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23. Februar

INNERSTADT, BASEL

Buschauffeur Thomas Neuenschwander war seit 05.46 Uhr auf der Linie 34 im Einsatz. Die Greifengasse war wieder freigegeben. Spuren des Anschlags waren kaum noch zu sehen. Bloss die Markierungen der Polizei waren noch deutlich erkennbar. Ansonsten sah die Stadt so aus wie fast jeden Morgen: verschlafen und sauber geputzt. In den Kleinbasler Beizen hingen noch einige Fasnächtler herum. Im Grossbasel war von Fasnacht fast gar nichts zu merken. Auffällig waren nur die vielen Polizisten, die auf Streife waren.

Im Radio gingen ab sechs Uhr auf den lokalen und nationalen Sendern die Diskussionen los, wie es in Basel nach der nach wie vor ungeklärten Tat weitergehen solle.

Ab sieben Uhr stiegen in den Vorortsgemeinden, die vom 34er-Bus bedient wurden - Riehen, Binningen und Bottmingen - die ersten Kostümierten in Neuenschwanders Bus. Sie sahen ziemlich frisch aus. Thomas war sich sicher, dass sie zu Hause geschlafen hatten, um nun den zweiten Tag Fasnacht in Angriff zu nehmen. Aus dem von den Behörden ausgerufenen, freiwilligen Fasnachtsverzicht wird wohl nichts, dachte Thomas.

Kurz nach neun Uhr hatte er Pause. Er holte sich eine «Aktuell» aus einem Zeitungskasten und las die Berichterstattung über das Attentat von Basel. Seine Stellungnahme gegenüber dem Reporter Joël Thommen war Teil eines doppelseitigen Artikels. Beim Lesen blieb er an der Stelle hängen, an der er zitiert wurde, dass er sich gewundert habe, warum die geistig behinderte Frau für einmal keinen Plüschelefanten im Rucksack gehabt habe, sondern einen Hasen. Auch jetzt empfand er dies nach wie vor als sehr seltsam, denn er hatte die Frau in all den Jahren noch nie ohne den Elefanten gesehen. Das Stofftier war auch dementsprechend abgewetzt und schmutzig. Er überlegte sich, ob er das der Polizei mitteilen solle.

Als er anrief, wunderte er sich ein bisschen, weshalb der Beamte am Telefon sagte, die Staatsanwaltschaft habe ihn bereits gesucht, man müsse sich sofort treffen, ob er in den Waaghof an der Heuwaage kommen könne, er solle sich umgehend bei Kommissär Olivier Kaltbrunner melden. Das gehe nicht, er müsse in einer halben Stunde an der Schifflände auf die Linie 36. Darüber solle er sich keine Sorgen machen, man werde das mit den Basler Verkehrsbetrieben organisieren.

Neuenschwander erkundigte sich trotzdem zehn Minuten später beim Personaldisponenten der Leitstelle. Dieser bestätigte: «Die Polizei hat mehrfach angerufen. Wir wollten dich anfunken oder gleich ablösen, sobald du den zweiten Dienstteil in Angriff genomm…»

Thomas klickte den Disponenten weg und schlenderte über die Mittlere Brücke. Es wehte ein leichter Wind, der Himmel war bedeckt, aber – das hatte Thomas in den Nachrichten des Lokalsenders Basilisk gehört - es sollte trocken bleiben, teilweise könnte sich sogar die Sonne durchsetzen. Was für ein tolles Wetter für die heutige Kinderfasnacht und die abendlichen Guggenkonzerte. Vorausgesetzt, die Fasnacht würde überhaupt weitergehen.

Thomas blieb beim Käppelijoch, der kleinen Kapelle in der Mitte der Brücke, stehen und schaute, ob auch dieses Jahr eine Fasnachtsfigur darin platziert worden war. Ja, es war eine alti Dante, eine alte Frau, eine klassische Figur der Basler Fasnacht. Sie war allerdings kaum zu sehen. Denn an den Gitterstäben vor der Figur hingen unzählige Liebesschlösser, von Verliebten, die ein Schloss mit ihren Namen am Gitter festmachten und den Schlüssel in den Rhein warfen. Neuenschwander fand diesen Brauch albern.

«Neuenschwander?», rief jemand. Thomas drehte sich um. Ein Polizeiauto hatte angehalten. Ein Mann, nicht all zu gross, mit rundlichem Kopf und einer Brille mit feinem Goldrand stieg aus und kam auf ihn zu: «Herr Neuenschwander?».

«Ja …»

«Ich bin Olivier Kaltbrunner, Kommissär. Wir haben mit Ihnen telefoniert.»

«Ja …»

«Wie geht es Ihnen?» Der Mann nahm seine feine, goldene Brille von der Nase und schaute ihn mit grün-blauen Augen freundlich an. Der Mann hat etwas Sympathisches an sich, dachte Thomas. «Es geht gut.»

«Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich an den Claraplatz fahren und Sie uns schildern, was Sie wie gesehen haben? Sie können uns damit ganz gewaltig helfen.»

«Meinen Sie?»

«Natürlich. Sie sind derzeit unser wichtigster Zeuge.»

Thomas konnte es nicht fassen, dass er plötzlich so wichtig war. Er kramte sein Handy hervor und wollte seine Frau anrufen. Doch der Kommissär schaute ihn immer noch an. Deshalb liess er es bleiben und stieg mit dem Kommissär in den Wagen.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Peter Renner sass in seiner Nachrichtenzentrale und starrte auf den mittleren Bildschirm der drei Monitore auf seinem Pult. Renner sass bereits seit sechs Uhr hier und hatte mittlerweile rund dreissig Zeitungen aus dem In- und Ausland gelesen. Nun überprüfte er die grössten News-Portale im Web auf irgendwelche Informationen, die er noch nicht hatte.

Peter Renner sass reglos da. Sein massiger Körper und sein kleiner Kopf bewegten sich kaum. Nur sein rechter Zeigefinger, der die Computermaus bediente, regte sich ab und zu, die Augen folgten den Buchstaben und Zeilen, hin und her. Peter Renner hatte seinen Übernamen nicht umsonst: Die Zecke lauerte auf Nachrichten, in die sie sich reinbeissen konnte.

Das grosse Thema war in allen Medien der Bombenanschlag an der Basler Fasnacht. Einig waren sich die Journalisten, dass es eine Katastrophe war. Uneinig dagegen, ob es sich um einen Terrorakt oder einen Amoklauf handelte. «Aktuell» war die einzige Zeitung, die dank Renners Reportern Alex Gaster und Joël Thommen Informationen hatte, die auf die Tat einer geisteskranken Frau hinwiesen. Diese wurden von den Nachrichtenagenturen, die ständig neue Meldungen verbreiteten, vielfach zitiert.

Da die offiziellen Mitteilungen der Basler Behörden sehr dürftig waren, hatten viele Medienleute Experten befragt. Peter Renner hatte diese sogenannten Strategieexperten alle schon am Vorabend auf diversen Fernsehstationen gehört und gesehen. Ihre Aussagen waren aber vage. Auch in Interviews mit Zeitungs- und Online-Journalisten waren sie nicht konkreter geworden. Doch die Tendenz war klar: Mit dieser «unfassbar grausamen» Tat habe der Terror endgültig die Schweiz erreicht. Oft waren die Fragen so gestellt, dass es genau darauf hinauslief. Beispielsweise wurde ein Vergleich mit dem fürchterlichen Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo angestrebt, weil die Basler Fasnacht ja auch aktuelle und brisante Themen karikiere. Einige Experten nahmen diesen Zusammenhang dankbar auf. Natürlich wollte niemand vordergründig auf Panik machen, aber dass nun selbst die heile und friedliche Schweiz nicht mehr von Terroranschlägen verschont wurde, war einfach eine zu ungeheuerliche Tatsache – da konnten selbst seriöse und besonnene Journalisten nicht widerstehen, die Tat in den Kontext des internationalen Terrors zu stellen. Viele Kommentatoren kamen zum Schluss: Nun hat der Terror die Schweiz erreicht.

Peter Renner zweifelte daran und nahm sich vor, seine Reporter heute auf die vermeintliche Attentäterin anzusetzen beziehungsweise auf deren Umfeld. Wenn es eine Geisteskranke war, dann müsste es für seine Leute ein Leichtes sein herauszufinden, was da passiert und wie sie zu dieser Bombe gekommen war.

Um 09.52 Uhr, acht Minuten vor der grossen Redaktionssitzung, rief er Sandra Bosone an, die eigentlich Politik-Journalistin war, sich wegen dem Anschlag aber immer noch in Basel aufhielt. «Hey, wie weit bist du?», wollte Renner wissen. «Hast du mit Verletzten reden können?»

«Nein, noch nicht.»

«Scheisse, warum nicht?»

«Ins Spital kommt man nicht rein. Zu viel Polizei und Security.»

«Kauf dir einen Doktorkittel und ein Stethoskop! Dann versuchst du es nochmals! Das Zeug kannst du in einem Geschäft am Bernoullianum … ach, wie heisst das dort? … da, wo diese Wissenschaftlerin ihr Zeugs holte, als damals dieses Virus ausgebrochen war … Warte kurz …» Renner googelte sich auf dem rechten Monitor durch die Basler Läden für Spitalbedarf. «Klingelbergstrasse. Dort kannst du solche Sachen kaufen.»

«Und was soll ich damit?»

«Was wohl?! Sandra, wo ist dein Problem?

«Ich mach das nicht.»

