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Forst

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Fast sechs Stunden war Jack jetzt unterwegs. Es war eine entspannte Autofahrt. Er fuhr fast nur noch über Land, vorbei an Rinderfarmen und alten Pferdekoppeln, aber hauptsächlich durch tiefe, dunkle Wälder. Er musste fast am Ziel sein, und er freute sich auf eine angenehme Arbeit in einer sehr schönen Gegend. Dass er einmal als Feuerwächter auf einem Feuerturm arbeiten würde, hätte er sich niemals träumen lassen.

Wie erwartet hatte Jessica auf seinen plötzlichen Sinneswandel positiv reagiert. Immerhin hatte sie sich bereit erklärt, für die Zeit, in der Jack in Forst war, zurück ins Haus zu ziehen. Ein schwacher Trost, aber wenigstens hatte er so das Gefühl, dass sich eine vertraute Person in seinen vier Wänden aufhielt. Jack hoffte immer noch, dass er seine Ehe retten konnte. Es beruhigte ihn, dass er dazu den ersten Schritt gemacht hatte.

Endlich würden ihm in nächster Zukunft die Bilder von toten Menschen, der Geruch von brennenden Häusern und verletzten Personen erspart bleiben. Wenn hier etwas brennen würde, dann wären es an heißen Sommertagen Bäume und Sträucher. Aber zum Glück lagen die letzten schweren Waldbrände in dieser Gegend mehr als zwanzig Jahre zurück. Es gab hier einfach zu viel Niederschlag, immer wieder Gewitter und typische Sommerregen. Die Wahrscheinlichkeit eines Waldbrandes war also sehr gering. Das Einzige, was ihm hier Sorgen bereiten könnte, war die Einsamkeit.

Er fuhr mit mäßigem Tempo, da sich die Lichtverhältnisse massiv verschlechtert hatten. Obwohl es noch früh am Nachmittag war, ließen die dichten Baumkronen, die sich wie ein Dach über den Highway spannten, nicht einen Sonnenstrahl zu. Bäume, nichts als Bäume waren zu sehen. Jetzt befand er sich mitten im Nationalpark Wild Forst, einem der größten Waldgebiete im Nordwesten der USA.

Nun wurde Jack klar, weshalb ihn Stevens mehrmals gefragt hatte, ob er sich seiner Entscheidung bewusst sei. Hier gab es nichts. Nicht einen Hauch von Zivilisation. In dieser einsamen Gegend würden die Tage zu Monaten und die Monate zu Jahren werden. Ihm war es aber egal, er brauchte einfach Zeit und Ruhe, und die Natur würde ihm guttun.

Vergebens versuchte er, mit dem Drehknopf einen vernünftigen Radiosender einzustellen. Man merkte, dass man hier in der Wildnis war und die nächstgrößere Stadt meilenweit entfernt lag. Schließlich gab er es auf und legte eine CD ein: die Beatles mit ihrem Dauerohrwurm Yesterday. Jessica musste die CD wohl in seinem Auto vergessen haben. Die Beatles waren nämlich ihre Lieblingsband.

Einen Moment lang verspürte er Lust nach heißem Kaffee. Die lange Autofahrt machte sich langsam bemerkbar und ließ seine Augenlider immer schwerer werden. Es konnte aber nicht mehr weit sein, er musste sich kurz vor der Ortschaft Forst befinden, einer kleinen Gemeinde am Rande des Nationalparks mit nur etwa dreißig Einwohnern.

Jack musste sich dort beim Dorfsheriff melden, der ihn dann zu seinem Arbeitsplatz bringen wollte. Wahnsinn, wie man hier leben kann, dachte er. Links und rechts der Straße sah er Häuser und versteckte Scheunen aus dem Dickicht der Tannen hervorblitzen, dann auch wieder nur Bäume und dichtes Gestrüpp. Die Straße war leer und der Asphalt so rau wie ein Schotterweg.

Er musste nun kurz vor dem Ziel sein. Jack kurbelte die Fensterscheibe herunter, um frische Waldluft ins Auto zu lassen und sich auf diese Weise wach zu halten.

Er drehte den Sound seines Autoradios auf. Als er sich wieder auf die Straße konzentrierte, erschrak er. „Verdammt!“

Plötzlich war wie aus dem Nichts jemand vor ihm aufgetaucht und überquerte die Straße. Jack presste seinen rechten Fuß auf die Bremse. Die Reifen quietschten, der Anschnallgurt presste sich in Jacks Brust und verhinderte, dass die Schubkräfte seinen Körper durch die Windschutzscheibe fliegen ließen.

