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22. Februar

CLARAPLATZ, BASEL

Thomas Neuenschwander stand mit seiner Familie um 14.36 Uhr bei der Tramhaltestelle Claraplatz in der ersten Reihe. Der Cor- tège, der Basler Fasnachtsumzug, war in vollem Gang. Pfeifende und trommelnde Formationen, sogenannte Cliquen, zogen in prächtigen, teuflischen oder lustigen Kostümen an ihnen vorbei. Dazwischen heizten Guggenmusiken ordentlich ein. Die Kinder hielten sich manchmal die Ohren zu und wichen einen Schritt zurück, vor allem wenn die Paukisten vorbeiliefen. Diese holten mit den Armen für jeden Schlag kräftig aus. Am meisten Freude hatten die drei Kinder an den «Waggis»-Wagen, weil die Kostümierten darauf Bonbons, Orangen oder kleine Spielsachen herunterwarfen. Manchmal schütteten sie aber auch Konfetti über die Leute, Räppli, wie man in Basel sagt. Und die Frauen wurden mit Blumen, vor allem mit Mimosen, beglückt. Ein richtiges Fest bei strahlendem Sonnenschein und angenehmen Temperaturen. Die Kinder durften ihre Wollmützen abnehmen.

Plötzlich entdeckte Thomas mitten in diesem Treiben eine kleine, ältere Frau mit graumelierten Haaren. Sie hatte einen Blindenstock dabei, wirkte aber nicht so, als sei sie wirklich blind. In ihrem rechten Arm hielt sie einen Teddybären mit grossen, braunen Augen. In ihrem Rucksack sass ein weiteres Stofftier, ein weisser Hase. Seine langen Ohren baumelten bei jedem Schritt hin und her. Thomas kannte die Frau. Sie sass oft in seinem Bus der Basler Verkehrsbetriebe. Sie tauchte auf allen möglichen Linien auf. Auf dem 36-er und dem 34-er war sie aber am häufigsten. Sie sass immer zuvorderst. Oft war sie stumm. Manchmal murmelte sie etwas vor sich hin. Einmal hatte Thomas sogar verstanden, was sie sagte: «Ich bin kein schlechter Mensch. Ich mach niemandem weh.» Wahrscheinlich wohnte sie in einem Heim. Denn es war offensichtlich, dass sie geistig behindert war.

«Schau, da ist diese Frau, von der ich dir schon mehrmals erzählt habe», sagte Thomas zu seiner Frau. In diesem Moment wollte ein jüngerer Mann der Frau helfen; denn sie war mitten in den Umzug geraten. Doch die Frau wehrte sich und trottete munter weiter. Immer mit dem Blindenstock voraus.

Thomas genoss den freien Nachmittag mit seiner Familie an der Fasnacht. Er war zwar Basler, aber nie ein aktiver Fasnächtler gewesen. Die Kinder zeigten diesbezüglich mehr Interesse. Vielleicht werden sie bald einmal in die Junge Garde einer der grossen Cliquen eintreten und pfeifen oder trommeln lernen.

Den Morgestraich um vier Uhr morgens, den Auftakt zur Basler Fasnacht, hatte Thomas im Bus erlebt. Sein Dienst hatte um 02.03 Uhr begonnen. Obwohl er am Vormittag ein bisschen geschlafen hatte, spürte er Müdigkeit aufkommen. Aber er wollte auf jeden Fall diesen Tag mit seiner Familie geniessen. Er liebte die Fasnacht. Er sammelte auch alle Zeedel, die Fasnachtsgedichte, die die Cliquen den Zuschauern in die Hände drückten, und las sie zu Hause.

Er schaute nochmals zur behinderten Frau: Sie befand sich ein gutes Stück weiter vorne in der Greifengasse und die Lampiohren des Hasen in ihrem Rucksack schaukelten weiterhin lustig hin und her. Thomas schmunzelte. Irgendwie mochte er diese Frau, auch wenn sie immer grimmig dreinblickte. Was war wohl los mit ihr? Warum war sie immer mit Stofftieren unterwegs? War es immer ein Bär und ein Hase? Sass normalerweise nicht ein kleiner Elefant in ihrem Rucksack? Thomas rührte dieser Anblick, diese Frau. Vielleicht war sie ja glücklich. Glücklich, ihre Stofftiere spazieren zu führen.

