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WIE WIR HOCHKANT VON DER SCHULE FLOGEN Es war nicht so, wie es aussah
ОглавлениеAm Ende der neunten Klasse sind wir dann nach der letzten Klassenfahrt von der Schule geflogen. Genau: wir, die besten und vorbildlichsten Schüler, als die uns die Lehrer kannten. Wir hatten uns wieder mal nicht ganz mit den strengen Regeln abfinden können und es etwas mit unseren Experimenten übertrieben. Wenn man diese überhaupt so nennen kann.
Bisher waren wir die Lieblingsschüler der Lehrer gewesen, die die 7. Klasse übersprungen hatten, und plötzlich waren wir die allerschlimmsten Verbrecher, sodass sogar die Schule evakuiert werden musste, als wir noch ein letztes Mal hingingen.
Wie das alles kam?
Vor der Klassenfahrt war uns gesagt worden, dass es absolut verboten ist, Alkohol mitzunehmen. Das haben wir natürlich wieder mal eher als persönliche Herausforderung verstanden und zu Hause mit einem selbstgebauten Destillationsgerät hundertprozentigen Alkohol gebrannt. Wir hatten uns gründlich mit dem Thema beschäftigt und wirklich hochwertigen, ungiftigen Alkohol hergestellt – also nicht die Sorte, von der man blind werden kann oder sowas. Unseren Eltern, die das Destillationsgerät natürlich bemerkten, erzählten wir, dass das wissenschaftliche Experimente seien. Das war ja zumindest nicht ganz gelogen. Unser durchsichtiges Destillat füllten wir in eine kleine Flasche, die völlig unverdächtig aussah, und nahmen sie mit auf die Klassenfahrt. Ebenso wie unseren Laptop, den wir gar nicht brauchten. Aber es war untersagt – deshalb musste er mit!
Als dann einige Mädchen aus der Klasse auf die Idee kamen, „Trinkspiele mit Wasser“ zu machen, fanden wir, dass dabei der Sinn des Trinkspiels irgendwie nicht richtig rüberkommen würde. Daher füllten wir einem Mitschüler mit einer Spritze eine wirklich winzige Menge (nicht mal 10 Milliliter) unseres hundertprozentigen Alkohols in seine Wasserflasche. Er hat nicht mal was davon gemerkt. Als wir ihm dann erzählten, was wir gemacht hatten, fand er die Aktion aber richtig cool und hat so getan, als würde er besoffen herumtaumeln. Das Ganze war also eigentlich ziemlich harmlos und eher lustig. Andere Mitschüler schauten auf unserem illegal mitgeführten Laptop verbotene Filme an.
Dummerweise hat der Klassenkamerad dann aber nach der Klassenfahrt seiner Schwester von der Sache erzählt und, wie das bei solchen Storys eben so ist, alles total übertrieben. In seiner Version haben wir ihn ohne sein Wissen total abgefüllt. Und die Schwester hat die Geschichte dann nochmal ausgeschmückt – nun war der Mitschüler angeblich betrunken aus dem Fenster gefallen und hatte sich schwer verletzt – und diese Story dann ihrer Mutter erzählt, und so landete das Ganze dann, inzwischen tausendfach übertrieben, beim Direktor.
Schon in den Ferien bekamen wir mit, dass sich ein Gerücht herumgesprochen hatte. Was hatten wir nun zu erwarten, wenn die Schule wieder anfing?
Zuerst schien alles völlig normal. Wir waren lediglich gebeten worden, unseren Laptop mitzubringen. Plötzlich kam die Schulleiterin in den Unterricht. Sie forderte uns auf, zu einem Gespräch in ihr Zimmer zu kommen. Darauf waren wir natürlich vorbereitet. Wir hatten uns eine Story zurechtgelegt, die ziemlich harmlos klang, und die ältere Frau war sichtlich erleichtert.
Etwas erschrocken waren wir, als es hieß, dass nun jeder aus der Klasse zum Verhör kommen sollte. Das würde nicht gut ausgehen. Schnell schnappten wir uns einen Zettel und schrieben die wichtigsten Punkte unserer erfundenen Geschichte darauf mit der Bitte, diese Story zu erzählen. Diesen Zettel ließen wir durch die Klasse gehen.
Die Ersten wurden herausgerufen. Zunächst schien es nach Plan zu laufen. Gerade, als ich dachte, alles wäre noch einmal gut gegangen, ging die Tür noch einmal auf. Der Gesichtsausdruck unserer Schulleiterin deutete auf etwas ganz anderes hin. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen.
„Ihr könnt nach Hause gehen und braucht nicht wieder zu kommen!“, schrie sie.
Wie sich herausstellte, hatte jemand den Zettel an sie weitergegeben und die echte Story erzählt. Unser Laptop wurde einkassiert, und auf dem fand die Schule dann einige Videos von unseren Explosionen und Experimenten, die wir zu Hause durchgeführt hatten, um zu sehen, welche Materialien man wie am besten in Brand setzen kann. Die erweckten bei der Schulleitung den Eindruck, dass man uns total falsch eingeschätzt hatte und wir anscheinend planten, die Schule wegzusprengen. Und spätestens da lief die ganze Geschichte dann total aus dem Ruder.