Als das Auto zum Stillstand gekommen war, konnte er seinen Herzschlag hören. Er konnte es noch nicht glauben, dass er beinahe jemanden überfahren hätte. Der Gestalt nachzusehen war zwecklos. Jack war sich aber sicher, dass er eine Frau erkannt hatte. Es hatten nur ein paar Meter gefehlt, dann wäre sie ihm direkt vor die Motorhaube gelaufen. Die Frau war bereits verschwunden und schien sich im Dickicht der Sträucher wie ein Gespenst in Luft aufgelöst zu haben.

„Was zum Teufel …“, murmelte er. Noch im Nachhinein spürte er, wie die Angst in ihm hochkroch.

Er drehte die Musik leiser und stieg aus dem Wagen. Vorsichtig lief er zu der Stelle zurück, wo die Frau so unvermittelt aus dem Wald aufgetaucht war. Doch er sah nichts außer Bäume.

Jack wartete noch einen Augenblick. Was wäre wohl passiert, wenn er diese Frau überfahren hätte? Es wäre sicherlich kein guter Einstand an seinem ersten Arbeitstag gewesen. Jack drehte sich zur anderen Seite um, doch wie erwartet sah er auch hier nichts. Nur Bäume und dichtes Gestrüpp.

„Ist hier jemand?“, rief er laut und schaute sich dabei um.

Er bekam keine Antwort und konnte lediglich den Wind hören, der die dichten Kronen und Äste der Bäume ineinanderschob.

Kurzerhand entschied er sich, seine Fahrt wieder aufzunehmen und sein Erlebnis dem Sheriff zu berichten. Er zog die Wagentür zu und presste seine Hände fest aufs Lenkrad, dann fuhr er los. „Fängt ja gut an“, sagte er zu sich selbst und drehte die Musik wieder auf.

Nur ein paar Meilen später war er endlich am Ziel. Forst war eine kleine Gemeinde mitten im Wald. Das Dorf bestand aus einer kleinen Kirche und einer Handvoll Häuser. Ringsherum waren kleine Felder und Wiesen zu sehen. Es schien eine kleine Oase der Zivilisation mitten im Wald zu sein. Die Straße führte hier nicht weiter.

Jack fuhr die letzten paar Meter zu einem kleinen Parkplatz, der sich vor einem Haus befand. Es war ein schlichter Holzbau mit vier kleinen Fenstern im Spitzdach. Die Fassaden waren frisch gestrichen und gut erhalten. Ohne den heruntergekommenen grünen Jeep vor der Haustür hätte es ebenso gut das Landhaus eines Gouverneurs sein können. Auf der Veranda standen Blumentöpfe. Der schmale, aber sorgfältig gepflasterte Weg war mit Rabatten gesäumt.

Jack stellte den Motor ab und riss die Handbremse nach oben. Als er aus seinem Wagen stieg, bemerkte er, dass eine Person hinter der zweiflügeligen Haustür stand und ihn beobachtete.

Nervös sah er sich um. Dieses Dorf und diese grenzenlose Wildnis schienen eine ganz andere Welt zu sein. Für einen Stadtmenschen musste dieser Ort die Hölle sein.

Sein Blick blieb an einer kleinen Gruppe von vier Männern und einer Frau hängen. Sie waren ihm vorher noch nicht aufgefallen. Ein bleicher, mit einer schwarzen Kutte bekleideter glatzköpfiger Mann brüllte sie an. Er schien ihnen die Leviten zu lesen und hätte ein Priester sein können, auch wenn er dafür zu böse aussah. Seine Stimme war selbst aus zwanzig Metern noch laut und deutlich zu hören.

„Wir müssen daran glauben!“, schrie er und hielt einem jüngeren Mann aus der Gruppe den Zeigefinger vors Gesicht.

Dieser blickte verstört zu Boden, dann starrte er zu Jack, während der Glatzköpfige weiter auf ihn einredete. Erst als dieser bemerkt hatte, dass die Aufmerksamkeit des jungen Mannes ganz auf Jack gerichtet war, hörte er auf, ihn anzubrüllen. Dann schauten sie alle zu ihm herüber.

Jack nickte ihnen zu und versuchte, freundlich zu wirken. Einige von ihnen sahen wie lebendige Leichen aus. Besonders eine junge Frau schien sich kaum auf den Beinen halten zu können. Ihr Bauch war kugelrund, und sie sah sehr geschwächt und müde aus. Sie war hochschwanger, da war sich Jack sicher.

„Können wir Ihnen weiterhelfen“, fragte einer der Männer. Er wirkte ein wenig verstört, seine Mimik war unfreundlich.

Jack schaute ihn an, dann richtete sich sein Blick auf die kleinen Häuser, die liebevoll mit weißer Farbe gestrichen waren. „Ich suche eigentlich nur den Sheriff dieses Dorfes“, antwortete er.

Der Mann veränderte seinen Gesichtsausdruck.

