »Ihre Kleidung ist nicht besonders straßentauglich und entspricht auch nicht der hiesigen Mode, weder dieser noch einer vorherigen Saison. Es wundert mich, dass Mrs. Hudson Ihnen die Tür aufgemacht hat – Frauen, die Hosen anstatt Röcken tragen, begegnet sie mit tiefstem Misstrauen. Sie gehen also zweifellos einer Tätigkeit nach, die zwar schicke, aber robuste Kleidung und obendrein Beinfreiheit nötig macht, bei der Röcke ergo hinderlich wären. Die charakteristischen Schwielen an Ihren Händen und die spezielle Definition der Muskeln Ihres rechten Arms weisen darauf hin, dass Sie regelmäßig eine Peitsche schwingen. Wenn Sie einen Raum betreten, richten Sie sich zudem auf, fast so wie der gute Watson bei Ihrem Anblick eben – Sie tun das jedoch aus Gewohnheit, als wäre es Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, aus Gründen des Überlebens. Als müssten Sie jeden Tag Raubtieren ins Auge blicken, denen kein Anzeichen für Schwäche entgeht. Dazu die alten Narben am Hals, die von Krallen stammen und die ihr Halstuch meistens, aber nicht immer verdeckt. Und Ihr Parfüm ist zwar durchaus bezaubernd, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten, kann aber nicht ganz das Odeur von Panthera Tigris verbergen. All das zusammen lässt mich zu dem Schluss kommen, dass sie täglich mit Raubkatzen, genauer gesagt Tigern, zu tun haben. Was dagegen Ihre Herkunft anbelangt: Die Gravur ihres Armreifs zeigt den Tempel von Eschnapur. Und so oft, wie Sie den Reif berühren, sind er und seine Symbolik Ihnen sehr wichtig. Er könnte Sie auch an einen Liebhaber oder Ihre Eltern erinnern, doch Sie scheinen mir eine unabhängige Frau zu sein, deshalb verbinden Sie das Schmuckstück zuallererst mit Ihrem Zuhause in Indien.«

Ms. Sterling lächelte und zeigte zwei perlweiße Reihen kleiner, runder Zähne. »Ausgezeichnet«, sagte sie erfreut. »Sie sind so gut, wie man sagt.«

Mit einem Funkeln in den grauen Augen sagte mein Freund: »Das und zuweilen noch besser, wenn man mir die Gelegenheit gibt. Wie kann ich Ihnen also helfen, Ms. Sterling?«

»Ihre Schlussfolgerungen in Hinblick auf meine Herkunft und meine Tätigkeit sind vollkommen korrekt, Mr. Holmes. Ich wurde in Indien geboren und verbrachte viele Jahre meines Lebens in diesem Land, wo mein Vater als Ingenieur einer britischen Firma arbeitete, die Brücken baut. Die Tierwelt Indiens begeisterte mich von klein auf, und meine Eltern ließen mich gewähren und brachten mich sogar in Kontakt mit Elefanten, jungen Tigern, Leoparden, Bären, Wölfen, Falken, Affen und vielem mehr. Ich besitze heute viele dieser Tiere, obwohl das nicht einmal annähernd ausdrückt, in was für einem Verhältnis ich zu ihnen stehe oder was sie mir wirklich bedeuten. In Eschnapur unterhalte ich ein Refugium für Tiere, die man andernfalls in den Tod schicken würde, würde ich sie nicht vor Jägern oder einem anderen traurigen Schicksal retten.«

Sie unterbrach ihre Rede kurz, da Mrs. Hudson Tee und Gebäck brachte – trotz ihrer ausgesuchten Freundlichkeit entgingen mir nicht die scheelen Blicke, die unsere auf Schicklichkeit bedachte Haushälterin Ms. Sterlings burschikosen Beinkleidern zuwarf.

Nach einem Schluck Tee fuhr unsere Besucherin, die diese Blicke ignorierte, fort: »Meine Eltern sind bereits tot. Ein Erdrutsch, als sie ohne mich auf Reisen waren. Meine Tante in London ist meine letzte lebende Verwandte, der ich nahestehe, da ich oft bei ihr war, als ich in England studierte. Jetzt ist Tante Betsy schwer erkrankt und bat mich, für die letzten Monate, die ihr bleiben, zu ihr zu kommen. Eine Bitte, der ich gerne nachkam. Meine Tiere habe ich in der Obhut meiner Angestellten zurückgelassen. Alle bis auf Sophie, eine Tigerin, die als kleines Kätzchen ihre Mutter durch Jäger – pikanterweise aus England und Kollegen meines Vaters – verlor und die ich mit der Flasche aufzog. Wir sind Freunde, obwohl wir verschiedenen Spezies angehören. Vor einem Monat kamen wir, Sophie und ich, in England an. Auf dem Anwesen meiner Tante gibt es leer stehende Stallungen. Einen der Ställe habe ich vor meiner Ankunft auf meine Anweisungen und Pläne hin zu einem Tigerkäfig umbauen lassen. Sophie ist auf mich fixiert und würde mir nie etwas tun, doch sicher ist sicher in dieser fremden Umgebung, ein Tiger bleibt ein Tiger, und die fremden Eindrücke und Menschen könnten Sophie irritieren.« Ms. Sterling spielte an ihrem Armreif. »Wir haben uns gut bei meiner Tante eingelebt, unseren Rhythmus in London gefunden. Zumindest dachte ich das. Doch gestern ist etwas passiert.«

»Der Tiger ist verschwunden«, sagte Holmes und schlug die Beine übereinander.