«Aussergewöhnliche Storys brauchen aussergewöhnliche Recherchen.»

«Das kannst du nicht von mir verlangen.»

«Und ob. Keine Diskussion jetzt!»

«Peter, ich gebe mich nicht als Ärztin …»

«Ende der Diskussion, Sandra!», sagte Renner in seinem gefürchteten Befehlston. «Oder muss dich unser Kotzbrocken Haberer darum bitten?»

«Sehr witzig», kommentierte Sandra und brach die Verbindung ab.

In diesem Augenblick flog die Türe zum Newsroom auf: Klack – klack – klack! Chefredaktor Jonas Haberer tappte herein und schlug Renner mehrfach auf die linke Schulter: «Ha! Hast von mir, dem Kotzbrocken, geredet, was, Pescheli? Um deinen Sklaven Beine zu machen? Das gefällt mir!» Er schlug noch einmal auf Renners Schulter, diesmal so heftig, dass die Zecke am ganzen Körper bebte.

CLARAPLATZ, BASEL

«So, so», murmelte Olivier Kaltbrunner immer wieder. Manchmal machte er auch nur «Hmm, Hmm.» Der Kommissär hörte der Schilderung des Buschauffeurs Thomas Neuenschwander aufmerksam zu. Manchmal nahm er die Brille von der Nase, setzte sie aber nach wenigen Sekunden wieder auf. Sein Kollege Giorgio Tamine machte Notizen.

Neuenschwander erzählte, dass er die geisteskranke Frau schon mehrfach im Bus gehabt habe. Sie sei immer friedlich gewesen, auch wenn sie manchmal leise geflucht habe. Er konnte auch eine ziemlich gute Personenbeschreibung abgeben: kleine, rund fünfundfünfzigjährige Frau, kurze, graumelierte Haare.

«So, so», machte Kaltbrunner. Das, was von der Leiche übriggeblieben war, passte auf die Frau, von der Buschauffeur Neuenschwander erzählte. «Geht es noch?», fragte Kaltbrunner plötzlich. «Oder brauchen Sie eine Pause?»

Der Buschauffeur schaute etwas verdutzt, sagte dann aber: «Nein, alles klar. Was wollen Sie noch wissen?»

«Erzählen Sie mir von den Stofftieren, die die Frau immer dabei hatte.» Neuenschwander schilderte so genau wie möglich, dass die Frau normalerweise immer einen Bären und einen Elefanten mit sich trug und sich mit den beiden unterhielt. Gestern sei aber ein weisser Hase mit lustigen Lampiohren in ihrem Rucksack gewesen.

«So, so», machte Kaltbrunner.

«Meinen Sie, die Frau hat sich wirklich selbst in die Luft …»

«So, so», murmelte Kaltbrunner. «Hmm, hmm.»

STOCKERENWEG, BERN

Um 10.33 Uhr fuhr Kirsten Warren ihren Computer hoch. Die alleinerziehende Mutter eines zwölf Jahre alten Jungen konnte ihre Arbeitszeiten selbst einteilen, da sie als freischaffende Internetspezialistin praktisch sämtliche Aufträge in ihrem Homeoffice erledigen konnte. Nebst der Entwicklung von Internet- und Intranet-Lösungen für diverse Firmen, schrieb die Amerikanerin für die Gratiszeitung «Aktuell» regelmässig Artikel für die Computer-Spezialseiten. Sie testete auch die neusten Spiele, die auf den Markt kamen. Allerdings war sie keine begeisterte Gamerin. Mittlerweile konnte sie ihren Sohn Christopher für diese «Arbeit» einspannen. Er konnte besser beurteilen, ob ein neues Spiel bei den Jungen ankam oder nicht. Der einzige Nachteil dieser Mutter-Sohn-Zusammenarbeit war, dass sie ihn kaum mehr von seinem PC wegbrachte.

Christophers Vater war der Grund gewesen, warum sie überhaupt in die Schweiz gekommen war. Er war Diplomat und arbeitete bei der US-Botschaft in Bern. Nach ihrer Trennung und einer beruflich unrühmlichen Geschichte wurde er versetzt. Kirsten hatte nie genau erfahren, worum es in dieser Affäre gegangen war. Sie wusste nur, dass ihr Mann, Jeff Warren, im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen Schweizer Banken auf einer ominösen schwarzen Liste der New Yorker Staatsanwaltschaft aufgetaucht war. Und plötzlich war er weg. Kirsten wusste nicht, ob er zurück in die USA oder in eine andere Botschaft versetzt worden war. Doch die Alimente flossen. Direkt von den US-Behörden.

Sie hatte sich als Webspezialistin schon vor ihrer Heirat einen Namen gemacht und ein eigenes Geschäft aufgebaut. Die US-Botschaft gehörte seit der Sache mit ihrem Mann zu ihren wichtigsten Kunden. Das wunderte sie zwar. Doch sie war auch dankbar, damit halbwegs wieder auf eigenen Beinen stehen zu können. Erst später kamen «Aktuell» und hin und wieder andere Verlage dazu.