„Sie stehen genau vor seinem Haus“, sagte eine Stimme hinter ihm.

Jack drehte sich um und erblickte einen älteren, dafür aber sehr kräftigen Mann. Er trug eine typische Ranger-Uniform. Ein Stern aus feinstem Silber schmückte seine rechte Brusttasche, was ein bisschen etwas vom Wilden Westen hatte, aber verdammt respektvoll wirkte. „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist John Dung. Ich bin hier der zuständige Sheriff und Bürgermeister. Willkommen im kleinen, beschaulichen Forst und dem dazugehörigen Nationalpark.“

Jack lächelte ihn an. „Jack Miller, Feuerwehr Portland, Oregon City“, stellte er sich vor.

Sie reichten sich die Hand. „Sie müssen unser neuer Mann für den Feuerwachturm sein.“

„Ja, genau.“

„Man hat Sie uns vom Gemeindezentrum empfohlen. Ich hoffe, Sie machen den Job genauso gut wie Ihr Vorgänger.“

„Warum sollte ich es nicht tun?“, fragte Jack.

Der Sheriff antwortete ihm nicht.

„Schönes Dorf haben Sie hier“, bemerkte Jack stattdessen.

Der Sheriff musterte die Gruppe auf der anderen Seite mit einem finsteren Blick. Dann löste sich die Gruppe auf, und jeder von ihnen lief in eine andere Richtung davon.

„Wir sind eine kleine, aber dafür sehr religiöse Gemeinde. Wir haben hier nichts außer dem Wald und den umliegenden Feldern. Die Menschen, die hier leben, meiden den Kontakt zu Fremden. Jeder muss sich hier erst beweisen, bevor er integriert wird. Sind eben alle ein bisschen kleinkariert, aber Sie werden es schon meistern, Jack.“

„Das hoffe ich doch. Wovon leben Sie hier?“

„Hauptsächlich von der Forstwirtschaft, manche jagen auch Wild oder bauen ein bisschen Mais an. Immerhin dürfen wir ein paar Hektar Wald selbst bewirtschaften. Der Rest steht unter Naturschutz und wird von mir persönlich bewacht.“

„Was ist mit der ärztlichen Versorgung oder der Feuerwehr?“

Der Sheriff lachte. „Machen Sie Witze? Das nächste Krankenhaus ist sechs Stunden von hier entfernt. Wenn es brennt, löschen wir das Feuer selbst. Ansonsten muss eben die Flugfeuerwehr kommen. Die geben uns dann aus der Luft Unterstützung. Aber jetzt haben wir ja Sie.“

Jack räusperte sich. „Wird schon schiefgehen, Sheriff.“

„Kommen Sie, ich werde Sie mal durchs Dorf führen.“ Der Sheriff ging voraus, und Jack folgte ihm. „Es tut mir leid, dass ich Sie nur auf diesem Schotterweg herumführen kann, unserer Gemeinde ging aber das Geld aus. Die Folge der letzten Wirtschaftskrise. Wenn es regnet, ist es grauenvoll. Wir haben dann nur Matsch auf den Wegen. Sie sollten hohe und vor allem alte Schuhe tragen.“

„Guter Tipp“, antwortete Jack.

Vereinzelt waren hinter den Häusern Hunde und Hühner zu sehen, die im Schatten der Bäume ruhten. Jedes Haus grenzte dicht an das nächste, viele umkreisten die alte Kirche, die sich in der Mitte befand.

„Sagen Sie“, wollte Jack wissen, „was ist eigentlich mit meinem Vorgänger passiert? Ich hörte, dass er überraschend verstorben ist. Muss ein guter Mann gewesen sein.“

Der Sheriff überging die Frage und zeigte auf ein paar Häuser. „Sehen Sie, Jack, das sind die einzigen Geschäfte, die wir hier haben oder hatten. Dort befindet sich ein kleiner Supermarkt, und in diesem Haus war mal unser Bäcker. Einen Metzger haben wir schon lange nicht mehr, genauso wenig wie einen Friseur. Aber immerhin kommt einer einmal im Monat hier runter und schneidet dann fast dreißig Leuten die Haare.“

„Schwer vorzustellen, dass diese Menschen hier gerne leben. Wandern nicht total viele junge Menschen von hier ab?“

Der Sheriff blickte zu ihm auf, als hätte er nie darüber nachgedacht. „Ja, ein paar. Viele bleiben aber hier und versuchen, sich als Farmer durchzuschlagen. Es ist vielleicht schwer zu verstehen, Jack, aber wenn sie nichts anderes kennen, fällt es ihnen umso schwerer, von hier wegzugehen. Es ist hier zwar einsam, aber auch irgendwie schön. Die Menschen sind einfach und unabhängig. Wir sind eben mehr als nur eine Gemeinde. Wir sind eine Familie. Eine Familie, die an ihrer Tradition festhält.“

„Wie viele gehen und kommen wieder zurück? So Pi mal Daumen?“, fragte Jack.