Ein Knall riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Schreiende Menschen. Staub, Fetzen und allerlei Dinge flogen durch die Luft. Thomas packte seine Kinder und seine Frau und warf sich mit ihnen auf den Boden.

RESTAURANT ADLER, OCHSENGASSE, BASEL

Die Kleinbasler Beiz wurde durchgeschüttelt. Die Menschen, alles Kostümierte, die sich in den «Adler» gedrängt hatten, erstarrten. Die Bier- und Weingläser zitterten. Nur die Musikbox dröhnte weiter: «An Tagen wie diesen …» von der deutschen Rockgruppe die Toten Hosen hatte jemand gewählt.

Olivier Kaltbrunner sass mit Kollegen seiner Guggenmusik Ohregribler ganz hinten nahe der Theke. Sie hatten einen kurzen Marschhalt eingelegt. Kaltbrunner gönnte sich ein Bier. Es war nicht das erste. Das Wievielte es war, wusste er nicht. Aber das spielte an der Fasnacht auch keine Rolle.

«An Tagen wie…». Bis vor wenigen Augenblicken hatten noch etliche Gäste mitgesungen.

Jetzt zog jemand den Stecker. Doch still war es nur für einen Augenblick. Dann brach ein Tumult aus. Geschrei in der Gaststube, Leute drängten hinein. Andere rannten quiekend und brüllend vorbei Richtung Kaserne.

Kaltbrunner stand auf und bahnte sich mühsam einen Weg Richtung Ausgang. Es war ihm nicht wohl. Da draussen musste irgendetwas Dramatisches passiert sein. Obwohl er an der Fasnacht war und dafür Ferien genommen hatte – seinen Polizistenberuf konnte er in einem solchen Moment nicht vergessen. Vor allem nicht als Kommissär. Obwohl sein Team auch bestens ohne ihn funktionierte. Er ging hinaus in die Ochsengasse. Immer noch eilten ihm Menschen entgegen, andere rannten in die andere Richtung. Kaltbrunner marschierte los und gelangte zur Greifengasse. Dort sah er die ersten Menschen am Boden liegen und schreien. Polizei- und Sanitätssirenen kamen näher.

Kinder lagen am Boden. Kostümierte und Menschen in Zivilkleidung betreuten sie und riefen um Hilfe. «Sie werden gleich hier sein!», schrie Kaltbrunner. «Sie werden gleich hier sein! Ruhig bleiben. Bitte! Ich bin von der Polizei.»

Und dann passierte etwas, was ihm in seiner ganzen bisherigen Polizeikarriere noch nie passiert war: Er begann zu weinen.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Ich liebe diese beschissene Fasnacht», schrie Jonas Haberer durch die ganze Redaktion. «Alle herkommen! Sofort! Das ist ein verdammter Befehl, Leute! Wir machen Fasnacht! Das ganze Blatt wird neu! Online-Fuzzis daher! Es gibt Arbeit. Pescheli, leg los!» Klack – klack – klack, und der Chefredaktor fläzte sich auf einen Stuhl und strich sich durch die halblangen, fettigen Haare.

«Es ist eine für schweizerische Verhältnisse ungewöhnlich dramatische Katastrophe passiert», begann Peter Renner. «Mach’s nicht so spannend, Pescheli. In Basel ist an der Fasnacht eine Bombe explodiert. Wie viele Tote gibt es?»

«Bisher ist nur von einem Toten die Rede. Mehrere Verletzte.»

«Waaas?», schrie Haberer. «Nur ein Toter? Was war denn das für ein beschissenes Bömbchen? Ein gepimpter Frauenfurz?» Haberer lachte schallend und schüttelte sich. «Jonas!», schrie Peter Renner, was alle Journalisten zusammenzucken liess. Peter Renner war nicht der Typ, der laut wurde. Und vor allem getraute sich niemand, den Chefredaktor anzuschreien. «Es reicht. Du kennst wohl überhaupt kein Mitgefühl?»

«Sorry», sagte Jonas kleinlaut. «Mach weiter.»

«FotografJoël Thommen ist bereits vor Ort. Erste Bilder sollten demnächst eintreffen. Alex Gaster, Flo Arber und Sandra Bosone sind auf dem Weg nach Basel.»

«Womit?», wollte Haberer wissen. «Mit der Schweizerischen Dampfeisenbahn?»