Ms. Sterling starrte den Detektiv an. »Vermutlich sollte es mich nicht wundern, aber …«

»Es ist der einzig logische Grund für Ihren Besuch hier. Sie haben mehr über Sophie erzählt als über sich selbst.« Falls Holmes bemerkte, dass er Ms. Sterling damit beschämte, die ihre Emotionen schnell hinter einem Schluck Tee verbarg, zog er es vor, dies nicht zu beachten. »Wäre das Tier tot, wären Sie nicht hier. Also lebt es noch, und dennoch haben Sie Grund zur Sorge. Also ist es verschwunden. Und wieso sonst sollten Sie zum besten Detektiv der Welt kommen?«

»Früher haben Sie sich noch als einzigen beratenden Detektiv Londons vorgestellt«, merkte ich an, teilweise, um zu kaschieren, wie sehr mich der Gedanken an einen frei laufenden Tiger in London beunruhigte – während meiner Militärzeit in Afghanistan hatte ich diese Raubkatzen zu fürchten gelernt.

»Wieso tiefstapeln, Watson?«, fragte Holmes. »Aber zurück zu Ihrem Tiger, Ms. Sterling. Was ist geschehen?«

»Wenn ich das wüsste! Als ich nach dem Frühstück Sophie besuchen wollte, so, wie ich das jeden Tag tat bis dahin, waren der Stall und ihr Käfig darin leer. Die schweren Vorhängeschlösser, zu denen ich alleine den Schlüssel habe, waren unangetastet und so fest verschlossen, wie ich sie am Abend zurückgelassen habe. Auch die Gitterstäbe zeigten kein Anzeichen dafür, dass sich Sophie von innen oder jemand von außen an ihnen zu schaffen gemacht hat. Es ist, als hätte sich Sophie einfach in Luft aufgelöst.« Das aristokratische Selbstbewusstsein unserer Besucherin verschwand, als sie sagte: »Sie müssen mir helfen, sie zu finden, Mr. Holmes! Ich und das Personal meiner Tante konnten sie nirgends aufspüren. Und ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn sie die City erreichen sollte. Was sie tun könnte, wenn der Hunger sie packt oder sie sich bedroht fühlt. Oder was man ihr antun mag.«

»Wir werden Sophie finden«, versprach ich Ms. Sterling, tief gerührt von ihrer Verzweiflung.

Ms. Sterling sah mich dankbar an und drehte sich dann zu Holmes. »Sie werden mir helfen?«

Holmes lächelte milde. »Wer bin ich denn, dem guten Watson zu widersprechen? Wenn er sagt, wir finden Ihren Tiger, Ms. Sterling, dann tun wir genau das.«

* * *

Wir fuhren mit einem geräumigen Growler nach Wimbledon, wo das Stadthaus von Ms. Sterlings verwitweter Tante mitsamt den Stallungen im hinteren Teil des Anwesens lag. Der Lärm der Passanten und Kutschen blieb hinter einer zweieinhalb Meter hohen Steinmauer mit geschmiedeten Zaunspitzen zurück. Innen standen Bäume und Büsche zwischen geometrisch angeordneten Rasenflächen und Kieswegen. Ein Gärtner schnitt mit einer großen Schere eine Hecke in Form; ein älterer, bärtiger Gentleman mit grauem Haar und Tweedanzug – offensichtlich der Hausverwalter – instruierte ihn.

Ms. Sterling führte uns ohne Umschweife zu den Stallgebäuden. Mein Freund untersuchte den Tigerkäfig im umfunktionierten Stall, der seit Jahren keine Pferde mehr beherbergt hatte. Ich hatte in Afghanistan einige Tigerfallen gesehen und versicherte Holmes, dass der Käfig stabil genug sei. Holmes besah sich alles und erklärte schließlich, Ms. Sterlings Einschätzung zuzustimmen: »Niemand hat das Schloss des Käfigs gewaltsam geöffnet. Weder mit einem Dietrich noch mit Säure.«

»Was bedeutet das?«, fragte Ms. Sterling.

»Dass eine andere, wenngleich nicht weniger ätzende Substanz als Säure zum Einsatz kam«, sagte Holmes. »Verrat!«

Damit sprintete er ohne Vorwarnung über ein Rasenstück davon und sprang in ein mannshohes Gebüsch.

Ms. Sterling warf mir aus ihren bezaubernden Augen einen fragenden Blick zu.

Ich zuckte lediglich mit den Schultern. »Er hat meistens gute Gründe für sein Verhalten«, sagte ich, und da tauchte Holmes auch schon wieder auf – und hatte den älteren Mann mit dem Tweedanzug im Schlepptau, der bei unserer Ankunft den Gärtner beaufsichtigt hatte.

»Sich an mich anzuschleichen, ist so, als wolle man sich an einen Tiger anpirschen«, sagte Holmes, der den Mann grob am Kragen gepackt hielt.

»Philipps?«, fragte Ms. Sterling verwundert.

»Sagen Sie ihm, dass er mich loslassen soll, Miss!«, sagte Philipps mit hochrotem Kopf.

»Mr. Holmes?«

»Ich lasse ihn los«, verkündete der Detektiv. »Aber sollte er versuchen abzuhauen oder etwas anderes tun als reden, wird Watson ihm einen seiner berüchtigten rechten Haken verpassen.«

»Mit Vergnügen«, sagte ich und begann, meine Manschettenknöpfe zu öffnen.

»Ich hoffe, Sie haben wirklich stets gute Gründe für Ihr Betragen, wie Dr. Watson sagt, Mr. Holmes«, merkte Ms. Sterling an. »Philipps arbeitet seit zwanzig Jahren für meine Tante.«

»Dann hat sich wohl viel Frust aufgestaut«, versetzte Holmes und ließ den Mann los, der wie ein gehetztes Tier dreinschaute.

»Das ist ungeheuerlich!«, wetterte Philipps voller Empörung. »Ungeheuerlich!«

Ich wickelte meine Ärmel nach hinten.