Sie vermisste ihre Heimat Texas. Ihre Familie. Und ihre Freunde. Aber ihr Sohn wollte in Bern bleiben. Und irgendwie wusste sie auch nicht, ob sie weg gekonnt hätte, wenn sie weg gewollt hätte. Botschaftsvertreter hatten ihr mehrmals angetönt, dass sie die Alimente und die Aufträge nur auf sicher habe, solange sie in der Schweiz wohne. Zudem gab es noch «the others», wie Kirsten sie nannte.

Schweizer Freunde hatte sie wenige. Es waren im besten Fall Bekannte. Aber vielleicht würde sich das irgendwann ändern. Allerdings tat sie nicht viel dafür. Sie ging kaum aus, engagierte sich auch in keinem Verein oder Club. Nur Golf spielte sie regelmässig. Meistens allerdings mit Amerikanerinnen, deren Ehemänner wochenlang auf Geschäftsreisen waren. Und auch mit diesen Frauen pflegte Kirsten eine distanzierte Beziehung, lehnte die meisten ihrer Einladungen ab oder ging einfach nicht hin. Es war ihr lästig, dass alle sie mit irgendwelchen Männern verkuppeln wollten. Ein so attraktives und nettes Girl könne doch nicht alleine leben, meinten die Damen.

Sie war hübsch. Lange, blonde Haare, lange Beine, schlank und mit tollem Busen und wohlgeformtem Po. Wenn sie Jeans, Boots, eine kurze Lederjacke und einen Hut trug, verkörperte sie das perfekte Cowgirl. Boots und Jeans hatte sie oft an, die restlichen Cowgirl-Accessoires nur zweimal im Jahr. Wenn sie mit ihrem Sohn ans Country- und Truckfestival nach Interlaken fuhr. Und an die Countrynight in Gstaad. Dann genoss sie es, mit ihrem Sohn als Dreamgirl aufzutreten. Christopher war das mittlerweile allerdings peinlich.

Sie holte einen wässrigen Filterkaffee aus der Kanne – mit Kapselkaffee konnte sie nichts anfangen – und loggte sich im Internet ein. Ihre Mailbox zeigte zweiundvierzig neue Mitteilungen an. Eine davon war ein Hinweis, dass sie ins Newnetnet reinschauen solle. Newnetnet war ein geschlossenes Netz, ein sogenanntes Darknet im Deep Web, ausserhalb des bekannten World Wide Web, das nur mit spezieller Software zu erreichen war. Wie andere solche Netze war Newnetnet nur mit Username und mehreren Passwörtern zugänglich. Wer sich anmelden wollte, musste einen Bekannten haben, der bereits im Newnetnet Mitglied war und für das Neumitglied bürgte. Selbst professionelle Hacker konnten sich nicht in diesen geheimen Zirkel einschleichen. Kirsten selbst war aus Recherchezwecken – sie musste vor einem halben Jahr für die US-Botschaft in Bern einen Bericht über das Deep Web und seine Auswirkungen auf die Schweiz verfassen – darauf gestossen und war schliesslich zu Newnetnet eingeladen worden. Von wem und warum wusste sie bis heute nicht. Da ihre Aufnahme im Gegensatz zu vielen anderen Usern völlig reibungslos und schnell vonstattenging, war Kirsten überzeugt, dass die Leute, die sie eingeladen hatten, irgendwie mit den US-Behörden verbandelt waren. Sie hatte keine Angst vor diesen Leuten, aber ein ungutes Gefühl. Deshalb nannte sie sie einfach nur «the others».

Ob sich in diesem Newnetnet auch so viele Spinner, Spione, Drogendealer, Waffenschieber und Pädophile tummelten wie in anderen Schattennetzen des Deep Webs, wusste sie ebenfalls nicht. Aber spannend war es auf alle Fälle. Sie loggte sich also ein und erhielt sofort eine Mitteilung von einem User namens John Fox. Der Mann schrieb: «Möchtest du eine Story?»

«Yes», gab Kirsten ein. Sie trank ihren Kaffee und hoffte, der Kerl, der sich «John Fox» nannte, wäre online.

«Melde meinem alten Freund Haberer, dass Basel nur der Anfang war …»

«Soll das ein Joke sein? Wer bist du?»

«Kein Joke. Ich bin John Fox.»

«Sehr witzig.»