„Das ist schwer zu sagen. Vielleicht kommen etwa fünfzig Prozent von ihnen zurück.“

„Das hätte ich nicht gedacht.“

Der Sheriff hob die Schultern. „Es ist eben die Ruhe und die Beschaulichkeit. Die Menschen hier lieben das. Rauchen Sie, Jack?“

„Nein.“

„Das ist sehr gut, denn Alkohol und vor allem Zigaretten sind strengstens verboten. Einen Waldbrand können wir uns zurzeit überhaupt nicht leisten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich rauche zum Glück nicht“, sagte Jack. „Warum aber keinen Alkohol?“

„Die Unfallgefahr ist einfach zu groß. Wir können uns hier schwere Verletzungen, die im Alkoholrausch passieren, nicht erlauben. Außerdem hat jemand vor rund zwanzig Jahren betrunken eine Petroleumlampe umgeworfen. Danach standen hundert Hektar Wald in Flammen.“

„Jetzt verstehe ich. Wirklich sehr vorbildlich, Ihre Lebensweise.“

„Das sind eben unsere kleinen Hausregeln. Sie sollten sie unbedingt einhalten, denn die meisten Neuankömmlinge glauben uns nicht, dass wir es ernst meinen, wenn wir sagen, dass wir sie bei Übertretung der Gesetze wieder nach Hause schicken.“

„Haben Sie so schlechte Erfahrungen gemacht, John?“

Der Sheriff nickte. „In den letzten dreißig Jahren als Gesetzeshüter habe ich schon vieles gesehen und erlebt. Und ich musste hart durchgreifen.“

Jack schaute zu einer jungen Frau hinüber, die von ihrer Veranda einen Korb mit Milchflaschen ins Haus tragen wollte und sie beide dabei mit schüchternen Blicken musterte. „Schaffen Sie das?“, rief ihr Jack zu. „Kann ich Ihnen helfen?“

Der Sheriff schaute ihn mürrisch an. Die junge Frau verschwand wieder in ihrem Haus.

„Wie Sie sehen, liegt uns nicht viel an fremder Hilfe, Jack. Es ist die Tochter unseres kürzlich verstorbenen Feuerwächters. Sie ist vor sechs Jahren zu uns gezogen.“

„Eine sehr attraktive junge Frau“, bemerkte Jack.

„Allerdings. Ihr Mann und ihr Sohn verstarben vor zehn Jahren. Sie kam mit ihrem Tod nicht zurecht und suchte einen Ort der Stille und der Einsamkeit. Ihr Vater holte sie nach Forst.“

„Woran verstarben die beiden?“

„Es war ein Autounfall. Sie lebten irgendwo in der Nähe von Portland. Da fällt mir ein, wie war überhaupt Ihre Autofahrt? Hatten Sie eine angenehme Reise?“

Jack zuckte zusammen, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. „Nun, eigentlich war meine Fahrt recht ruhig und ohne besondere Ereignisse. Manchmal eben ein bisschen langweilig.“

„Das glaube ich.“ Der Sheriff lachte und führte Jack zurück zu seinem Jeep.

„Ich habe unterwegs aber etwas Merkwürdiges erlebt.“

Das Lachen des Sheriffs verschwand. „Was meinen Sie?“

„Mir wäre fast eine junge Frau vor die Motorhaube gelaufen. Sie kam wie aus dem Nichts und verschwand wieder. Ich wäre beinahe gestorben, kann ich Ihnen sagen. Hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“

Der Sheriff zögerte einen Moment, dann blieb er stehen und rieb sich die Nase. „Wie sah sie aus?“

Jack versuchte, sich zu erinnern. „Keine Ahnung, ich konnte so schnell gar nicht gucken.“

Der Sheriff blickte Jack tief in die Augen. Dann schaute er zu Boden. „Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen, Jack, aber scheinbar lässt es sich nicht verhindern.“

John hielt einen Moment inne. „Was meinen Sie, Sir?“

„Es gibt ein paar Meilen von hier entfernt eine kleine von Baptisten geführte Anstalt. Dort werden etwa zwanzig an Schizophrenie erkrankte Frauen therapiert. Unser Dorf redet nicht gerne darüber, uns ist diese Einrichtung ein Dorn im Auge. Ab und zu gehen schon mal ein paar der Frauen stiften. Sie sind aber harmlos und friedlich. Eben nur ein bisschen verrückt“, witzelte er.

„Also doch kein Gespenst“, stellte Jack fest.