»Ach, tun Sie nicht so«, sagte Holmes leidenschaftslos. »Wieso haben Sie uns nachspioniert?«

»Ich werde Ihnen sicher nicht antworten, Sie Rüpel!«, spie der Hausverwalter hervor. »Mit Leuten wie Ihnen will ich nichts …«

Ich gewährte ihm einen guten Blick auf meine Faust.

»Philipps«, mischte sich da Ms. Sterling ein. »Was hatten Sie in dem Busch zu suchen? Haben Sie uns belauscht, wie Mr. Holmes behauptet?«

»Ich würde niemals …«

»Die Wahrheit, Mann, Sie verschwenden nur unsere Zeit! Ein Tiger läuft frei durch London! Wer weiß, was er anrichtet, während wir herumstehen und Ihnen dabei zusehen, wie Sie sich eine haarsträubende Lügengeschichte ausdenken?« Holmes sah Ms. Sterling intensiv an, die inzwischen streng die Hände auf die Hüften gestützt hatte. »Es ist kein Klischee aus Watsons Geschichten: Verbrecher können es nicht lassen, sich zu exponieren. Sie kehren zum Tatort zurück oder versuchen, den Ermittlungen so nahe wie möglich zu sein. Hier, will ich meinen, treffen beide verbrecherischen Unsitten zusammen.«

»Ms. Sterling«, lamentierte Philipps. »Sie kennen mich schon sehr lange. Muss ich mir das gefallen lassen?«

Ich war mir nicht sicher, wie unsere Klientin reagieren würde, doch dann sagte sie: »Ich will wissen, wieso Sie sich in diesem Gebüsch versteckt haben, Philipps. Auf der Stelle. Und bedenken Sie: Ich bin fast genauso gut darin, einen Lügner zu erkennen wie Mr. Holmes. Wenn ich auch nur den leisesten Verdacht hege, dass Sie nicht die Wahrheit sagen, können Sie und Ihre Frau gleich Ihre Koffer packen, völlig egal, ob Sie im Testament meiner Tante stehen oder nicht. Sie wissen ja, dass ich eine Vollmacht habe, solange es ihr so schlecht geht.«

Der grauhaarige Verwalter schien vor unseren Augen um Jahre zu altern. »Also schön«, sagte er schließlich. Ein schwerer Seufzer begleitete die nächsten Worte des Mannes, aus dem aller Widerstand gewichen war. »Ich habe Schulden bei Leuten, bei denen man keine Schulden haben sollte. Ich bin süchtig, Ms. Sterling, nach den süßen Träumen des Lotus, die sie in entsprechenden Etablissements an den Docks anbieten. Die Summe, die ich diesen Leuten schuldig bin, lässt mich schwindeln.«

»Was hat das mit Sophie zu tun?«

»Dazu komme ich jetzt. Einer meiner Schuldner brachte mich vor einer Woche mit einem Mann in Kontakt, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.«

»Können Sie ihn beschreiben?«, fragte Holmes sofort.

»Irgendein livrierter Laufbursche«, tat Philipps Holmes’ Frage ab. »Er sagte mir, dass sein Herr meine Schulden übernehmen würde, sollte ich ihm dabei helfen, eines gewissen Tigers habhaft zu werden.«

Ms. Sterling biss die Zähne zusammen. »Weiter.«

»Als Sie gestern nach dem Ausmisten des Käfigs ein langes Bad nahmen und zu Bett gingen, entwendete meine Frau – bitte verurteilen Sie Miranda nicht dafür, dass Sie aus Liebe zu mir hält – Ihre Schlüssel. Während Sie schliefen, ließ ich den Mann, der mich angesprochen hatte, und einige seiner Gehilfen durch das Tor an der Rückseite des Anwesens herein. Sie hatten einen Pritschenwagen mit einem Käfig dabei. Darin lag eine tote Ziege. Es war nicht schwer, den Tiger …«

»Sophie«, korrigierte Ms. Sterling mit Grabesstimme.

»… Sophie in den Käfig zu kriegen. Sie schlossen die Schiebetür, sobald sie drin war und an der Ziege fraß, deckten den Käfig auf dem Wagen mit einer Plane ab und fuhren von dannen, und ich brachte den Schlüssel zu Miranda zurück, die ihn wieder in Ihr Zimmer legte. Miss.«

Wir alle ließen diese Worte wirken, und abermals war es Ms. Sterling, die als Erste reagierte – sie holte aus und verpasste Philipps den Faustschlag, den Holmes ihm aus meiner Richtung angekündigt hatte. Der Verwalter ging zu Boden, und Ms. Sterling schüttelte hinreißend fluchend ihre Hand aus.

»Soll ich mir Ihre Hand ansehen?«, erbot ich mich.

Die Raubkatzenhalterin aus Eschnapur, die mir in diesem Augenblick selbst wie eine Tigerin erschien, lehnte ab. »Nein. Finden Sie Sophie. Das ist alles, was zählt.«

»Was ist mit mir?«, fragte der im Gras liegende Philipps und spuckte Blut. »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt!«

»Das haben Sie«, sagte Ms. Sterling. »Deshalb gebe ich Ihnen bis Mittag Zeit, Ihre Sachen zu packen und mit Ihrer Frau zu verschwinden, bevor ich die Polizei benachrichtige.«

* * *

Holmes’ abschließende Befragung des wahrlich niedergeschlagenen Philipps brachte keine nützlichen Hinweise in Bezug auf die Identität der Männer, die den Tiger entwendet hatten. Ms. Sterling musste nach ihrer Tante sehen und die neuesten Entwicklungen vermutlich erst einmal verarbeiten, und so machten Holmes und ich uns auf den Rückweg in die Baker Street, um unser weiteres Vorgehen und unsere Tigerjagd im Großstadtdschungel zu planen.

