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Оглавление12. November
WOHNSIEDLUNG BERG, TROGEN, KANTON APPENZELL AUSSERRHODEN
Die Versuchung war gross. Riesig. Eigentlich gigantisch. Das Smartphone lag vor ihr auf dem Tisch. Und sie hatte den Code zum Entsperren. 0109. Nulleinsnullneun. Susa überlegte lange, ob die Zahlen irgendetwas zu bedeuten hatten. Doch sie kam nicht drauf. Kein Geburtsjahr war darin versteckt, auch ihr Kennenlernjahr nicht und ebenso wenig ihr Hochzeitsdatum. Und andere Daten kamen ihr nicht in den Sinn. Wichtige Daten ihres Ehemannes?
Sie müsste ihn vielleicht einmal fragen. Muss sich wohl um den Zufallscode der Swisscom handeln, der Netzbetreiberin, bei der ihr Mann Konstantin das Abonnement gekauft hatte, sagte sie sich, stand vom Glas-Esstisch auf und machte sich einen Kaffee. Sie goss einen Schluck Milch dazu, setzte sich wieder an den Tisch, starrte das Smartphone lange an, strich mehrmals über den Bildschirm. Die Tastatur erschien, das Gerät verlangte nach dem Code. Und Susas Zeigefinger zuckte. 0109. Nulleinsnullneun.
Vier Berührungen auf die Ziffern und eine fünfte auf die Ok-Taste – so leicht wäre der Eintritt in die virtuelle Welt ihres Mannes. Dabei hatten sie sich geschworen, nie, nie, niemals in die Intimsphäre des anderen einzudringen. Dazu gehörte die Post, die Computer-Zugänge zu Mails, Facebook, Twitter und Google Plus, aber auch die Handys mit all ihren Nachrichten- und Bilddateien. Die Versuchung war gross. Riesig. Eigentlich gigantisch. Susa erlag ihr um 08.12 Uhr.
Sie war auf seltsame Art und Weise in diese Situation hineingeraten. Konstantin war, wie fast jeden Morgen, in Eile, hatte ihr einen Kuss auf die Lippen gedrückt und war mit wehenden Haaren aus der Wohnung geeilt. Susa war gerade unter der Dusche gestanden – sie hatte ihren ersten Termin in der Klinik erst um 09.30 Uhr – als sie das Telefon läuten hörte. Sie eilte nackt aus dem Bad. Weil der Festnetzanschluss praktisch nie klingelte, musste etwas Aussergewöhnliches los sein. Oder es war ein Werbeanruf, eine Umfrage oder einfach falsch verbunden. Sie tropfte das Parkett voll und nahm den Anruf entgegen.
«Ich bin es, entschuldige, ich habe mein Handy vergessen», sagte Konstantin hastig.
«Dein Handy? Du telefonierst doch gerade damit. Oder bist du schon im …»
«Nein, ich bin noch nicht im Büro, ich bin im Auto und rufe dich vom Geschäftshandy aus an. Ich habe mein Privathandy vergessen.»
«Oh.»
«Ich habe einen Termin mit einem Kunden, also mit einem Kollegen, der vielleicht ein Kunde wird…ist ja egal, jedenfalls habe ich das Treffen mit ihm auf dem Privathandy gespeichert, und ich weiss nicht, wo ich ihn treffe.»
«Oh.»
«Kannst du schnell nachschauen?»
«Wo ist es denn?»
«Keine Ahnung.»
«Bleib dran! Ich such mal.» Susa suchte, fand es aber nicht.
«Es ist nicht da», meldete sie ihrem Mann.
«Doch, es muss da sein, verdammt!»
«Aber ich finde es nicht, mein Schatz!»
«Hast du im Bad geschaut?» Susa suchte im Bad und roch diesen herben, angenehmen und dezenten Duft von Konstantins Aftershave. Sie liebte ihn. Aber auch im Bad war kein Handy. Schliesslich schaute sie auf der Gästetoilette nach, die Konstantin meistens benutzte. Da, neben der Kloschüssel, lag sein Smartphone. «Ich habe es gefunden», sagte Susa, immer noch nackt.
«Schau in die Agenda!»
«Ich muss erst einen Code eingeben. Den kenne ich aber …»
«Nulleinsnullneun.»
Sie hatte den Code eingegeben und ihrem Mann den Ort seines Dates durchgegeben: Café Gschwend. Konnte man das vergessen? Offenbar ja.
Susa war zurück ins Bad gegangen, hatte sich abgetrocknet und sich in ihren flauschigen, hellblauen Bademantel gehüllt. Das Handy, Konstantins Smartphone, hatte sie auf den Salontisch gelegt. Das Display war erloschen und die Sicherheitssperre wieder aktiviert. Jetzt nahm sie es in ihre Hände, tippte 0109 und die Ok-Taste. Voilà. Sie hatte es getan.
Sie klickte sich ins SMS-Menü ein und checkte ab, mit wem ihr Ehemann Kontakt hatte. Es waren vor allem Männer, die sie teilweise kannte. Diese interessierten sie nicht. Sie öffnete die Chats mit den Frauen, die sie zum Teil auch kannte, fand aber nichts, was irgendwie zweideutig war.
