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MEINE WELT BRICHT ZUSAMMEN So war das nicht geplant
ОглавлениеEin Jahr nach dem Schulwechsel war wieder alles bestens in unserem Leben. Wir hatten neue gute Freunde gefunden und waren in eine Klasse gekommen, die uns ohne unsere seltsame Vergangenheit in der letzten Schule kannte. Wir hatten uns gut angepasst, und das erste Mal im Leben habe ich mich sogar immer mehr darauf gefreut, in die Schule zu gehen.
Nach und nach wurden wir mit unserem Hobby, den Tier- und Naturfilmen, immer erfolgreicher, haben Preise, Workshops, Reisen und Preisgelder gewonnen und Hunderte unserer DVDs über die heimische Tierwelt verkauft.
Das erste Mal deutlich bemerkt, dass etwas nicht stimmt, habe ich, als wir im Herbst 2013 mit unseren Eltern an der Ostsee waren, zu einer Preisverleihung auf einem großen Filmfestival. Es war ein richtig schöner Urlaub. Die Natur leuchtete in den schönsten Farben des späten Sommers. Wir hatten alle Fahrräder dabei, und ich habe noch genau das Bild vor Augen, wie wir als Familie über die scheinbar endlosen Deiche der Ostsee gefahren sind. Von Weitem konnte man unsere fünf Falträder sehen, die wir vorher zusammen mit unserem Vater aus alten Teilen zusammengebaut hatten.
Es war ein schöner Abend, die Sonne ging am Horizont unter, die Luft roch salzig nach Meerwasser. Eigentlich war alles so perfekt. Aber eben nur eigentlich. Was niemand wusste und ich auch niemandem sagte, war, dass ich schon seit Wochen immer schlechter Luft bekam, dass ich Tag für Tag an Kraft verlor. Es fühlte sich an, als wäre ein großer Stein in meine Lunge gefallen, der verhinderte, dass ich ganz einatmen konnte.
Als wir nun hier mit unseren Fahrrädern gegen den Wind ankämpfen mussten, merkte ich ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise wäre ich vorneweg gefahren, jetzt hing ich hinten dran und hatte Mühe, mit den anderen mitzuhalten.
Aber ich ließ mir nichts anmerken und erst, als es ein paar Wochen später nicht mehr zu vertuschen war, sagte ich es schließlich meiner Mutter. Und da war es eigentlich schon viel zu spät.
Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, an dem ich die Diagnose bekommen habe. Den Tag, der mein damaliges Leben komplett auf den Kopf stellen sollte.
Ich hatte ein MRT verordnet bekommen, nur zur Sicherheit und um abzuklären, ob die Vermutung des Hausarztes, dass ich eine Lungenentzündung hatte, tatsächlich stimmte. Ich saß schon seit Stunden in diesem Wartezimmer. Vorher war ich so gut wie noch nie beim Arzt gewesen. Ich war dieses Warten nicht gewohnt. Das MRT war kurz und schmerzlos gewesen, aber warum rief mich denn jetzt niemand auf, um mir mitzuteilen, was das Ergebnis war? Alle, die nach mir drangekommen waren, waren längst gegangen, und langsam machte sich ein seltsames Gefühl in mir breit.
Die Ärzte, die am Wartezimmer vorbeikamen, schienen mich beunruhigt zu beobachten, als hätten sie ein Geheimnis, das sie mir nicht verraten wollten. Endlich wurde ich aufgerufen und in dieses dunkle Zimmer geführt. Hinter einem kleinen Schreibtisch saß ein großer Arzt, auf dem Bildschirm vor ihm waren die Bilder des MRT zu sehen. Das MRT zeigte nicht nur meine Lungen, meine Rippen und mein Herz, sondern da war noch etwas anderes, das dort nicht hingehörte.
Ein faustgroßer Tumor.
Genauer gesagt ein Hodgkin-Lymphom, ein weit fortgeschrittener Lymphdrüsenkrebs. Damit hätte ich niemals gerechnet.
Der Arzt war ziemlich trocken und direkt: „Wenn da nicht schnell etwas gemacht wird, hast du nicht mehr lange zu leben“, meinte er.
Okay. Ich fand es ja eigentlich gut, dass er so ehrlich war. Was das alles heißen sollte, was diese Diagnose Krebs bedeutete, war mir bis dahin nicht bekannt. Warum hätte ich mich denn auch jemals damit beschäftigen sollen?