»Welches Interesse könnte jemand daran haben, Ms. Sterlings Tiger zu entführen?«, fragte ich Holmes unterwegs im Hansom-Cab. »Geht es um Lösegeld? Oder steckt ein amerikanischer Waffenhändler wie Sharps dahinter, der hofft, dass jeder Haushalt in London sich aus Angst vor einer frei laufenden Bestie ein neues Gewehr zulegt, wie es zur Büffeljagd in der Prärie verwendet wird? Verkauft jemand Sophie an einen russischen Zirkus, dessen Tiger eingegangen ist? Oder reicht einem adeligen Jäger die traditionelle Fuchsjagd nicht mehr aus?«

»Hmh«, machte Holmes lediglich, der sich so früh in einer Ermittlung nur selten in die Karten schauen ließ.

Als wir die Baker Street erreichten, verteilte ein junger Bursche auf dem Gehweg ein Extrablatt der Times.

Wilde Bestie zerfleischt Apotheker!, lautete die Schlagzeile, die der Bursche fröhlich skandierte, derweil er in einem fort Blätter gegen Pennys tauschte.

Holmes und ich stiegen sogleich in die nächste Kutsche, um zum Schauplatz des Angriffs in Mayfair zu gelangen.

Mit viel Ellenbogeneinsatz und Erfahrung kämpften wir uns durch die Menge der Schaulustigen bis zur Mündung einer Gasse zwischen zwei Hausreihen. Inspector Gregson von Scotland Yard hatte die Aufsicht über den Tatort, und er ließ uns gerne die Absperrung passieren.

»Ich hab keine Ahnung, was hier passiert ist, Gentlemen«, eröffnete er uns.

»Wir schon, fürchte ich«, sagte ich.

Ein Constable zog das Tuch zurück, mit dem die Leiche abgedeckt war. Den Mann, im Gesicht kaum noch als solcher zu erkennen, hatten die Krallen des Tigers übel zugerichtet. Überall klafften rote Schlitze und Risse, dazu kam eine Menge Blut.

»Sophie«, sagte ich, und Holmes nickte düster.

»Könnte mir bitte jemand von Ihnen sagen, worum es hier geht und was Sie wissen?«, verlangte Gregson. »Wer ist Sophie? Und wer hat den armen Teufel dergestalt aufgeschlitzt?«

»Ein Tiger«, sagte ich und deckte die Leiche wieder zu.

»Ein Tiger?« Gregson sah mich an, als wären mir Streifen gewachsen. »Sie belieben hoffentlich zu scherzen, Doktor!«

Holmes erzählte Gregson das Nötigste über Ms. Sterling und wie wir in den Fall der Tigerin von Eschnapur verstrickt waren.

»Ich muss mit meinen Vorgesetzten reden«, sagte der Inspector daraufhin mit blassem Gesicht. »Sofort.«

* * *

In den nächsten Tagen ergab sich für uns wie für den Rest der aufgescheuchten Stadt eine grausige Routine, die von den Attacken des Tigers innerhalb der City diktiert wurde.

Die Zeitungen zelebrierten jeden neuen Angriff des getigerten Rippers, wie sie ihn nannten. Unter den Opfern der blutrünstigen Bestie, die durch London streifte, waren ein Anwalt, ein Hauslehrer, eine Köchin, ein Kutscher, ein Uhrmachergehilfe und eine Gouvernante.

Holmes ließ sich von Ms. Sterling schon nach der ersten Attacke Stroh aus dem Tigerkäfig in den abermals verwaisten Stallungen auf dem Anwesen ihrer Tante geben, und so gingen wir zusammen mit Toby, dem besten Spürhund des Empires, auf Tigerjagd. Doch der Lurcher-Spaniel-Mischling, der uns so oft schon geholfen hatte, fand neben keiner der zerfetzten Leichen eine Spur des Tigers, sosehr wir ihn auch motivierten und schnüffeln ließen.

»Na komm schon, Toby«, spornte ich ihn an. »Such die böse Katze! Such!«

»Lassen Sie ihn«, sagte Holmes und tätschelte unserem verwirrten vierbeinigen Freund den Kopf. »Bringen wir ihn zu Sherman zurück.« Sherman, ein alter Freund von Holmes, war Tobys Besitzer. »Er wird erleichtert sein. Ich hatte das Gefühl, er fürchtete, wir wollten Toby an den Tiger verfüttern …«

Ms. Sterling kam jeden Tag zu uns in die Baker Street (für sich genommen ein Grund zur Freude), ohne dass wir etwas anderes tun konnten, als ihr einen Eindruck von den blutigen Schauplätzen der Angriffe zu vermitteln oder von unseren jüngsten Fehlschlägen mit Toby – oder von Inspector Gregson und seinen Kollegen mit Fleischködern in Sackgassen und einem Aufgebot nervösen Polizisten mit Gewehren in der Nähe.

»Sophie ist kein Menschenfresser«, beteuerte Sophies menschliche Besitzerin und Freundin jedes Mal.

Öffentlichkeit und Presse sahen das anders.

Die Beutezüge des Tigers in London, die wie eine Kältewelle im eisigsten Winter viele Menschen von den Straßen fernhielten, waren ein – Pardon! – gefundenes Fressen für die Zeitungen und Gazetten. Es gab Augenzeugenberichte von Leuten, die den Tiger angeblich durch einen Hinterhof schleichen oder vom Schauplatz eines Angriffs flüchten gesehen hatten, deren Kutschpferd wegen eines getigerten Etwas durchgegangen war oder die wenigstens ein Paar grün glühender Augen in einer Gasse erspäht hatten. (Ich gestehe: auch ich bildete mir ein ums andere Mal ein, einen getigerten Schemen im Augenwinkel oder im Seitenfenster einer Droschke zu sehen, wenn ich unterwegs war; Holmes erzählte ich nichts von meinen eingebildeten »Sichtungen«.) Diese mal mehr, mal weniger glaubhaften Berichte mischten sich mit Analysen von Zoologen und Großwildjägern, Beschwerdebriefen empörter Bürger und Tipps sowie konkreten Angeboten gewiefter Geschäftsleute, wie man sein Zuhause tigersicher machen könnte.