Was suche ich überhaupt?, fragte sie sich. Sie öffnete den Nachrichtendienst WhatsApp, wo sich ein ähnliches Bild zeigte: viele Männer, wenige Frauen. Dieses Mal nahm sie auch einige der Männer-Chats ins Visier. Allerdings war auch hier, ausser einigen ziemlich primitiven Männersprüchen, wie sie fand, nichts Aufregendes oder Verdächtiges zu finden.
In den Chats mit den Frauen flogen zwar ab und zu Kuss-Smileys hin und her, aber auch diese lieferten nicht den geringsten Grund zur Annahme, dass Konstantin sie betrügen würde. Im Gegenteil: Mehrmals erwähnte er seine Frau, welch grosses Glück er habe und dass er sie über alles liebe.
Ich bin ein schlechter Mensch und habe seine Liebe nicht verdient, sagte sich Susa. Sie wollte Konstantins Smartphone beiseitelegen, verurteilte ihren Vertrauensbruch und schwor sich, nie mehr überhaupt nur an so etwas zu denken. Allerdings fuhr sie dann mit ihrem Zeigefinger auf das File «Galerie» und erfreute sich kurze Zeit an Bildern, die sie und Konstantin, freudig und verliebt ins Objektiv lächelnd, zeigten. Weitere Bilder zeigten vor allem sie.
Ja, sie konnte sich daran erinnern: in den Skiferien, am Meer, in Paris. Sie hatte posiert, ihn angestrahlt. Susa studierte die Bilder ganz genau und hätte am liebsten zwei Drittel davon gelöscht, weil sie fand, sie sehe darauf nicht gut aus. Vor allem diese dämlichen Grübchen störten sie, die entstanden, wenn sie zu fest lachte. Aber sie hielt sich zurück und blätterte in der Galerie weiter.
Dann wurde ihr heiss. Sie sah sich selbst, wie sie auf dem Bett lag, nur mit einem schwarzen, durchsichtigen Slip bekleidet, mit leicht gespreizten Beinen, die Augen geschlossen, ihre Hand an ihrem Busen.
Sie blätterte weiter. Nahaufnahmen ihres Körpers. Füsse. Beine. Ihr Höschen. Dann ihr Po. Nicht ganz nackt. Nur mit dem Hinterteil ihres Höschens bekleidet, einem String. Ihr Rücken, ihre langen, dunklen Locken. Sie gefiel sich. Mehr Bilder! Mehr!
Die Hand ihres Mannes, wie er den String zur Seite schob. Sein Glied … Susa legte das Handy zur Seite und nahm einen Schluck Kaffee. Alles bestens. Wenn mein Mann Freude daran hat, mich für einsame Stunden zu fotografieren, okay. Aber warum habe ich das nicht gemerkt? Oder doch, einmal, da hantierte er mit dem Handy herum, war das nicht so? Täusche ich mich? Ach, was soll’s, geniess es, ist doch schön. All das sagte sie sich und lächelte dabei.
Weiter. Es folgten Landschaftsfotos, Tierfotos und wieder Landschaftsfotos. Susa erinnerte sich an die Ausflüge, schmunzelte und schweifte in ihren Gedanken zu ihrem Mann. Aber sie war auch ein bisschen enttäuscht, dass nicht noch mehr eindeutig zweideutige Fotos von ihr gespeichert waren.
Er hätte mich aber ruhig fragen dürfen, sagte sie sich, ich habe nichts davon mitbekommen. Schliesslich war sie in diesen Situationen selbst in sexuell angeregter Stimmung – und sie war eine Frau, die Sex liebte –, aber gut: So lange sie seine Traumfrau war, war ja alles in bester Ordnung.
Sie zappte weiter durch Konstantins Bildergalerie. Landschaftsfotos, Porträts von ihr, von Bekannten, Landschaftsfotos, Autobilder und … «Was ist denn das?», murmelte Susa plötzlich. Sie öffnete ein Bild – und erstarrte. Ein blutiges Gesicht.
Nächstes Bild. Schwarze Gestalten. Erstarrt in Stellungen, die ihr unnatürlich erschienen. Irgendwie zusammengezogen. Wieder ein blutiges Gesicht. Teile eines Gesichts. Kein Gesicht. Nur noch Umrisse eines Kopfes. Aufgerissene Augen.
Susa holte ihr eigenes Handy und kopierte die gesamte Galerie via Bluetooth. Danach stellte sie sich erneut unter die Dusche. Sie drehte den Wassermischer von warm auf kalt. Dreissig Sekunden hielt sie es aus. Danach trocknete sie sich ab, eilte ins Schlafzimmer und zog sich an. Sie trank noch einen Kaffee und betrachtete nun die Bilder auf ihrem eigenen Handy.
Sie selbst. Glücklich. Sie beim Sex. Heiss. Doch leider waren auch die anderen Bilder da. Dunkel, düster, meistens unscharf. Tote. Sie klickte sich durch. Und entdeckte noch Grauenhafteres als das, was sie schon gesehen hatte. Junge Männer, offensichtlich schreiend, mit blutenden Wunden, die Geschlechtsteile fehlten. Susa musste weiter klicken, zu schrecklich waren die Fotos. Doch es wurde nicht besser, sondern schlimmer. Junge Frauen mit entstellten Gesichtern und Messern zwischen den Beinen. Nein, nicht die ganzen Messer waren zu sehen. Nur die Griffe. Denn die Klingen steckten tief in den Körpern.
Susa erbrach sich auf das Parkett.