Meine Reaktion muss genauso kalt und trocken gewesen sein wie seine. Alles, was der Arzt danach noch sagte, rauschte an mir vorbei wie lärmender Autoverkehr, ohne dass ich es richtig registrierte. Von einer OP und einer möglichen Chemotherapie war die Rede, aber dass das noch abgeklärt werden müsse. Ich hörte gar nicht richtig zu. Ich wollte es nicht wahrhaben. Ich war sechzehn Jahre alt, ich wollte jetzt nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte. Ich wollte einfach mein Leben weiterleben.
Meine Mutter war in dem Moment deutlich geschockter als ich. An die Autofahrt zurück kann ich mich nicht mehr so gut erinnern. Ich konnte und wollte nicht zeigen, was ich fühlte, und muss nach außen sehr gefasst gewirkt haben. Außerdem wusste ich eben nicht, was auf mich zukommen würde. Ich kann mich gut verstellen in solchen Situationen, besonders, wenn ich den Eindruck habe, dass ich es für die anderen nur schwerer machen würde, wenn ich meine Gefühle zulasse.
Das habe ich erst zu Hause getan. Auf der Toilette. Ich konnte meine Emotionen nicht länger unterdrücken. Ich glaube, das Schwierigste war gewesen, meinem Vater und meinem Bruder ins Gesicht schauen und ihnen die Diagnose mitteilen zu müssen. Sie waren darauf doch genauso wenig vorbereitet wie ich. Genauso überfordert mit dieser Situation. Ich mochte es nicht, diese mitleidigen Blicke abzubekommen. Natürlich konnte ich sie verstehen. Aber ich wollte stark sein. Ich war es gewohnt, alles irgendwie hinzubekommen, meistens allein oder mit meinem Bruder zusammen. Ich war es gewohnt, erfolgreich zu sein. Das tun zu können, was mir Spaß gemacht hat, das tun zu können, was ich tun wollte. Ein unbekanntes Gefühl der Hilflosigkeit brach plötzlich über mich herein.
Da stand ich nun allein in der Toilette. Hinter mir hatte ich abgeschlossen. Ich wollte mit niemandem reden. Ich wollte allein sein. Ich musste nachdenken. Ich hab es einfach nicht verstanden. Warum hatte es mich getroffen, warum jetzt? Und dann stellte ich etwas ziemlich Merkwürdiges fest: Ich war sauer auf Gott.
Irgendwie habe ich tief in meinem Inneren schon an Gott geglaubt. Gedacht, dass es da doch jemanden oder eine Macht geben muss, die zumindest der ersten Zelle das Leben eingehaucht hat. Nichts bleibt nichts, das ist das Einzige, was wissenschaftlich Sinn macht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass etwas oder sogar alles aus dem Nichts entstanden sein soll.
Viele Gedanken hatte ich mir dazu aber ehrlich gesagt noch nicht gemacht. Ich meine, warum auch? Bisher hatte ich Gott noch nie gebraucht, bisher hatte er mich eher genervt beziehungsweise hatten mich die ganzen Regeln und Verbote in der Schule und bei uns zu Hause genervt, die ja alle irgendwie mit diesem Gott begründet wurden. Gott, so wie ich ihn von anderen präsentiert bekommen hatte, war ein irgendwie nebulöses, strenges Wesen, das weit weg im Himmel saß und kontrollierte, ob wir auch alle brav waren und uns an die Regeln hielten. Diese Vorstellung kam mir schon immer ziemlich komisch und abschreckend vor. Mit so einem Gott wollte ich nichts zu tun haben. Beziehungsweise fand ich nicht, dass man so einen brauchte. Von meinem Real Life war er jedenfalls meilenweit entfernt.
Aber jetzt habe ich ihn plötzlich gebraucht. Nein, gebraucht ist vielleicht das falsche Wort – ich machte ihn für meine Lage verantwortlich. Und das sagte ich ihm auch. Ich glaube, das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich richtig ernsthaft mit ihm gesprochen habe. Ich habe kein frommes Gebet gesprochen, sondern alles genau so rausgehauen, wie ich mich gefühlt habe, und dabei alles zusammengemischt, was ich über ihn dachte, gelernt hatte und mir wünschte. Wieso sollte ich nicht ehrlich sein, wenn er doch eh alles weiß?