«Mit dem Helikopter.»

«Verdammt, Pescheli, du bist mein Held. Ich sehe dir an, dass du wieder mal deinem Übernamen gerecht wirst. Die Zecke hat sich bereits in den Fall verbissen. Ach, was würde ich ohne dich machen? Mit dem Helikopter! Geil, geil, geil! Wie früher zur guten alten Reporterzeit!»

«Ja, sie sind bald vor Ort. Dann suchen wir Zeugen. Leute, die die Explosion fotografiert und gefilmt haben.»

«Wann können wir das alles aufschalten?»

«Im Moment haben wir noch gar nichts, Jonas.»

«Sie sollen den Finger aus dem Arsch nehmen, sag ihnen das!»

«Die werden alles bringen, Jonas, alles. Und wenn sie die Leute dazu unter Druck setzen müssen.»

«Ich hoffe, sie haben genug Geld dabei. Der Preis ist heiss. Irgend so ein Idiot, der sich diese Scheiss-Fasnacht angeguckt hat, wird doch das Explosiönchen gefilmt haben. Ha! Kauft die Leute, stopft ihnen die Tausender in den Arsch! Meine Güte, wie ich diese Scheiss-Fasnacht liebe!» Die Journalisten lachten gequält. Einige schüttelten den Kopf. Doch die meisten waren an solche Anfälle ihres Chefs gewöhnt.

GREIFENGASSE, BASEL

Erst jetzt merkte Kommissär Olivier Kaltbrunner, dass er aufgrund der getrunkenen Biere nicht im Vollbesitz seines Denkvermögens war. Zudem stand er in einem giftgrünen Insektenkostüm mit giftgrünen Krallenfüssen aus Plastik am Tatort, da sich seine Guggenmusik «Heuschrecken-Diebe» als Sujet gewählt hatte – Diebesbanden aus Osteuropa, die in einer Nacht ein ganzes Dorf heimsuchten und die Häuser leerräumten. Er kam sich unter all den uniformierten Leuten der Polizei und Sanität ziemlich deplatziert vor. Unbehagen bereitete ihm zudem die Anwesenheit von Staatsanwalt Hansruedi Fässler, seinem Vorgesetzten. «Da sind Sie ja», sagte Fässler und reichte Kaltbrunner die Hand.

«Sorry für mein Kostüm, ich bin eben aktiver …»

«Vergessen Sie’s. Gut, dass Sie hier sind. Ich brauche Sie.»

«Moment», sagte Kaltbrunner. «Ich bin rein zufällig hier und habe ein bisschen geholfen, den Einsatz zu organisieren. Aber jetzt sind ja alle da, und ich möchte mich zurückziehen.»

«Kaltbrunner, das geht nicht.» Staatsanwalt Fässler schaute Kaltbrunner mit grossen Augen an. «Das hier ist ein Bombenattentat. Das wird europaweit für Schlagzeilen sorgen. Wir müssen den Fall schnellstmöglich klären. War das ein Einzeltäter? Ein Amokläufer? Ein Wahnsinniger? Oder war es ein Terroranschlag? Islamisten? Mannomann. Hoffentlich nicht. Wenn ich an die Anschläge auf die Satirezeitschrift in Paris denke. Oder an all die anderen Attentate. Bitte nicht! Sonst haben wir nie mehr unsere Ruhe!»

«So, so», machte Olivier Kaltbrunner. Wie immer wenn er nicht wusste, was er sagen sollte. «So, so. Ein Amokläufer … oder Terroristen …»

«Könnte doch sein. Also, nehmen Sie die Arbeit auf! Die Fasnacht ist sowieso zu Ende.»

«So, so.» Der Kommissär entdeckte seinen Kollegen Giorgio Tamine und liess den Staatsanwalt stehen. «Hey.»

«Hey. Scheisse, was?», sagte Tamine. «Kaum hat die Fasnacht angefangen, ist sie …»

«Es ist gut, Giorgio!», unterbrach ihn Kaltbrunner. Er schaute um sich und stellte fest, dass sich die Panik gelegt hatte. Er wandte sich wieder Tamine zu: «Hast du schon etwas gefunden, das irgendwie auf eine Bombe hin…?»