Der Sheriff grinste. „In meinem Wald spukt es nicht, das wüsste ich sonst.“ Er lief um seinen Jeep herum und öffnete die Tür. „Steigen Sie ein! Ich fahre Sie jetzt zu Ihrem Arbeitsplatz.“

Verwundert starrte Jack John an. „Soll ich meinen Wagen hier stehen lassen? Da sind meine ganzen Sachen drin.“

„Also, ich würde das an Ihrer Stelle tun, es sei denn, Sie haben Allradantrieb.“

„Natürlich nicht. Dass ich daran nicht selbst gedacht habe“, scherzte Jack.

„Man kann nicht an alles denken. Lassen Sie den Schlüssel einfach stecken, ich bringe Ihre Sachen später vorbei. In dieser Gegend wird weder geklaut noch kommt irgendetwas weg oder geht verloren.“

„Wenn Sie das sagen. Sie sind hier der Sheriff.“

Dann stiegen sie ein und fuhren los.

Auf dem Weg zum Feuerturm, der genau genommen nur ein schmaler Pfad aus Matsch und Laub war, suchte Jack nach einer Erklärung, was wohl diesen Typ vorhin so in Rage gebracht hatte, als er mit den anderen Dorfbewohnern sprach. Auch die Tochter des früheren Turmwächters wirkte alles andere als lebensfroh. Doch er wurde schnell aus seinen Gedanken gerissen, als er von Weitem die Holz- und Stahlträger eines Turms entdeckte.

„Sehen Sie, es ist ein beschwerlicher Weg, auch wenn wir keine zehn Minuten gefahren sind. Ohne Allradantrieb sind Sie hier verloren und fahren sich fest. Wäre eine ziemliche Maloche, den Wagen aus dem Dreck zu ziehen.“

Jack nickte zustimmend, sagte aber nichts.

„Es wird am Anfang alles ein bisschen komisch sein.“

„Wie weit ist es zu Fuß bis ins Dorf?“, wollte Jack wissen.

„Sie laufen gute fünfzehn Minuten. Es ist nicht weit, aber Sie dürfen nachts den Turm niemals verlassen, Jack.“

Jack sah den Sheriff verwirrt an. „Warum?“

Der Sheriff parkte den Jeep in einer schmalen Linkskurve direkt vor einem der vier Betonpfeiler, die aus dem feuchten Waldboden ragten. Jack konnte durch die Deckenscheibe des Jeeps direkt auf die höchste Plattform des Turms blicken. Beeindruckt von dessen Größe und Höhe sah er wieder den Sheriff an und hoffte auf eine plausible Erklärung.

„Nun, Sie sind jetzt ein Feuerwächter, Jack. Ihr Arbeitsvertrag sieht das so vor. Sie dürfen tagsüber für zwei Stunden den Turm verlassen und zum Abend hin eine Stunde. Außerdem befinden Sie sich hier in einem Jagdgebiet. Viele unserer Bewohner jagen meist nachts. Es wäre wirklich nicht schön, wenn man Sie versehentlich anschießen würde. Ein paar Querschläger gibt es immer, denken Sie daran.“

„Hört sich wirklich gefährlich an. Hoffentlich gibt es da oben eine Toilette.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, Jack, Sie haben da oben mehr Luxus als so mancher Einwohner aus dem Dorf.“

Der Regen von vorletzter Nacht hatte den Waldboden aufgeweicht, sodass die Blätter und Zweige unter Jacks Füßen nachgaben. Der Boden schien wie ein dicker, feuchter Teppich zu sein, und die Schritte der beiden Männer verursachten darauf schmatzende Geräusche.

Nach etwa fünf Schritten blieben sie vor einer Eisentür aus Gitterstäben stehen. Hastig zog der Sheriff einen seiner vielen Schlüssel aus der Tasche seiner Uniform.

„Was Sie hier sehen, Jack, ist einer der größten und ältesten Feuerwachtürme Nordamerikas. Er ist fünfundsechzig Meter hoch und bringt stolze hundertvierzig Tonnen auf die Waage. Man hat diesen Turm vor rund einhundert Jahren gebaut. Er ist also genauso alt wie der Nationalpark, den er beschützt.“

Die Tür war von außen mit einem Vorhängeschloss abgesperrt. Das Schloss war verrostet, mühsam versuchte der Sheriff, einen der Schlüssel hineinzustecken. Mit einem satten Klick sprang es auf, und die Tür ließ sich öffnen. Beeindruckt blickte Jack auf die unendlich vielen Stufen und Treppenabsätze, die zu der höchsten Ebene des Turms führten.