Ein Beitrag amüsierte Holmes eines Morgens beim Frühstück besonders. »Erinnern Sie sich noch an Ihren Freund Eames?«

Wie könnte ich nicht! Jeremy Eames war ein Kritiker des Star, der auf einer literarischen Abendveranstaltung, an der wir beide teilgenommen hatten, meine letzte Geschichte über Holmes vor den anderen Gästen lächerlich gemacht hatte, woraufhin ich mit seinem Gedichtband hart ins Gericht gegangen war und sogar ein paar seiner Verse extra verunglimpfend rezitiert hatte; ohne Wilde und einige andere Kollegen, die dazwischengegangen waren, hätten wir uns wohl wie die Schuljungen geprügelt.

»Was schreibt er denn diesmal?«, fragte ich wenig erbaut.

Der Detektiv las vor: »Wären da nicht die minderwertigen literarischen Fantasien eines gewissen Arztes, der über die debilen Abenteuer seiner selbst und seines arroganten Detektivfreunds schreibt und dabei haufenweise Unwahrheiten, Behauptungen und Stilblüten in die Welt setzt, hätte Colonel Sebastian Moran, einer der größten Tigerjäger unserer Zeit, London nicht bei Nacht und Nebel in Schimpf und Schande verlassen müssen und könnte sich nun des Problems annehmen. So bleiben uns nur der humpelnde Arzt mit den fehlgeleiteten schriftstellerischen Ambitionen und sein drogensüchtiger, zur Selbstüberschätzung neigender Kompagnon, die genauso ahnungslos durch London stolpern wie die Polizei und die Bürgerwehren. Was ist nur aus unserem einstmals großen Empire geworden, das seine wahren Helden vergessen hat?«

»Wenn ich den erwische!«, knurrte ich wie ein Tiger.

»Mh-mh«, machte Holmes abwesend, der schon wieder weiter blätterte und las, selektierte und sondierte. Irgendwann merkte er auf und sagte halblaut: »Sieh mal einer an.«

»Was haben Sie gefunden, Holmes? Noch eine vernichtende Kritik?«

»Die Welt dreht sich nicht nur um Ihre kleinen Geschichten und Fehden im Literaturbetrieb, Watson«, sagte mein Freund. »Nein, hier ist ein kleiner Artikel am Rande der sensationslüsternen Berichterstattung. Mehrere Menschen in einer Gegend an den Docks beklagen sich, dass Hunde, aber auch Schweine, Schafe und Ziegen aus Pferchen verschwinden – und sich niemand dafür interessiert, dass der Tiger auch bei ihnen am Ufer zuschlägt.«

»An den Docks? Keines der bisherigen Opfer von Sophie war auch nur in der Nähe der Docks, Holmes.«

»Ich weiß, Watson«, erwiderte der Detektiv, der den Star durchhatte und nun den Standard zur Hand nahm. »Und allmählich ergibt sich ein Bild«, sagte er nach einem kurzen Blick auf die frische Ausgabe und hielt mir die Zeitung hin.

Die Schlagzeile der Titelseite, die das unscharfe Foto eines Mannes neben einem toten Tiger zierte, lautete:

Lord Roxton, legendärer Abenteurer und Jäger, erklärt sich bereit, London vor dem Menschenfresser zu retten!

»Lord Roxton? Gab es da letztes Jahr nicht irgendeinen Skandal wegen eines Duells um eine Frau?«

»Keine Zeit für Klatsch, Watson!«, rief Holmes, der bereits nach seinem Zylinder griff und zur Wohnungstür eilte. »Der Tiger ist auf, die Jagd gelangt in ihre entscheidende Phase!«

* * *

Drei Stunden später, die ich mit Überarbeitungen des Falls der Dracula-Gesellschaft verbracht hatte, bestellte mich ein Telegramm von Holmes an die Docks – ich musste dem Fahrer einen Aufpreis zahlen, damit er mich in diese Gegend brachte. Unterwegs sammelten wir wie verlangt Mr. Sherlock Holmes und Ms. Samantha Sterling auf.

»Sie kennt den Tiger am besten«, antwortete der Detektiv auf meine unausgesprochene Frage. »Wenn wir Sophie finden, sollte sie ein vertrautes Gesicht sehen, meinen Sie nicht?«

»Das scheint mir für Ihre Verhältnisse verblüffend vernünftig, Holmes. Aber woher auf einmal die Gewissheit, dass wir Sophie finden? Und wieso im Hafenviertel, wo bisher, wie wir bereits feststellten, kein Mensch zu Schaden kam?«

»Der Tiger ist an den Docks«, sagte Holmes voller Überzeugung. »Wo er Schlachtvieh und anderes reißt. Er ist kein Menschenfresser, wie Ms. Sterling selbst nicht müde wird zu betonen. Wir sind die ganze Zeit einer falschen Fährte gefolgt, die mit Absicht gelegt wurde.«

»Aber die Opfer im Rest der Stadt?«, fragte ich.