Am Ende waren unsere Lügen und der Vertrauensverlust wohl schlimmer als das eigentliche Vergehen. Eigentlich weiß bis heute wohl niemand an dieser Schule, was damals wirklich passiert ist.
Ich sag ja, unser Leben war schon immer extrem. Auch wenn das alles letztlich ein großes Missverständnis war, flogen wir von der Schule, und als wir nochmal hingehen und uns entschuldigen wollten, wurde die gesamte Schule evakuiert. Zum Glück hat sich wenigstens ein Lehrer für uns eingesetzt, sodass wir zumindest noch unsere Zeugnisse bekamen und auf einer anderen Schule neu anfangen konnten.
Natürlich haben wir zu Hause brutal Ärger bekommen und unsere Eltern haben uns erstmal so ziemlich alles verboten. Trotzdem hatte das Ganze auch etwas Gutes, denn so hatten wir wenigstens Sommerferien, die wir bei einem normalen Schulwechsel nach Hessen nicht gehabt hätten. Und die Ferien waren doch die einzige Zeit, in der wir das Gefühl hatten, nicht unser ganzes Leben sinnlos zu verschwenden.
Auch über den Kontrast zwischen unserem Gefühl in der Schule und draußen in der Natur hat Johannes ein ziemlich schönes Gedicht geschrieben:
Die Ferien sind bald vorbei,
die Schule beginnt, die ich hasse,
denn in den Ferien merkte ich nebenbei,
was ich in der Schulzeit alles verpasse.
Egal ob’s regnet oder schneit,
selbst beim schönsten Sonnenschein
sperrt man uns die schönste Zeit
des Tages in die Penne ein.
Ein Blaukehlchen singt in den Feldern,
wie gern wär’ ich hinausgegangen.
Der Grünspecht ruft in den Wäldern,
doch hält man mich am Schreibtisch gefangen.
Ich weiß die Rehe auf den Wiesen
bei diesem Sonnenschein.
Wenn sie mich nur aus der Schule ließen,
es könnte nicht schöner sein.
Ein Fuchs schleicht durch das Schilf im Graben,
doch ich kann ihn nicht sehen.
Ich sitz an meinen Schulaufgaben,
darf nicht nach draußen gehen.
So froh wir darüber waren, von der Schule geflogen zu sein, waren wir doch plötzlich sehr allein. Ich hätte am liebsten die ganze Geschichte schnell vergessen und verdrängt … wenn da nicht jemand gewesen wäre, den ich gerne näher kennengelernt hätte. Ich war ja gerade in dem Alter, in dem Mädchen plötzlich interessant wurden, und da kam dieser Schulwechsel denkbar unpassend. Mit den Freunden, die wir damals in der Heimschule gehabt hatten, hatten wir nicht mehr viel zu tun. Denn weil die Schule so weit entfernt lag, hatten wir nur noch sehr wenig Zeit gehabt, um uns im Real Life mit Leuten zu treffen oder Aktionen zu starten.
Schon immer hatten wir uns für die Natur interessiert, besonders für wild lebende Tiere. Klar ist es toll, exotische Tiere in fremden Ländern zu sehen, aber unsere eigene Tierwelt hier in Deutschland hat auch einiges zu bieten, stellten wir fest.
Nachdem wir eine Spiegelreflexkamera bekommen hatten, fingen wir an, die Tiere nicht nur zu beobachten, sondern auch zu fotografieren und zu filmen. Wir nutzten jede freie Minute, um raus in die freie Wildbahn zu gehen – für mich war die unglaubliche Kreativität und Vielfalt in der Natur das Einzige, bei dem ich dachte, dass es so etwas wie eine höhere Intelligenz hinter alledem geben musste.
Meistens waren wir im Naturschutzgebiet der renaturierten Landbachaue bei Bickenbach, dem Pfungstädter Moor und Umgebung unterwegs, und es war wirklich staunenswert, was man tatsächlich direkt vor der eigenen Haustür an tollen Entdeckungen und Beobachtungen machen kann.
Irgendwie hatte unser Leben zwei Seiten. Einmal war es diese extreme, verrückte, abenteuerlustige und risikofreudige Seite, auf der anderen sehnten auch wir uns nach Ruhe und Anerkennung. Vielleicht war das der Grund, warum wir es so genossen, stundenlang im Moor zu sitzen, um einem Eisvogel beim Fischfang zuzuschauen, oder um fünf Uhr morgens aufstanden, um kleine Füchse zu beobachten.
So richtig erfüllt hat uns aber keins von beidem. Irgendwie war da die Sehnsucht, ein wirklich sinnvolles Leben zu führen; die Sehnsucht, einen Sinn im Leben zu finden, ohne wertvolle Lebenszeit dabei zu verschwenden. Aber was konnte uns das geben, wenn es uns weder durch die verrücktesten Experimente noch durch die Ruhe in der Natur gelang?