«Ja», unterbrach ihn Tamine. «Leichenteile, Fetzen von Kleidungsstücken, von Plüschtieren und von einem Rucksack. Und ein von der Hitze verbogener Blindenstock. Die Tote war offensichtlich blind. Oder tat so. Ziemlich sicher handelt es sich um eine Selbstmordattentäterin.»

«Eine Frau? Das wisst ihr schon?»

«Komm!» Tamine führte Kaltbrunner zu einem weissen Polizeizelt. Weissgewandete Menschen begutachteten Menschenteile. «Hey», sagte Kaltbrunner. «Was wisst ihr bereits?»

«Eine Frau um die fünfzig.» Kaltbrunner erkannte den Kollegen der Gerichtsmedizin wegen des Ganzkörperanzugs mit Gesichtsschutz nicht. «Darf ich mal?», fragte Kaltbrunner.

«Klar. Ist aber kein schöner Anblick.» Der Gerichtsmediziner hob das blutdurchtränkte, weisse Tuch an. Kaltbrunner sah die Fragmente eines Gesichts. «Sofort tot?», fragte er.

«Ist anzunehmen.»

«Die einzige Tote?»

«Ja. Die Verletzten werden es wohl überleben. Jedenfalls haben die Sanitäter einen gefassten Eindruck gemacht.»

«Okay, danke.»

«Verdammte Scheisse, was?»

Olivier Kaltbrunner antwortete nicht. Er verliess das Zelt und bat seinen Kollegen Tamine um eine Zigarette.

«Klar.» Kaltbrunner inhalierte tief und fragte sich, wie er bloss siebzehn Jahre darauf hatte verzichten können.

MITTLERE BRÜCKE, BASEL

Alex Gaster, Flo Arber und Sandra Bosone fragten praktisch jeden, der die hermetisch abgeriegelte Zone verliess und an ihnen vorbeiging: Haben Sie Fotos vom Attentat? Haben Sie eine Videoaufnahme? Der Erfolg ihrer Recherchen war so gross, dass es fast schon ein bisschen langweilig war. Jeder Zweite hatte irgendein brauchbares Bild der Explosion. Allerdings fehlte das ultimative Bild, das ultimative Video: die Aufnahme der Explosion selbst. In Anbetracht der vielen Medienleute, inklusive Schweizer Fernsehen, das den fasnächtlichen Umzug live gesendet hatte, war die Wahrscheinlichkeit einer spektakulären Aufnahme in diesem Fall besonders hoch. Schliesslich erwarteten Nachrichtenchef Peter Renner und Chefredaktor Jonas Haberer spektakuläre Bilder, die über sämtliche Newskanäle der Welt laufen würden.

Sandra Bosone bekam sie um den Preis eines charmanten Lächelns. Ein Passant war dermassen verstört, dass er sie nicht nur das komplette Video der Explosion und der in Panik flüchtenden Menschenmassen kopieren, sondern sich auch noch fotografieren und zu dramatischsten Aussagen überreden liess. Joël Thommen lichtete ihn ab, nahm sein Handy an sich und löschte nach dem Kopiervorgang auf sein eigenes Smartphone sämtliche Bilder und Videos, damit der Mann keinem anderen Reporter seine Aufnahmen weitergeben und sie auch nicht auf Facebook, Twitter, Instagram oder Youtube hochladen konnte.

«Aktuell» hatte sie exklusiv. Was für ein Hammer!

GREIFENGASSE, BASEL

«War es also einfach eine Verrückte? Keine Terroristin?»

«Das kann ich Ihnen unmöglich sagen», antwortete Olivier Kaltbrunner auf die Frage des Staatsanwalts, der ihn zum vierten Mal zu einer Stellungnahme drängte. «Der Regierungsrat setzt mich unter Druck. Müssen wir die Fasnacht absagen?»

«Wie wollen Sie das machen?»

«Verbieten.»

«Die Fasnacht wird sich von selbst absagen. Oder eben nicht.»

Am Ort der Explosion wimmelte es von weissgewandeten Spezialisten der Spurensicherung. Normalerweise tobte um diese Zeit – es war 17.35 Uhr und ziemlich dunkel – die Fasnacht. Doch jetzt waren nur einzelne Piccolo- oder Guggenklänge zu hören. Dafür brummten mehrere Dieselaggregate, die Strom für die Beleuchtung des Tatorts erzeugten. Und über der Stadt kreisten mehrere Polizeihelikopter.