Ich hab mich vors Klo gekniet, weil ich nicht mehr stehen konnte und mein verzweifeltes Gesicht nicht mehr im Spiegel sehen wollte. Und dann hab ich meinen neuen Verantwortlichen gefragt:
Warum?
Warum ICH?
Warum jetzt?
Siehst du nicht, dass ich das jetzt gar nicht gebrauchen kann?
Warum muss das jetzt sein, wo alles so gut läuft in der Schule und mit unserem Hobby, das immer mehr zu unserem Beruf wird?!
Soll das eine Strafe sein?
Ich war wirklich wütend. Und verwirrt. Ich hatte gedacht, Gott, wenn er denn irgendwas zu sagen hatte, würde mir jetzt mal ein schönes Leben gönnen. Ein schönes Leben außerhalb dieser letzten Schule – dieser ganzen Regeln.
Lange hab ich nicht gebetet. Viel zu sagen hatte ich auch nicht. Ich habe mir die Tränen weggewischt, mir mein Gesicht gewaschen und bin schlafen gegangen. Noch lange hatte ich den gleichen Gedanken im Kopf, immer nur die eine Frage: WARUM?!
Als ich wieder aufgewacht bin, fiel mein Blick auf meine Bibel, die ich als Kind frommer Eltern natürlich hatte. Sie lag auf meinem Schreibtisch, gut angestaubt, denn darin gelesen hatte ich schon ewig nicht mehr. Ich habe sie einfach irgendwo aufgeschlagen. Dieses dicke schwarze Buch mit Ledereinband. Dieses uralte Buch, das schon vor Tausenden von Jahren geschrieben wurde.
Ich hab nochmal gesagt: „WARUM, GOTT?! Bist du überhaupt da?! Ich brauche jetzt eine Antwort!“ Oder so ähnlich. Vielleicht war das das erste Gebet, das ich zu hundert Prozent ernst gemeint habe. Auch wenn ich wusste, dass man so vielleicht nicht unbedingt beten sollte. Aber das war mir gerade echt egal.
Dann hab ich einfach angefangen zu lesen, genau an der Stelle, wo ich meine Bibel komplett willkürlich aufgeschlagen habe: Das war ziemlich in der Mitte, im Buch Hiob, Kapitel 38, ab Vers 1. Die Überschrift des Kapitels hieß: „Der HERR selbst antwortet Hiob und stellt ihm prüfende Fragen.“ Hiob hatte Gott eine ganz ähnliche Frage gestellt wie ich. Und jetzt antwortete ihm Gott.
Okay, das lese ich mal, habe ich mir gedacht. Vielleicht wollte mir „der Herr“ ja tatsächlich auch selbst antworten?
In der Geschichte von Hiob kam der Teufel eines Tages zu Gott, und als dieser ihn auf Hiobs perfektes, gerechtes Leben ansprach, behauptete der Teufel, dass Hiob nur deshalb an Gott glauben würde, weil es ihm so gut ging. Und da erlaubte Gott dem Teufel, Hiob zu quälen, um ihn zu testen. Also zerstörte der Teufel alles, was Hiob hatte. Obwohl er das definitiv nicht verdient hatte. Das konnte Hiob natürlich nicht verstehen, und deshalb fragte er auch nach dem WARUM. Die Geschichte kannte ich bis dahin, jetzt las ich also die Antwort Gottes:
Gott hat Hiob nicht gesagt, dass der Teufel ihn versucht hat, er erzählte ihm nicht die ganze Hintergrundgeschichte. Und seine Antwort ist mehr als eindeutig: Gott hat Hiob einfach klar gemacht, wer er ist und wer Hiob ist. Gott, der die ganze Welt geschaffen hat, hat es nicht nötig, sich vor Hiob zu rechtfertigen. Er weiß, was er tut und warum er etwas tut und was er damit vorhat. Genauso wenig hatte er es nötig, sich vor mir zu rechtfertigen. Mir auf die Frage nach dem Warum eine direkte Antwort zu geben. Und doch war es eine Antwort auf meine Frage.
Gott zeigt Hiob, dass seine Wege und seine Gedanken viel höher sind als unsere. Dass er alles geschaffen hat, dass er auch Hiob geschaffen hat, dass er ihm die Gesundheit und den Erfolg gegeben hat und dass er das Recht hat, ihm das alles auch wieder zu nehmen.