„Leider gibt es keinen Aufzug“, murrte der Sheriff. „Aber Sie sollten als Feuerwehrmann weniger Probleme damit haben. Na ja, ich bin auch nicht mehr der Jüngste, Jack.“

„Wie viele sind es?“

„Müssten um die vierhundert sein.“

„Wie gut, dass ich den Turm nur zweimal am Tag verlassen darf.“

Der Sheriff lachte. „Sie sind echt ein lustiger Kerl, Jack. Das mag ich an Ihnen. Also dann lassen Sie uns mal den Turm hinaufgehen. Passen Sie auf die Stufen auf. Manche sind schon ein bisschen abgenutzt vom Regen. Ein paar Stufen haben wir letzten Frühling ausgewechselt. Es gibt aber immer noch einige, die ziemlich marode sind.“

„Wahnsinn!“, staunte Jack.

Die gesamte Konstruktion war aus Holz. Jede Stufe, jeder Querbalken. Nur der Rahmen war von außen mit Stahlträgern verstärkt worden.

„Ist das nicht alles eine irrsinnige Arbeit, den Turm instand zu halten?“

Schwer atmend blieb der Sheriff auf einem der Treppenabsätze stehen. „Alle vier Jahre schaut der TÜV vorbei, dann wird der Turm generalüberholt. In der Zeit dazwischen muss der Feuerwächter für die notwendigsten Reparaturen sorgen. Sie werden also niemals Langeweile bekommen.“ Keuchend, aber zügig lief der Sheriff weiter.

„So viel zum Bürojob“, flüsterte Jack. Andererseits freute er sich aber auch darauf. Immerhin musste er an manchen Tagen die Zeit totschlagen, da würden ihm kleinere Arbeiten am Turm ganz gelegen kommen. Jack konnte mit dem Tempo des Sheriffs problemlos mithalten, er hatte sogar noch Zeit, sich genauer umzuschauen, während er Stufe für Stufe hinauftrat.

Aus etwa zehn Metern Höhe konnte er bereits über die ersten Baumkronen sehen. Jack freute sich auf einen fantastischen Blick über den gesamten Wald. „Sagen Sie“, fragte er, während er wieder dicht zum Sheriff aufschloss, „warum sind Sie so schlecht auf diese Anstalt zu sprechen?“

Bevor der Sheriff etwas entgegnen konnte, hielt er sich am Geländer fest. Er holte tief Luft und sah dabei nach oben, als wünschte er sich, schon am höchsten Punkt des Turms angekommen zu sein. Doch es lagen noch einige Stufen vor ihnen. „Verstehen Sie mich nicht falsch, Jack“, begann er vorsichtig, „aber wir haben hier etwas gegen Menschen, die unseren Alltag durcheinanderbringen.“

„Wie meinen Sie das?“

Der Sheriff schüttelte den Kopf. „Glauben Sie mir, ich habe mir das Hirn zermartert, seit diese Sache passiert ist.“

Jack konnte ihm nicht folgen, versuchte aber, so zu tun.

„In den letzten paar Monaten sind hier merkwürdige Sachen passiert. Zwei Mädchen aus dieser Anstalt kamen unerwartet zu Tode. Das FBI war hier.“

„Mein Gott“, sagte Jack. „Warum hat das FBI die Anstalt denn nicht dichtgemacht?“

„Nun, weil sie nichts Verdächtiges gefunden haben. Zudem wird diese Anstalt von einer baptistischen Kirchengemeinde geführt. Die haben einen verdammt guten Ruf, und das schon seit Jahren.“

„Woran sind diese Frauen gestorben?“

Der Sheriff, der gerade weitergehen wollte, blieb erneut stehen. „Eigentlich erzähle ich so etwas niemandem. Aber was soll’s, Sie werden es sowieso irgendwann erfahren. Sie wurden beide umgebracht. Aber verstehen Sie mich, ich möchte ungern darüber sprechen. Ich werde Ihnen irgendwann diese Geschichte erzählen, nur nicht heute, Jack. Ich kann Sie aber beruhigen. Beide Morde wurden lückenlos aufgeklärt.“

„Mein Gott.“

Der Sheriff rieb sich die Schweißperlen von der Stirn. „Es ist wirklich schade, dass so etwas ausgerechnet bei uns passieren musste.“ Dann ging er weiter.

Jack blieb für ein paar Sekunden wie erstarrt stehen. Erneut versuchte er, den Sheriff einzuholen. „Kaum zu glauben“, sagte er. „Ich dachte, so etwas kann es nur in der Großstadt geben.“

„Das dachte ich auch einmal“, antwortete John. „Kommen Sie, wir haben es gleich geschafft. Dann kann ich Ihnen mal den Nationalpark von oben zeigen. Sie werden erstaunt sein.“

Ein wenig erschöpft liefen sie die letzten Stufen bis zur obersten Plattform hinauf. Sie war größer, als Jack sie sich vorgestellt hatte. Der Boden war aus Holz, die Geländer, die auf Brusthöhe waren, aus Metall. In der Mitte befand sich ein kleines Holzhaus mit einem Sheddach. Es war nicht sonderlich groß, reichte aber locker, um eine Person darin wohnen zu lassen.