«Haberer steht sicher auf dich, Cowgirl …»

UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Irgendwie hatte sie Freude an ihrem Job als Boulevard-Ratte entwickelt. Sandra Bosone stand mitten in der Intensivstation des Universitätsspitals und hatte in ihrem Ärztinnen-Outfit Zugang zu sämtlichen Patienten. Sie klapperte alle Zimmer ab, immer auf der Suche nach den am schwersten verletzten Opfern des Bombenanschlags. Die, die sprechen konnten, erzählten ihr sämtliche Details ihrer Odyssee. Jene, die dazu nicht in der Lage waren, hatten meist Angehörige, die weinten und ihr vertrauensvoll das ganze Elend schilderten. Für Sandra war es ein «Yeah-yeah- yeah»-Effekt, so viele Schicksale auf engstem Raum zu treffen, war für eine Reporterin aussergewöhnlich. Jedes davon eine eigene Geschichte wert. Doch in der Masse gingen die meisten unter, denn unter diesen Umständen war nur noch das grösste Elend interessant. Eine schwerverletzte Mutter, der beide Beine amputiert werden mussten, und deren zwei Kinder, ebenfalls durch Splitter der Bombe verletzt, gab von der journalistischen Relevanz aus gesehen die beste Story. Peter Renner, die Zecke, würde sie lieben für diese Story. Selbstverständlich mit Bild und Video, denn Sandra hatte nicht gezögert, ihre Kamera beim Interview auszupacken und die Szenerie aufzunehmen. Ob die arme Frau je in «Aktuell» erscheinen würde, darauf hatte sie keinen Einfluss. Das würden Peter Renner, Jonas Haberer oder die Anwälte entscheiden. Sie machte nur ihren Job.

Die Idee mit dem gekauften Arztkittel und dem Stethoskop war zwar gut gewesen, aber nicht genügend. Das hatte Sandra schnell gemerkt. Ihr hatte der Ausweis gefehlt. Diesen hatte sie sich allerdings schnell angeeignet. Sie hatte sich einen Kaffee geholt, dann gezielt eine Ärztin angerempelt und ihr den Kaffee über den Kittel geschüttet. Dann hatte sie der «Kollegin» geholfen, sich zig-mal entschuldigt, den riesigen Kaffeefleck verwischt, ihr dabei den Ausweis aus der Brusttasche geklaut und damit den Namen «Dr. Elfriede Kasalski» angenommen. Die Security-Leute hatten sie seither freundlich gegrüsst und ihr sämtliche Türen aufgehalten.

Jetzt hatte sie alles im Kasten. Sie verliess das Spital, zog den Arztkittel aus, versenkte das Stethoskop in ihrer Tasche und rannte zum Kiosk an den Blumenrain hinunter. Dort kaufte sie sich Zigaretten, rauchte zwei und rief Peter Renner an. Er sagte ihr, dass er sie liebe. Danach stürzte sie sich in die Fasnacht. Es war 11.55 Uhr. Der Publikumsaufmarsch hielt sich allerdings in Grenzen, obwohl am Dienstag jeweils Kinderfasnacht war.

Verrückte Welt, dachte Sandra. Aber das war egal. Sie hatte ganze Arbeit geleistet. Pervers. Aber gut. Sandra lächelte.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

«Kirsten was?», schnauzte Chefredaktor Jonas Haberer seinen Nachrichtenchef an. «Ich kenne diese verdammte Kirschtorte nicht!»

Peter Renner regte sich nicht auf. Er wusste, dass sein Chef sämtliche Namen verhunzte und wunderte sich deshalb nicht im Geringsten. Hauptsache, sein Chef hämmerte nicht schon wieder auf seiner Schulter herum.

«Sie schreibt für uns die Computer- und Game-Kolumne.»

«Was?»

«Ja, mein Lieber, wir haben eine Computer- und Game-Kolumne in unserer Zeitung.»

«Ach, die Schach- und Halma-Tante.»

«Ja, ja, mein Lieber, Schach und Halma spielte man noch kurz nach dem Krieg, du alter Schafseckel!» Jonas Haberer lachte drauflos. So heftig, dass er einen Hustenanfall bekam und zu ersticken drohte. Sein langes, fettiges Haar vibrierte.

«Geht’s, Jonas?», fragte Peter Renner.

Haberer beruhigte und räusperte sich. Dann sagte er: «Los, was will die Halma-Tante, diese Kirschtorte?»

«Sie hat eine Nachricht aus dem Darknet erhalten, in der ihr mitgeteilt wurde, dass der Anschlag von Basel nur der Anfang wäre. Und dass du auf die Halma-Tante stehen würdest, falls du sie mal sehen würdest.»

Haberer bekam erneut einen Lachanfall. Er dauerte rund zwanzig Sekunden. Danach fragte er: «Wie war das mit der Nachricht? Mit diesem Darknet-Zeugs? Was ist das überhaupt, verdammt?»

«Das ist ein Schatten-Internet. Oder so ähnlich. Jedenfalls etwas Obskures.»

«Und warum soll ich auf die Kirschtorte stehen?»