«Müssen wir weitere Anschläge erwarten?», wollte der Staatsanwalt wissen. «Keine Ahnung», antwortete Kaltbrunner mürrisch.

«Verdammt.»

Kaltbrunner blickte in Richtung Mittlere Brücke. Dort waren die Kameras des Schweizer Fernsehens postiert, die den Umzug live übertragen hatten. «Habt ihr die Medien im Griff?», fragte Kaltbrunner.

«Ja, das Schweizer Fernsehen hat die Live-Übertragung abgebrochen.»

«Aber die filmen doch sicher! Wo sind die anderen Journalisten?»

«Die haben wir alle weggeschickt.»

«So, so», machte Kaltbrunner. Und dachte: So ein Blödsinn. Journalisten sind immer und überall anwesend.

MITTLERE BRÜCKE, BASEL

Nachdem Sandra Bosone, Flo Arber und Alex Gaster die Bilder und Videos an die Redaktion gemailt hatten, sagte Sandra: «Auf geht’s! Wir müssen uns aufteilen. Wer geht zum Regierungsratspräsidenten? Wer geht ins Spital, um die Verletzten zu interviewen? Wer kämpft sich zum Tatort vor?»

«Ich mache den Präsidenten», meldete sich Flo sofort. Er war eigentlich Wirtschaftsjournalist und hatte wenig Freude an klassischer Boulevard-Arbeit. «Okay!», bestätigte Sandra und schaute Alex an.

«Ich kämpfe mich vor.»

«Gut, dann schau ich, was ich im Spital erreichen kann. Ich schreibe unserem Chef eine Mitteilung. Viel Glück, Jungs.»

«Viel Glück», wünschten auch Flo und Alex. Das Team trennte sich. Während Sandra und Flo mit schnellen Schritten verschwanden, blieb Alex nach wenigen Metern an der Polizeisperre hängen. Kein Zutritt, für niemanden. Alex zückte seinen Presseausweis. Der Polizeibeamte warf nur einen flüchtigen Blick darauf und schickte Alex weg. Er solle sich an die Medienstelle wenden. Alex trottete davon und lümmelte rund fünfzig Meter vor der Sperre herum. Nach fünf Minuten sah er eine Chaise kommen, eine Fasnachtskutsche, die von zwei Pferden gezogen wurde. In der Chaise sassen vier Damen. Der Kutscher steuerte direkt auf die Polizeisperre zu. Alex rannte zum Wagen, öffnete die Türe und sprang in die Kutsche. «Sorry, mein kleiner Sohn irrt da drüben im Kleinbasel herum, und diese Idioten lassen mich nicht durch.» Die Damen waren völlig überrumpelt. Nicht nur wegen Alex, sondern auch wegen der ganzen gespenstischen Szenerie. Sie liessen Alex gewähren. Er schnappte sich eine Maske und zog sie an. Sie stank nach Schminke und süssem Parfum. Durch die Augenschlitze sah er, dass der Kutscher stoppte und mit einem Polizisten sprach. Alex verstand nur «Pferde sind störrisch», «zurück zur Kaserne», «sofort».

Dann ging die Fahrt weiter. Die Hufe der Pferde klapperten auf dem Asphalt. Am Brückenkopf auf der anderen Seite des Rheins bog der Kutscher links ab. Alex nahm die Larve vom Kopf, bedankte sich und sprang aus dem Wagen. Er hörte, wie ihm die Damen nachriefen, dass er seinen Sohn sicherlich finden werde.

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

Kilian Derungs sass in seinem Büro, einem halbrunden Erkerzimmer, und schaute abwechselnd auf den Fernsehmonitor an der Wand und den Computerbildschirm. Im Fernsehen wurde live über die Bombenexplosion in Basel berichtet, wobei vom eigentlichen Ereignis nicht viel zu sehen war. Es wurden vor allem immer wieder flüchtende Fasnächtler und Passanten gezeigt, eintreffende und abfahrende Ambulanz- und Polizeifahrzeuge, mehrere Helikopter, die über Klein- und Grossbasel kreisten und dazwischen unscharfe Bilder eines Hobbyfilmers, der von einer Terrasse aus die Explosion gefilmt haben wollte. Allerdings war fast nichts darauf zu erkennen ausser einem braunen Etwas, das, so erklärte der Sprecher, eine Staubwolke aus Dreck und Konfetti sei.