Jack staunte über die eigenartige Konstruktion. „Hat ein bisschen was von einem zu groß geratenen Gartenhaus.“

„Darf ich vorstellen“, sagte der Sheriff, „Ihre neue Arbeits- und Wohnstätte. Das sind gute fünfundzwanzig Quadratmeter Wohnfläche ganz für Sie alleine. Die Toilette und die Dusche sind leider nur von draußen begehbar. Im Winter könnte es dann schon mal kalt werden. Strom und warmes Wasser sind aber vorhanden. Die Leitungen wurden vor zehn Jahren nach hier oben verlegt. Ich sagte ja, das ist Luxus für diese gottverlassene Gegend.“

Jack schaute sich genauer um. Er öffnete eine schmale Tür, die sich seitlich versetzt neben einer etwas größeren befand. Er sah eine Toilette und links daneben eine schmale Duschkabine mit Vorhang. Der Raum glich von der Größe her eher einer Abstellkammer. Ein Schritt reichte aus, um von der Toilette in die Duschkabine zu gelangen. „Für Leute mit Platzangst ist dieses Badezimmer auf jeden Fall ungeeignet“, witzelte er.

„Wer Platzangst hat, ist für diesen Job hier oben ohnehin ungeeignet. Was sagen Sie hierzu?“ Der Sheriff öffnete die andere Tür.

Nachdem Jack das zu klein geratene Badezimmer gesehen hatte, überraschte ihn die Ausstattung des Arbeits- und Wohnzimmers nicht. Vor den zwei großen Fenstern hingen billige Rollos, die an beiden Seiten mit Klebeband befestigt waren, damit die Sonne nicht durch die Schlitze fallen konnte. Dennoch wurde der Raum hell erleuchtet. Ein Bett gab es nicht, dafür aber ein relativ neuwertiges, ausklappbares Schlafsofa. Vor dem Fenster zur linken Seite stand ein großer Schreibtisch mit Schreibmaschine und Funkgerät. Auf der anderen Seite gab es eine kleine Kochnische mit Kühlschrank und Bücherregalen. Zwei Taschenlampen und ein paar Batterien lagen auf dem Holzboden verteilt. Statt eines Kleiderschranks war eine Wäscheleine an die Wand genagelt. Der Sheriff ging voraus zu einem der Fenster und zog das Rollo hinauf.

„Schauen Sie mal, Jack“, sagte er. „Ich denke, das hier wird einige kleine Unannehmlichkeiten entschädigen.“

Jack folgte ihm und ging zu dem rechten Fenster. Er musste John Recht geben, denn das, was er zu sehen bekam, faszinierte und erstaunte ihn: Er konnte meilenweit über den Nationalpark blicken. Von Weitem sah er die Spitze des Kirchturms von Forst. „Es ist wunderschön.“

„Sie müssen mal nach draußen über die Brüstung blicken. Bei klarer Sicht können Sie bis Evergreen sehen.“

Jack schaute den Sheriff fragend an.

„Es ist die nächste Gemeinde am anderen Ende des Waldes“, erklärte dieser. „Etwa vier Stunden Fußmarsch von hier. Es gibt dort auch einen Feuerwachturm. Fragen Sie mich jetzt aber nicht nach der Funkfrequenz. Ich glaube eher, dass dieser Turm nicht mehr besetzt ist. Jedenfalls ist er nicht mehr im Katastrophenplan verzeichnet.“

Jack schaute sich um. „Gibt es hier eigentlich ein Telefon?“

„Sie können über Funk telefonieren. Sprechen Sie aber nicht über Intimitäten, es könnte versehentlich jemand mithören. Sie verstehen, was ich meine?“

Jack nickte. Zum Glück waren die Zeiten, in denen er mit seiner Frau Telefonsex hatte, vorbei.

„Die Beschreibung für das Funkgerät und das Telefon finden Sie hier im Regal. Auch über die Arbeitsabläufe gibt es hier haufenweise Bücher. Schauen Sie sich in Ruhe um. Falls es zum Notfall kommen sollte, schalten Sie einfach den Knopf ein und sprechen drauflos.“ Der Sheriff zeigte auf das Funkgerät. „Die Frequenz ist eingestellt. Es gibt so oder so nur drei Kanäle. Strom und Ähnliches haben Sie hier oben. Unten steht in einer Metallbox ein Notstromaggregat, falls mal eine Leitung beschädigt wird. Das Ding müsste für sechs Stunden halten.“ Der Sheriff ging zur Kochnische. Ein schmales Spülbecken ließ nur knappen Platz für eine Arbeitsfläche frei. „Gehen Sie etwas sparsam mit dem Wasser hier oben um. Der Turm versorgt sich mit frischem Grundwasser aus einem Brunnenschacht. Sie sollten es vorher abkochen, ehe Sie es zum Trinken oder Kochen verwenden. Alles andere erklärt sich von selbst, denke ich. Haben Sie noch Fragen?“