«Weiss ich nicht.»

«Sie soll herkommen! Sofort!»

«Bist du sicher? Interessiert dich die Story? Ist das nicht zu unseriös?»

«Pescheli, was ist los? Wir sind unseriös! Also her mit der Kirschtorte! Ich geh mich mal rasieren.» Haberer verliess den Newsroom. Renner hörte noch lange seine Schritte und vor allem sein ordinäres Lachen.

CLARAPLATZ, BASEL

Anders als in anderen Jahren füllte sich die Innerstadt nur langsam mit Fasnächtlern. Der Dienstag, der als der schönste Tag der Basler Fasnacht galt, weil kein offizieller Umzug stattfand, war irgendwie kein richtiger Fasnachtsdienstag. Das Attentat überschattete den Tag der Kinderfasnacht und der Guggenmusiken. Cliquen mit Kindern waren nur wenige unterwegs. Die Guggenmusiker trugen Transparente mit Parolen wie «Jetzt erst recht!», «Wir lassen uns die Fasnacht nicht nehmen!» und «Wir haben keine Angst!» Überall standen Polizisten. Nicht nur aus Basel. Das Nordwestschweizer Polizeikorps war aufgeboten worden. Es herrschte Ausnahmezustand.

Um 13.33 Uhr zog eine Gruppe von rund dreissig Personen vom Claraplatz kommend durch die Rheingasse. Die schwarz angezogenen und mit Totenkopftüchern maskierten Menschen trommelten auf Konservendosen und Bratpfannen herum, einige schlugen Pfannendeckel zusammen. Ein Wachtmeister der Polizei fragte einen der Maskierten, zu welcher Clique er gehöre. Der Mann, der ununterbrochen auf eine grosse Büchse klopfte, sagte, sie seien ein «Zyschdigszyygli», ein Dienstagszug, zusammengestellt aus mehreren Trommlern diverser Cliquen. Der Wachtmeister gab diese Information an die Zentrale weiter. Mit dem Hinweis, dass der Mann kein Basler, sondern Zürcher Dialekt gesprochen habe.

WAAGHOF, KRIMINALKOMMISSARIAT, BASEL

Im Büro von Kommissär Olivier Kaltbrunner gab es eine heftige Diskussion. Anwesend waren neben Kaltbrunner Staatsanwalt Hansruedi Fässler, Stadtpräsident Serge Pidoux und Bundesanwalt Filipo Rizzoli. Am Telefon zugeschaltet waren Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann, Vorsteherin des Justizdepartements, sowie Bundesrat Georg Bernauer, Chef des Verteidigungsministeriums. Kaltbrunner war bei dieser Konstellation alles andere als wohl. Er versuchte, sich in seinem Bericht auf das Wesentliche zu beschränken. Die vermeintliche Attentäterin sei vermutlich eine Frau namens Hildegard, genannt Hilde, Haberthür, sie war geistig stark behindert gewesen, hatte im Heim Sonnenstrahl gewohnt und in einer Werkstatt für behinderte Menschen gearbeitet. Ein Bombenattentat wurde ihr nicht zugetraut, wie die ersten Befragungen der Betreuer ergeben hätten. «Das heisst?», wollte Staatsanwalt Fässler wissen.

«Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen, wir haben noch …»

«Besteht die Gefahr für weitere Attentate?», fragte Bundesrätin Christine Gugler-Herrmann.

«Also …», begann Kaltbrunner.

«Nein», unterbrach Staatsanwalt Fässler. «Wir haben es mit einer kranken Person zu tun.»

«Unsere Leute sind notfalls bereit», warf nun Militärminister Bernauer ein. «Wir sollten jegliche Panik verhindern. Wir lassen die Fasnacht laufen.»

«Ich finde das keine gute Idee, weil …»

«Danke, meine Damen und Herren, wir haben die Lage im Griff», sagte Stadtpräsident Serge Pidoux.

«So, so, die Armee steht bereit», murmelte Kaltbrunner und lächelte. «Was sagen Sie?», wollte Fässler wissen und hielt sein Ohr zu Kaltbrunner.

«Ich sagte nur: Die Armee steht also bereit.» Fässler schaute den Kommissär einen Moment an. Erst dann prustete er los.

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Chefredaktor Jonas Haberer war beim Anblick von Kirsten Warren nicht mehr hundertprozentig zurechnungsfähig. Die Computer- und Gameredaktorin trübte seine Sinne, das wusste Nachrichtenchef Peter Renner sofort. In ihren engen Jeans, den Boots und den langen Haaren verkörperte sie alles, worauf sein Chef stand. Und er selbst eigentlich auch. Obwohl er vor allem auf die Verlegerin Emma Lemmovski stand. Aber Kirsten glich Emma. Sie war zwar etwas jünger, aber vom Typ her …

«Warum arbeitest du nicht in unserem schönen Büro, sondern zu Hause?», säuselte Jonas Haberer zu Kirsten Warren. Peter Renner sass einmal mehr wie in Gips gegossen da, innerlich ärgerte er sich allerdings über Haberer.