Am PC klickte sich Kilian Derungs durch die diversen Online-Portale und entdeckte schliesslich auf «Aktuell»-Online gestochen scharfe Bilder des Fasnachtsumzugs. Ebenso perfekt war der Ton. Pfeifende und trommelnde Fasnächtler in Kostümen, die farbig und fröhlich aussahen, worüber Kilian Derungs sich allerdings nicht freuen konnte. Er wartete auf den Moment 01:22 – an dem die Explosion laut Anrisstext der «Aktuell»-Re- daktion stattfinden sollte. Und tatsächlich: Etwa zwanzig Meter vom Filmer entfernt war ein kleiner Feuerball zu sehen, begleitet von einem lauten Knall. Dann waren Schreie zu hören, das Bild war komplett verwackelt, ein mit Konfetti übersäter Boden war zu erkennen, rennende Füsse, dann ein Schwenk nach oben gegen den Himmel, dann Menschen, die davonrannten, dann wieder ein wildes Durcheinander. Schliesslich wurde es schwarz, und das Video war zu Ende.

Kilian Derungs ging zu seinem Giftschrank, wie er die antike Kommode nannte, holte sich ein grosses, bauchiges Glas hervor und schenkte sich einen Cognac Camus XO Elégance ein, schwenkte das Glas, liess den bernsteinfarbenen Edelweinbrand kreisen und roch den leichten Duft nach Vanille, der für diesen Cognac charakteristisch war. Er nahm einen Schluck. Dann lächelte er zufrieden, setzte sich und schaute sich das Video auf «Aktuell»-Online noch einmal an.

GREIFENGASSE, BASEL

Wie ein Kriegsreporter hielt Alex Gaster seine Fotokamera vor sich und schlich an den Sanitäts- und Polizeiwagen und den aufgebauten Zelten vorbei. Alex spähte hinein und sah, wie Menschen sich umarmten oder an Tischen sassen und redeten. Alex war sich sicher, dass es sich um Care-Teams handelte, die Opfer und Angehörige betreuten. Alex machte einige Aufnahmen und ging weiter. Schliesslich erreichte er das Zentrum der Katastrophe. Er fotografierte die weissen Menschen, die hinter den Absperrbändern auf den Knien mit allerlei technischen Geräten nach Spuren suchten. Alex entdeckte die zerborstenen Schaufenster des Warenhauses Manor und fotografierte sie. «Wer sind Sie?», fragte plötzlich eine Stimme. Alex drehte sich um und blickte in das grimmige Gesicht eines Polizisten.

«Ich suche meine Frau, also meine Freundin.» Alex versuchte, so traurig wie möglich dreinzuschauen.

«Gehen Sie zu diesem Zelt. Dort ist ein Care-Team. Das hilft Ihnen weiter. Hier können Sie nicht bleiben.»

Glück gehabt, dachte Alex und war froh, dass er nicht seinen Sohn, den er in Wirklichkeit gar nicht hatte, sondern seine Lebensgefährtin erwähnt hatte. Wie geheissen, ging er Richtung Zelt, entdeckte dann aber einen Fasnächtler in einem giftgrünen Heuschrecken-Kostüm, der mit einem Mann sprach, der einen Cashmere-Mantel trug. Er fotografierte die beiden aus sicherer Distanz mit dem Gefühl, dass die beiden irgendeine wichtige Funktion hatten. Dann steckte er die Kamera in seine Tasche. Er rannte los. Er schrie: «Wo ist meine Frau? Wo ist meine Frau? Ist sie tot?»

Alex lief direkt auf die Heuschrecke und den Mann im Cashmere-Mantel zu: «Hilfe!» Die Heuschrecke reagierte zuerst. Sie kam ihm entgegen und sagte mit angenehm sonorer Stimme: «Beruhigen Sie sich. Ich bin Kommissär Kaltbrunner. Sie suchen Ihre Frau?»

«Ja, ist sie tot? Ist sie tot? Sagen Sie es mir, bitte!»

«Nein, nein, sie ist sicher nicht tot. Es gab keine Toten ausser der Attentäterin.»

«Ich muss die Tote sehen, vielleicht ist es meine Frau. Wer ist die Attentäterin? Wo ist sie?»

«Beruhigen Sie sich. Ich begleite Sie zu unserem Care-Team!»