»Die falsche Fährte!«, wiederholte Holmes triumphierend. »Mummenschanz, wenngleich von der heimtückischen und tödlichen Sorte. Ich hätte früher drauf kommen sollen, aber selbst ich bin nicht immun gegen das Jagdfieber, fürchte ich. Doch spätestens als der gute Toby keinen Hauch von Tiger an den angeblichen Tigeropfern fand, hätte mir klar sein müssen, dass man uns einen Bären oder viel mehr einen Tiger aufzubinden versucht.«

»Wie meinen Sie das, Mr. Holmes?«, wollte Ms. Sterling wissen, die wieder abenteuertaugliche Kleidung trug.

»Eines nach dem anderen«, sagte der Detektiv. »Wir sind da.« Holmes klopfte gegen das Kutschendach. »Da ist das Lagerhaus.«

»Hier sind viele Lagerhäuser«, sagte ich und half Ms. Sterling beim Aussteigen. »Wieso ausgerechnet dieses?«

Die verrußte Halle war ziemlich heruntergekommen, einige Fenster sogar mit Brettern vernagelt.

»Lord Roxton«, sagte Holmes, als würde das alles erklären.

»Der in Ungnade gefallene Jäger aus der Zeitung? Der designierte Held, der London von dem Tiger befreien soll?«

»Ha!« Holmes rieb sich die Hände. »Wir werden sehen. Er hat jedenfalls diese Lagerhalle gemietet. Ich habe einen Freund beim Hafenamt, der gute Kontakte hat. Er beschaffte mir die Information und die Adresse. Kommen Sie! Bleiben Sie hinter Watson, Ms. Sterling, er ist eine hervorragende Deckung, wie er mehr als einmal bewiesen hat. Die Leute schießen besonders gerne auf ihn.«

Holmes hielt sich nicht damit auf, die Tür zur Lagerhalle mit seinem Dietrich-Set auf subtile Weise zu knacken; stattdessen trat er sie kurz entschlossen ein, und schon liefen wir in einen kargen, großen Raum, in dem keine Kisten und keine Waren standen, sehr wohl aber der Wagen mit dem Käfig, den Philipps, der Hausverwalter der Sterlings, beschrieben hatte.

Doch kein Tiger weit und breit.

»Sophie war hier!«, sagte Ms. Sterling aufgeregt. »Hierher muss man sie gebracht haben!«

»Und von hier ist sie entkommen«, sagte Holmes und zeigte auf die Blutflecken sowie die durcheinanderlaufenden roten Pfoten- und Stiefelabdrücke am Boden vor dem Käfig.

»Aber hier ist kein Tiger«, sagte ich.

»Nein, nur ich«, antwortete da eine fremde Männerstimme, und wir alle drehten uns um.

Im Eingang stand ein großgewachsener Mann mit einer Jagdbüchse. Unter einem Mantel trug er Kleidung, die von der Machart her Ms. Sterlings Kluft ähnlich war.

»Lord Roxton«, sagte Holmes in den Moment, da auch ich den Mann erkannte, den mein Freund mir heute Vormittag auf der Titelseite des Standard gezeigt hatte.

»Wie kommen Sie hierher?«, fragte Roxton barsch. »Und wieso wissen Sie von dem Tiger?«

»Dem Tiger, mit dem Sie niemand in Verbindung bringen sollte, bis Sie ihn in der Öffentlichkeit erlegen?« Holmes gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Dann hätten Sie sich andere Komplizen suchen müssen.« Selbst mit einem Gewehr, das auf ihn – uns – gerichtet war, konnte der Detektiv der Versuchung nicht widerstehen, mit seinem kriminalistischen Genie anzugeben. Der perplexe Roxton ließ ihn gewähren, und Holmes führte für mich und Ms. Sterling aus: »Philipps hatte Schulden bei einer der Banden aus Indien, die derzeit mit den Chinesen um die Herrschaft an den Docks streiten, da beide das Opiumgeschäft kontrollieren wollen.« Er sah Roxton herausfordernd an. »Sie übernahmen Philipps’ Schulden bei den Indern, um an den Tiger zu kommen.«

»Was will er mit Sophie?«, fragte Ms. Sterling.

»Es gehört alles zu seinem Plan, in dessen Folge Lord Roxton im Licht der Öffentlichkeit wieder zum Helden werden sollte. Damit das Duell vergessen wäre.« Holmes gestikulierte vage. »Watson hatte mich vor einigen Tagen gefragt, wer etwas vom Diebstahl eines Tiger haben könnte. Heute Morgen erhielt ich die Antwort in Schwarz auf Weiß.«

»Ach?!«, machte Lord Roxton verächtlich.

»Der Zeitungsartikel, der Sie schon zum Helden stilisierte. Doch damit London Sie als Retter feiern würde, der die Stadt von einer wilden Bestie befreit, musste der Tiger erst für Angst und Schrecken sorgen. Aber nicht einmal Sie wollten Ihr Gewissen damit belasten, eine Raubkatze frei durch die Stadt streifen zu lassen. Also heuerten Sie die indischen Gangster an, mit einem Baghnakh die tödlichen Angriffe durch Tigerklauen vorzutäuschen.«

»Was ist ein Baghnakh?«, fragte ich – Holmes hatte kein Recht auf Redebedarf in unpassenden Momenten.