«Ich habe einen Sohn», sagte Kirsten Warren in ihrem Deutsch mit amerikanischem Akzent.

«Das macht mir nichts aus …» Haberer lächelte.

Kirsten Warren schaute ihn verdutzt an.

«Also, Jonas, Kirsten ist hergekommen, weil …»

«Ich weiss, Pescheli», unterbrach Haberer und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Unsere süsse Kirschtorte hat eine obskure Nachricht aus dem geheimen Internet erhalten.»

«Ach, geheim ist vielleicht falsch. Das Deep Web ist einfach eine andere Form des Internets, das noch sehr viel grösser ist als das normale Internet, aber nicht von Google und Co. gefunden wird. Das heisst, dass …»

«Ist gut. Ist gut. Ist gut. Worum geht es?»

«Ein Mann, der sichJohn Fox nennt, meldet, dass der Anschlag auf die Basler Fasnacht nur der Anfang war.»

«Der Anfang wovon?»

«Weiss ich nicht. Ich gehe aber davon aus, dass er weitere Anschläge meint.»

«Und wer ist John Knox?»

«Fox. John Fox. Er kennt dich offenbar.»

«Ich kenne keinen Fox.»

«Das ist sicher nicht sein richtiger Name.»

«Ach, in diesem Deep Ding Netz heisst man Hinz und Kunz statt Haberer und Renner?»

«In etwa.»

«Also ist’s Quatsch.»

«Nein. Nicht unbedingt. Ich habe diese Nachricht ja persönlich bekommen. Und zwar in einem Netzwerk von Usern, die sich mit politischen Zusammenhängen in der Schweiz befassen.»

«Ist doch ein Bluffer.»

Kirsten nahm wortlos ihr Tablet aus der Handtasche, tippte darauf herum und fragte: «Wollt ihr jetzt mehr wissen? Ich bin online.»

«Ja, schiess los, Kirsten», sagte Renner.

Kirsten tippte, wartete, tippte und wartete. Jonas Haberer wippte auf seinem Stuhl hin- und her. Dann scharrte er mit den Füssen. Schliesslich schlug er mit der Faust auf die Tischplatte und bellte: «Ich habe nicht ewig Zeit für diesen Scheiss!»

Kirsten sagte nichts, sondern übergab das Tablet Jonas Haberer. Dieser las etwas und gab das Gerät an Peter Renner weiter. Der Nachrichtenchef wunderte sich, warum Haberer nichts sagte. Renner las: «Liebe Kirsten, der alte Jonas glaubt’s nicht, was? Er soll mal einen seiner Schnüffler um 17 Uhr auf den Basler Barfüsserplatz schicken. Dort wird eine Gruppe schwarzmaskierter Pseudofasnächtler eine kleine Show bieten. Ungefährlich, lieber Habi, noch…» Renner legte das Tablet auf den Tisch. Rund zehn Sekunden schwiegen alle.

Dann knallte Jonas Haberer die Faust auf den Tisch, und zwar so heftig, dass Kirstens Tablet vier Zentimeter in die Luft katapultiert wurde. Der Chefredaktor schrie: «Worauf warten wir noch?» Er schluckte kurz und fügte dann, etwas ruhiger, hinzu: «Pescheli, beiss dich da rein. Und du, Kirschtorte, bringst mir diesen verdammten John Wixer Knox her. Den drehe ich durch den Fleischwolf, bis er Matsch ist!»

RATHAUS, BASEL

Die Medienkonferenz fand ohne Kommissär Olivier Kaltbrunner statt. Er hatte sich geweigert daran teilzunehmen, weil es seiner Ansicht nach noch zu wenige Fakten gab. Stadtpräsident Serge Pidoux und Staatsanwalt Hansruedi Fässler gaben um 16 Uhr vor den versammelten Presseleuten bekannt, dass die Frau mit der Bombe im Rucksack eine geistig gestörte Person gewesen sei und es keinen Hinweis auf einen Terrorakt gäbe. Die Konferenz wurde per Video in den Innenhof des Ratshauses übertragen, wo weitere Medienleute standen, aber auch Passanten. Zudem wurden die Reden des Stadtpräsidenten und des Ersten Staatsanwalts auf dem Schweizer Fernsehen und auf TeleBasel live übertragen. Mehrere Online-Plattformen, darunter auch «Aktuell»-Online, hatten Live-Ticker und Streamings eingerichtet.

Die erste Frage eines Journalisten richtete sich an Hansruedi Fässler. Der junge Mann wollte wissen, wie eine geistig behinderte Frau eine Bombe basteln und diese mitten im Fasnachtstreiben zünden könnte. Es herrschte einige Sekunden Stille.