„Nein danke“, antwortete Jack. „Einen Internetzugang gibt es hier oben nicht, denke ich.“

Der Sheriff lachte. „Machen Sie Witze? Sie haben nicht einmal vernünftigen Radioempfang in dieser Gegend. Ich komme in einer Stunde wieder und bringe dann Ihre Sachen. Hier ist der Generalschlüssel, verlieren Sie den nicht. Es gibt nur diesen einen.“ Mühsam wickelte er den Schlüssel von seinem Bund und überreichte ihn Jack. „Viel Glück, Jack, und denken Sie an Ihre Zeiten.“

Er lief an Jack vorbei und wollte gerade zur Tür hinaus, als ihm Jack nachrief: „Ach, John, was ist mit Verpflegung?“

„Sie können bei uns im Dorf einkaufen, ich bringe Ihnen aber auch gerne etwas vorbei. Funken Sie mich einfach an. Im Kühlschrank finden Sie das Notwendigste. Müsste erst einmal reichen. Bis gleich, ich habe leider noch zu tun.“ Noch ehe Jack etwas entgegnen konnte, war der Sheriff verschwunden.

Jetzt war er auf sich allein gestellt. Ein bisschen ärgerte er sich, dass er seinen Wagen samt Tasche zurücklassen musste. Er vertraute aber auf die Worte des Sheriffs. Welcher Verbrecher sollte schon in diesem kleinen Kaff sein Unwesen treiben?

Als er mit der Besichtigung des Raumes fertig war, lief er nach draußen. Er schaute eine Weile zu, wie sich die Sonne langsam hinter den Horizont schob und die Abenddämmerung hervorkam. Dann sah er nach allen Seiten. Nichts als Bäume, so weit das Auge reichte. Vergebens hielt er nach dem anderen Feuerwachturm Ausschau. Die Sicht war einfach nicht gut genug. Das Wetter war zu wechselhaft. Zum Glück war es nicht sonderlich windig oder regnerisch. Jack schaute sich genau um und versuchte, sich langsam an seine neue Heimat zu gewöhnen.

Eine Stunde später hörte er ein Motorengeräusch. Er lief zurück zur Brüstung und sah, wie der Sheriff ausstieg und den Kofferraum seines Jeeps öffnete. Er blickte kurz zu Jack hinauf, winkte ihm zu und stellte seine Tasche vor dem Eingangsbereich des Turms ab. Jack hätte sich denken können, dass John es vorzog, unten zu bleiben, statt sich die Mühe zu machen, noch einmal zu ihm hinaufzulaufen. Keuchend schleppte sich also Jack mitsamt dem Gepäck zu seinem fünfundsechzig Meter hohen Arbeitsplatz hinauf.

John hatte Recht behalten: Jacks persönlichen Sachen waren alle noch da. Auch sein Autoschlüssel befand sich in seiner Tasche, sorgfältig verpackt in einem Briefumschlag, zusammen mit einem Zettel: Ihr Wagen steht bei mir sicher, er ist verschlossen. Falls Sie noch Fragen haben, funken Sie mich an! Liebe Grüße Sheriff John Dung.

Erleichtert verstaute Jack seine Sachen. Er war froh, nur das Notwendigste eingepackt zu haben. Es musste ohnehin hier oben eine kleine Herausforderung sein, die Wäsche zu waschen.

Als die Sonne unterging und die Nacht hineinbrach, beschäftigte sich Jack mit dem Funk und las sorgfältig die Gebrauchsanweisungen durch. Danach schaute er sich die letzten Funkeintragungen seines Vorgängers an. Zum ersten Mal seit Langem fühlte er sich wieder gut. Er konnte hier oben endlich auf andere Gedanken kommen. Selbst einen Fernseher oder ein Radio vermisste er nicht. Wenn ihm langweilig wurde, spähte er durch eines der großen Fenster hindurch und schaute auf die unendliche schwarze Weite. Ohne den Mond am Himmel hätte man fast glauben können, auf einem anderen Planeten zu sein. Es begeisterte ihn.

Nach einem kleinen Imbiss, der aus Cornflakes mit Milch bestand, beschloss er, schlafen zu gehen. Er öffnete eines der Fenster. Dann legte er sich hin und lauschte in die Dunkelheit. Er hörte nichts, nur ein Wolf heulte in der Ferne und durchbrach mit seinem Gesang die beängstigende Stille des Waldes. Jack schloss die Augen und schlief ein.

Feuerwächter

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