»Ein indischer Schlagring, auch Tigerkralle genannt«, sagte Ms. Sterling. »Er hinterlässt entsprechende Spuren.«

»Auf meinem Tisch lag die ganze Zeit einer begraben«, ergänzte Holmes säuerlich. »Ich war nur noch nicht so weit gekommen, ihn zu katalogisieren. Bis heute Morgen, als ich vor dem Frühstück und der Zeitungslektüre etwas arbeitete, um meinen Geist auf andere Gedanken zu bringen. Was haben Sie den Indern im Gegenzug versprochen, Roxton? Ihre Dienste als Scharfschütze im Krieg mit den Triaden? Wie auch immer. Deshalb fand Toby an den Opfern – allesamt Schuldner in den Opiumhöhlen der Chinesen oder anderswie mit diesen verbandelt, wie meine Recherchen in den letzten Stunden ergaben – keine Spur des Tigers. Weil das Tier nie dort war. Nur Ihre gedungenen Mörder, Roxton. Aber Gregson sammelt sie gerade ein und stellt die Tigerkrallen ohne Tiger sicher.«

»Eines verstehe ich nicht«, warf Ms. Sterling nun ihrerseits ein. »Wieso haben Sie Sophie doch freigelassen?«

»Sophie?«, fragte Roxton, der immer genervter und ungeduldiger wirkte, am langen Lauf seines Gewehrs vorbei.

»Der Tiger heißt so«, erklärte ich. »Eine Sie.«

Lord Roxton, der garantiert nicht mit einem ausufernden Dialog dieser Art gerechnet hatte, knurrte gereizt. »Das Drecksvieh ist beim Füttern abgehauen. Seit vier Tagen streift es durch die Gegend. Bisher konnten wir das Biest nicht wieder einfangen. Dabei brauche ich den Tiger in der City, um ihn vor den Augen einer schönen großen Menge zu erschießen. So werden Helden geboren, wie der Klugscheißer da richtig sagte.« Er grinste schief. »Aber jetzt müssen wir erst mal das Problem Ihrer Anwesenheit lösen. Wirklich schade um die hübsche Lady.«

Was auch immer als Nächstes geschehen sollte, wurde durch ein tiefes Grollen verzögert, das meine Wirbelsäule vibrieren ließ. Ein massiger Schatten schob sich aus einer Seitentür, die in einen anderen Raum führte, in das Zwielicht des Lagerraums.

Der Täter kehrt immer zum Tatort zurück, schoss es mir durch den Kopf – oder hatte der Tiger, der seit Tagen durch diese schattenreiche Gegend am Wasser strich, Ms. Sterling gewittert?

»Sophie!«, entfuhr es Ms. Sterling erfreut.

Ich war weniger angetan von dem ausgewachsenen Tiger, der sich uns näherte, jede Bewegung ein beeindruckendes Spiel aus Muskeln und Kraft unter dem Fell, die Pranken gewaltig, die Kiefer Furcht einflößend, der Blick stechend.

Lord Roxtons Aufmerksamkeit, von den Instinkten des Jägers beherrscht, verlagerte sich ebenfalls auf die riesige Raubkatze, die bedrohlich auf uns zuhielt.

Holmes nutzte die Ablenkung, griff in seine Westentasche und schleuderte Roxton einen Wurfstern entgegen, der die Hand traf, mit welcher seine Lordschaft das Jagdgewehr stützte.

Roxton zuckte. Ein verzogener Schuss löste sich, der Tiger sprang, und bevor die Kugel in Ms. Sterlings Körper einschlagen konnte, traf sie den Tiger, der sich mit einem Satz fauchend vor die Schönheit aus Eschnapur geworfen hatte – mit Absicht oder weil das wütende Tier Roxton angreifen wollte oder sonst etwas vorhatte, wer weiß das schon?

Ms. Sterlings Schrei und das Fauchen des getroffenen Tigers verschmolzen zu einem gequälten Laut voller Pein.

Holmes rannte auf Roxton zu und setzte ihn mit dem Faustschlag eines Preisboxers außer Gefecht; Ms. Sterling eilte zu Sophie, die heftig bebend mit zuckendem Schweif auf der Seite lag. Ihr Grollen klang nicht länger aggressiv. »O Sophie!«, flüsterte Ms. Sterling verzweifelt mit tränenerstickter Stimme und streichelte der angeschossenen Raubkatze, die feucht schnaubend atmete, über die sich heftig hebende und senkende Flanke. Blut bedeckte Ms. Sterlings Kleidung, den dreckigen Boden und das Fell des Tieres.

Holmes kniete auf Roxton, verschränkte dessen Arme hinter dem Rücken und legte ihm Handschellen an. »Helfen Sie dem Tiger, Watson!«, rief mein Freund mir außerdem zu.

Und so kam es, dass ich an diesem Nachmittag in einem schmuddeligen Lagerhaus unweit der Themse einen Tiger mit nichts weiter als einem Offiziersmesser aus der Schweiz und einem Dolch aus Eschnapur eine Kugel aus dem Leib operierte, während der Rest von London genau diesen Tiger tot sehen wollte.

* * *

»Wir bekommen Besuch«, sagte Holmes, der am Fenster des Salons von 221B stand, eine Woche später. »Sie sollten sehen, wie die Leute vor Ms. Sterling davonrennen. Köstlich!«

Anstatt das näher auszuführen, zog Holmes sein Jackett an und lief los, um ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nach unten zu gehen und die Haustür selbst zu öffnen.

Beim Anblick des Tigers, den Ms. Sterling kurz darauf wie einen Hund an einer Lederleine hereinführte, stockte mir der Atem.

Sophie fasste mich mit einem Knurren tief in ihrer Kehle ins Auge, ging zielstrebig auf mich zu, wurde immer schneller, eilte wie ein riesiger gestreifter Schemen durch unsere Wohnung und erreichte mich, ehe ich mich auch nur aus meinem Sessel erheben, nach dem Schürhaken oder etwas anderem greifen konnte. Schnurrend legte Sophie mir ihre Vorderpfoten auf den Schoß und rieb ihren Kopf heftig an meinem Oberkörper und meinem Gesicht; ich spürte die rohe Kraft des Tigers, der mir jedoch nicht die Zähne in den Hals schlug, sondern mich grollend beschmuste.