«Ich brauche keine Scheiss-Psychologen. Ich brauche meine Frau! Mara, wo bist du?» Alex schrie aus Leibeskräften und liess sich dabei auf die Knie fallen: «Mara!»

«Hören Sie, Ihre Frau ist nicht tot. Die Frau, die getötet wurde, muss um die fünfzig gewesen sein, das konnten die Gerichtsmediziner bereits feststellen. Ich nehme nicht an, dass Ihre Frau so alt ist. Zudem gehen wir davon aus, dass es sich um eine geistig behinderte Frau handelt.»

«Sie müssen diese verdammte Fasnacht abstellen, bitte!»

«Ja, wir werden versuchen, sie abzustellen. Aber jetzt kommen Sie bitte mit.»

Alex liess sich von der Heuschrecke mit dem Namen Kaltbrunner hochziehen und versuchte, Tränen in die Augen zu drücken, was ihm aber nicht gelang. Dafür stöhnte er laut.

«Gehen wir?», fragte Kaltbrunner. «Ja, ich gehe. Ich gehe ins Spital. Wo muss ich mich melden?» Alex riss sich los und rannte Richtung Zelt des Care-Teams. Er blickte zurück und sah, wie sich die Heuschrecke wieder dem Mann im Cashmere-Mantel zuwandte. Dann rannte er Richtung Claraplatz und passierte die Polizeisperre ohne Probleme. Er rannte über den ganzen Platz und stoppte erst beim Restaurant Holzschopf. Er kramte sein Handy hervor und rief seinen Chef Peter Renner, die Zecke, an. Zehn Minuten später piepste sein Smartphone und meldete eine Breaking-News der «Aktuell» -App: «Attentäterin ist tot. Es soll eine geistig behinderte Frau um die fünfzig sein. Polizei will Basler Fasnacht abbrechen.» Nach wenigen Minuten piepste sein Handy mehrmals: Die anderen Online-Portale hatten die neuste Information ebenfalls per Breaking-News-App verbreitet und sich auf «Aktuell»-Online berufen.

Dann ging er den Claragraben entlang zum Wettsteinplatz, verliess das fasnächtliche Getümmel, erreichte die Grenzacherstrasse, wo Busse der Basler Verkehrsbetriebe standen und von Fasnächtlern und Besuchern gestürmt wurden. Alle wollten so schnell wie möglich aus der Innerstadt hinaus. Alex ging weiter und sah die ersten TV-Übertragungswagen, die mit «International Broadcast» oder mit bekannten TV-Stationen wie «ZDF» oder «Südwestfunk ARD» angeschrieben waren. Alle Katastrophen-Reporter waren da. Aber er, Alex Gaster, hatte gewonnen. Seine News über die Attentäterin war exklusiv. Wenigstens für kurze Zeit. Bald würde irgendein anderer Reporter eine neue Exklusivität vermelden.

CLARAPLATZ, BASEL

Auch Joël Thommen hatte die «Aktuell»-App abonniert und musste feststellen, dass sein Kollege Alex die Nase vorn hatte. Er war zwar als einer der ersten Reporter vor Ort gewesen, aber er war entweder am falschen Ort gewesen oder an die falschen Leute geraten. Vielleicht hatte er einfach Pech gehabt, oder er war zu wenig abgehärtet und brutal für solche Einsätze. Er war eigentlich ein Promi-Fotograf, für die Boulevard-Zeitung «Aktuell» war er erst seit Kurzem im Einsatz.

Die vielen Anrufe seines Chefs Peter Renner waren wenig erbaulich. Mach das und dies, hatte dieser ins Telefon gebrüllt. Aber für Joël war an jeder Polizeisperre Ende. Er hatte zwar viele Fotos geschossen und Videos gedreht, aber, und das wusste er, mit diesen Aufnahmen konnte er keinen Blumentopf gewinnen. Er war frustriert. Bis er hörte, wie ein Mann einem anderen Mann erzählte, er habe gesehen, dass eine Frau mit Stofftieren förmlich explodiert sei.