War das ein Zufall? Das war einfach zu passend in diesem Moment. Die nächste Überschrift hieß: „Die Schöpfung bezeugt Gottes Macht und die Ohnmacht des Menschen“, die nächste: „Die Tierwelt weist auf die Größe Gottes und seine Weisheit hin“. Und das geht so weiter, bis zum Ende des Buches Hiob. Da heißt es dann: „Das gesegnete Ende Hiobs“. Ich glaube, ich habe das alles so schnell gelesen, wie ich vorher noch nie in der Bibel gelesen habe.
Ich bin sicher kein Hiob, der sich immer an Gottes Gebote gehalten hat, und trotzdem hab ich genauso nach dem Warum gefragt wie er, obwohl ich doch noch viel weniger das Recht dazu hatte. Und mir schien es, als hätte Gott auf eine Art geantwortet, die ich verstehen konnte. Genau mein Hobby hat er als Beispiel genommen – die Natur und die ganze Tierwelt, die ich immer schon für ihre Großartigkeit und Kreativität bewundert hatte und die für mich auch irgendwie ein Hinweis darauf gewesen war, dass es einen Schöpfer dahinter geben muss.
Ich wollte lieber glauben, dass alles zufällig entstanden ist. Aber wenn ich da draußen in der Natur stand, hatte ich das nie wirklich gekonnt. Irgendeine höhere Macht muss da am Anfang schon aktiv gewesen sein, eben jemand, der dem ersten Lebewesen das Leben eingehaucht hat – so wie es selbst Darwin1 in seinen Büchern vermutet. Könnten wir wirklich dieses Ich-Bewusstsein haben, wenn wir im Prinzip alle nur ein riesiger Haufen Biomasse wären? Aber wirklich weitergedacht hatte ich bisher nicht. Und es ist ja auch schwierig. Wie will man denn wissen, wer der „richtige“ Gott ist, wenn man ihn nicht sehen kann?
Viele reden von Erfahrungen, die man mit ihm machen kann. Ich hab immer gesagt, eine richtige, fühlbare Erfahrung mit Gott wäre das Einzige, was mich eventuell überzeugen könnte. Aber ich hatte bis dahin keine solchen Erfahrungen gemacht, oder zumindest keine, bei der ich mir das nicht auch anders hätte erklären können, als dass da Gott im Spiel gewesen war. Und von den Erfahrungen anderer lernen wollte ich nicht. Erfahrungen kann man nicht weitergeben oder sie jemand anderem beibringen. Die muss man selbst machen.
Das hatte ich immer gesagt. Und jetzt hatte ich anscheinend ja wohl so eine Erfahrung gemacht. Hatte ich nicht gerade ganz eindeutig eine Antwort auf meine Frage nach dem Warum bekommen? Eine sehr beruhigende Antwort. Besonders hat mich das Ende der Geschichte fasziniert, das „gesegnete Ende“ Hiobs. Hiob wurde zwar hart geprüft, aber am Ende hat er alles doppelt zurückbekommen.
Darauf konnte ich also vielleicht auch hoffen. Nicht darauf, dass ich doppelt so viele DVDs verkaufen würde, dass ich doppelt so schnell Fahrrad fahren könnte. Aber ich konnte darauf hoffen, dass Gott alles im Griff hat, dass alles bei ihm einen Sinn hat und dass er mich nicht allein lässt. Dass er mit mir diesen schweren Weg gehen würde. Dass er mich weiterhin ermutigen würde und dass er mir auch ein „gesegnetes Ende“ schenken würde.
Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr mich diese Antwort erleichtert hat. Eigentlich war es einfach nur eine Textstelle in diesem alten Buch, die ich hier in meinem Bett gelesen hatte. Und doch war es die perfekte Textstelle; ich glaube, in der ganzen Bibel hätte es keine passendere Stelle gegeben.
Ich hatte schon öfter von Christen gehört, dass Gott durch „sein Wort“ (sprich, durch die Bibel, die von ihm inspiriert ist) reden würde. Vielleicht hatte ich das gerade erlebt. Es fühlte sich auf jeden Fall so an. Einen tiefen Frieden konnte ich spüren, den ich nicht mal empfunden hätte, wenn mir ein Arzt einen 99-prozentigen Behandlungserfolg versprochen hätte.
Das war schon ein krasses Erlebnis. Ich bin immer noch begeistert, wenn ich an diese Situation denke. Wenn ich daran denke, wie mir Gott auf mein verzweifeltes Gebet auf der Toilette geantwortet hat.