»Kraulen Sie sie am Kiefer, das mag sie besonders«, sagte Ms. Sterling amüsiert. Auch heute war sie eine wahre Zierde in einem luftigen weißen Sommerkleid mit einem ausladenden Hut, dessen Krempe einem Sombrero gerecht geworden wäre. »Sie weiß, dass Sie ihr das Leben gerettet haben, Doktor. Nicht so schüchtern.«

Holmes, der hinter Frau und Tiger in den Salon trat, weidete sich an meinem Unbehagen ob eines riesigen Tigers, der mit mir kuscheln wollte. »Watson und schüchtern? Das wäre mir neu«, kommentierte er sonnig.

Ich tätschelte Sophie bange den Kopf – diese Schmusekatze war mir dann doch etwas zu exotisch und wild.

»Komm, Sophie, lass den heldenhaften Doktor Luft holen«, sagte Ms. Sterling und zog leicht an der Leine. Tigerfell rieb ein letztes Mal über mein Kinn und meine Wange, dann ließ Sophie von mir ab und setzte sich hin, womit sie immer noch von beachtlicher Größe war. Der Blick ihrer grünen Augen verharrte zudem weiterhin gierig auf mir.

»Sie verlassen London?«, fragte Holmes indes.

»Woher wissen Sie das schon wieder, Mr. Holmes?« Die schöne Ms. Sterling legte den Kopf leicht zur Seite. »Nicht, dass es mich noch groß überrascht nach all dem …«

»Sie würden sich kaum den Zorn Ihrer Mitmenschen zuziehen und nach der Panik neulich mit Ihrem Tiger spazieren gehen, wenn Sie vorhätten, noch länger in der Stadt zu bleiben. Zu viel Aufsehen und Ärger.«

»Meiner Tante geht es wieder besser«, antwortete Ms. Sterling. »Philipps und seine Gattin zu entlassen, war das Beste, was ich tun konnte. Um an ihren Erbanteil im Testament zu kommen, haben Sie meiner Tante seit Längerem kleine Dosen Gift ins Essen gemischt, genau wie Sie vermutet haben, Mr. Holmes.« Davon hörte ich zum ersten Mal, aber Holmes hatte bekanntlich seine Wege und Mittel. »Seit sie weg sind, findet Tante Betsy von Tag zu Tag mehr zu alter Form zurück. Sie wird uns alle überleben, wenn das so weitergeht. Sie will mich sogar in Eschnapur besuchen, sobald sicher ist, dass ihr Zustand dauerhaft stabil bleibt. Ich bin Ihnen beiden also in mehr als einer Hinsicht zu Dank verpflichtet.«

»London wird Sie vermissen«, sagte Holmes charmant – er konnte, wenn er nur wollte. »Sie haben Farbe und Leben hierhergebracht. Du natürlich auch, Sophie.«

Ohne Reue oder Bedauern sagte Ms. Sterling: »Wir gehören einfach nicht hierher.« Sie verstummte kurz und blickte auf Sophie und zugleich durch den Tiger hindurch. »Ich habe schon gepackt. Heute Nachmittag läuft unser Schiff aus.«

Wir verabschiedeten uns. Jeder bekam eine Umarmung, weit angenehmer als eine Tigerliebkosung, und ich musste Sophie noch einmal ausgiebig streicheln und tätscheln – sowohl Ms. Sterling, die ob meines Unwohlseins breit grinste, als auch Holmes, der alte Sadist, bestanden darauf.

Kaum dass Ms. Sterling und Sophie gegangen waren und den Schreien nach weitere Passanten auf der Straße erschreckten, erschien eine verstörte Mrs. Hudson in 221B.

»War das gerade ein Tiger unten im Flur?«, fragte sie mit an die Brust gelegter Faust.

»Ein Tiger? Mrs. Hudson, ich bitte Sie«, sagte Holmes sanft. »Da sind Sie wohl kurz eingenickt und hatten einen Albtraum.«

»So muss es gewesen sein«, murmelte Mrs. Hudson und ließ sich von meinem Freund nach unten in ihre Wohnung führen.

»Sie überraschen mich immer wieder, alter Knabe«, sagte Holmes, sobald er zurück war, derweil ich mit einem Handtuch aus dem Bad trat, wo ich mir Tiger von Händen und Gesicht gewaschen hatte. Ms. Sterlings Duft hätte gern noch eine Weile an mir haften bleiben können.

»Wie meinen Sie das, Holmes?«

»Nun.« Der Detektiv stopfte seine Pfeife mit dem Tabak vom Vortag, den er in einem einsamen persischen Pantoffel aufbewahrte, wie meine treuen Leser wissen – der Tabak roch fast so schlimm wie der Atem eines Tigers. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so einen Moment wie eben ungenutzt verstreichen lassen. Selbst ich habe erkannt, dass Ms. Sterling sich geradezu nach einer schmeichelhaften Bemerkung Ihrerseits sehnte, als Sie klagte, sie gehöre nicht hierher. Womöglich hoffte Sie sogar darauf, Sie würden sie und Sophie nach Eschnapur begleiten. Der Watson, den ich kenne, hätte die richtigen Worte für dieses schöne Wesen gefunden.«

»Ich habe vom Orient für mein Leben genug«, sagte ich lahm und fuhr mir verlegen über den Schnurrbart. »Außerdem ist es nicht so leicht, mit über 400 Pfund Tiger auf dem Schoß ein geistreicher Kavalier zu sein.«

»Hm.« Holmes entzündete ein Streichholz. »Ich bin erstaunt, dass es überhaupt etwas gibt, das Sie davon abhalten könnte, einer Frau süße Worte zuzuflüstern, Watson. Aber anscheinend hat Ihnen die Tigerin von Eschnapur Ihre Grenzen aufgezeigt.«

Sherlock Holmes und die Tigerin von Eschnapur

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