Als Joël den Mann ansprach, stellte sich dieser als Thomas Neuenschwander vor und erzählte, ohne dass ihn Joël danach fragte, dass er die Frau gekannt habe, die mehr oder weniger vor ihm explodiert war. Er sei Buschauffeur bei den Basler Verkehrsbetrieben und habe die Frau schon mehrfach in seinem Wagen gehabt. Sie sei eigentlich nett. Sie habe immer gesagt, sie würde nie jemandem etwas zu Leide tun. Und sie habe immer Stofftiere dabei gehabt. Im Arm einen Teddybären, im Rucksack einen Elefanten. Aber heute sei ein Hase im Rucksack gewesen, was ihn gewundert habe. Dann sei der Hase explodiert.

Joël notierte alles und machte ein Foto von Thomas Neuen- schwander. Dann rief er Peter Renner an, der an diesem Tag zum ersten Mal ein gutes Wort für ihn übrig hatte: «Gut gemacht!»

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

«Die Aktion ist bestens angelaufen, wie ihr sicherlich den Medien entnommen habt», tippte Kilian Derungs. «Wir starten Phase zwei.» Er klickte auf Senden. Rund fünfundzwanzig Empfänger in aller Welt, hauptsächlich aber in Europa, würden in diesem Augenblick die Nachricht empfangen. Wie ein Mail. Es war ja irgendwie auch ein Mail. Aber eben: Nur irgendwie. Kilian Derungs gönnte sich einen zweiten Cognac.

HOTEL BASEL, BASEL

Im fasnächtlichen Bermudadreieck rund um das Hotel Basel, am Fusse des Spalenbergs, hatte sich um 21.55 Uhr etwas wie eine Fasnachtsvollversammlung gebildet. Hunderte von Fasnächtlern standen da und diskutierten aufgeregt, wie es nun weitergehen solle.

Zuvor hatten sich die Regierung, die Staatsanwaltschaft, die Polizei und das offizielle Fasnachts-Comité an einer gemeinsamen Medienorientierung dafür ausgesprochen, die Fasnacht sofort abzubrechen. Da man sich bewusst sei, dass ein eigentliches Fasnachtsverbot kaum durchzusetzen wäre, handle es sich um eine dringende Empfehlung. Bis die grauenhafte Tat, die eine Tote und fünfunddreissig Verletzte gefordert habe – darunter dreizehn Kinder und Jugendliche – geklärt sei, müsse man mit erhöhter Terrorgefahr rechnen. Per sofort werde ein Grossaufgebot des Nordwestschweizer Polizeikonkordats im Einsatz stehen. Diskutiert werde auch, ob die Schweizer Armee zur Unterstützung angefordert werden solle. Kommissär Kaltbrunner hatte sich gegen den Ausdruck «Terrorgefahr» gewehrt, weil er nicht an einen Terroranschlag glaubte. Aber Staatsanwalt Fässler wollte es so. Kaltbrunner vermutete, dass Fässler sich damit profilieren wollte, immerhin wäre er dann ein Terroristenjäger.

Vor dem Hotel Basel waren die Meinungen über den Fasnachtsabbruch geteilt. Die einen standen unter Schock oder hatten Angst, die anderen wollten sich von einer Amokläuferin oder einer Terroristin oder einer gestörten Alten nicht einschüchtern lassen. Schliesslich sei die Basler Fasnacht schon immer etwas Aufmüpfiges gewesen, ein Ventil des Volkes gegen die Obrigkeit. Was das mit der jetzigen traurigen Lage zu tun habe, fragten die anderen.

Um 23.39 Uhr kam es fast zu einer Schlägerei, weil ein Politiker aufgetaucht war, dessen Name zwar niemand wirklich kannte, der aber auf eine Festbank vor dem Hotel Basel gestiegen war und schrie, dass die Fasnacht unbedingt weitergehen müsse, man solle auch an das lokale Gastgewerbe denken, dessen Verdienstausfall bei einem vorzeitigen Ende der Fasnacht viele Betriebe in den Ruin treiben würde.

Daraufhin wurde der Mann von mehreren Männern attackiert. Der Kerl konnte aber ins Innere des Hotels Basel flüchten und getraute sich nicht mehr hinaus. Um 23.55 Uhr leerte sich der Platz. Es waren aber immer noch einzelne Trommel- und Pfeiferklänge zu hören. Auch eine Guggenmusik zog irgendwo durch die Strassen.

«Respektlose Arschlöcher», sagte ein Mann in einem Ueli-Kostüm mit vielen kleinen Schellen daran. Er ging bimmelnd und fluchend den Spalenberg hinauf.

Der Tod - live!

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