«Natürlich haben wir uns das auch gefragt», antwortete Fässler schliesslich. «Nach dem Stand der Ermittlungen müssen wir davon ausgehen, dass sich jemand einen Scherz erlauben und die Frau mit einer aus Pyro- und Feuerwerkskörpern gebastelten Bombe erschrecken wollte. Wobei Bombe der falsche Ausdruck ist. Der Sprengkörper war eine aus diversen Spassartikeln verklebte und verschraubte Knall-Kugel. Leider war die Wirkung sehr tragisch. Aber sicherlich war es nicht das Werk eines Profis.»

«Gibt es Verdächtige?», wollte eine Radiojournalistin wissen.

«Ja», antwortete Fässler schnell. «Aber darüber geben wir zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft. Aus ermittlungstaktischen Gründen.»

«Wie wurde die Knall-Kugel, wie Sie sagen, gezündet?», fragte nun ein älterer Pressevertreter.

«Auch darüber geben wir aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskunft. Sie wissen ja, wegen der Nachahmer.»

Stadtpräsident Pidoux erklärte schliesslich, dass die Fasnacht deshalb ungeniert weiter genossen werden könne. Allerdings sei nach wie vor mit einer erhöhten Polizeipräsenz zu rechnen. Man solle es den Polizeikräften nicht verübeln, wenn man als Kostümierter oder Kostümierte kontrolliert würde.

WAAGHOF, KRIMINALKOMMISSARIAT, BASEL

Kommissär Kaltbrunner starrte in den Monitor. Er verfolgte die Medienkonferenz am Fernsehen. Fassungslos sagte er zu Kollege Tamine: «Was labert Fässler da für einen Stuss? Eine Knall-Kugel?»

«Knall-Kugel», bestätigte Tamine, «er hat Knall-Kugel gesagt!»

«So ein Mist, Goppeloni! Kurt vom technischen Dienst sagte doch, die Bombe sei sehr professionell …»

«Ja, ja, nur ist diese Info noch nicht bei Fässler angekommen. Du kennst ihn ja! Er redet schneller, als er denkt.»

«Goppeloni», sagte Kaltbrunner noch einmal.

INNERSTADT, BASEL

Schon einige Male war die Fasnacht durch politische oder kriegerische Ereignisse irgendwo auf der Welt beeinflusst worden. Da das vermeintliche Attentat dieses Mal aber direkt die Stadt Basel betraf, sass der Schock tiefer: An diesem Dienstag, dem Tag der Kinder, befanden sich praktisch keine Mädchen und Buben in der Stadt. Nur vereinzelt, und ausschliesslich in den Nebengassen, waren einige Kinder mit ihren Eltern unterwegs. Nach der Medienkonferenz der Stadtregierung füllten sich die Plätze und Strassen allerdings relativ schnell. Es kam so etwas wie Fasnachtsstimmung auf.

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

Kilian Derungs goss sich nochmals einen Cognac ein, schwenkte das Glas und schaute mit einem Lächeln TeleBasel. Der Regionalsender übertrug nach der Medienkonferenz wieder Bilder der Basler Fasnacht. Die Kommentatoren sagten, dass man nun den Rest der Fasnacht ohne Angst geniessen könne. Kilian Derungs lächelte und murmelte: «Nein, das könnt ihr nicht.» Er nahm einen Schluck Cognac.

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

Nach dem Alarmanruf von Nachrichtenchef Peter Renner waren die «Aktuell»-Reporter Alex Gaster, Sandra Bosone, Flo Arber und die beiden Fotografen Henry Tussot und Jöel Thommen rund um den Barfüsserplatz postiert. Es war 16.55 Uhr. Die Lage war ruhig. Fasnächtler marschierten über den Platz, Kinder tobten herum, Zuschauer genossen Bier und Weisswein.

Reporterin Sandra Bosone war nicht besonders guter Stimmung. Ihr war bewusst, dass ihr Einsatz, den sie im Spital für die Interviews mit den Verletzten geleistet und dafür ein etwas schlechtes Gewissen hatte, möglicherweise für die Katz gewesen war. Falls hier etwas Dramatisches passieren sollte, würde ihre Reportage, die sie bereits geschrieben und übermittelt hatte, in den Hintergrund gedrängt.

«Reporterpech», kommentierte Fotograf Henry Tussot ihre Sorgen. «Du weisst gar nicht, was ich alles fotografiere den ganzen Tag. Und dann bringen diese Idioten andere Fotos oder zerstückeln meine Bilder dermassen, dass ich sie kaum wiedererkenne. Merde! Aber so ist das nun mal.»

Um Punkt 17 Uhr lief eine schwarzgekleidete Combo von der Falknerstrasse her auf den Barfüsserplatz. Die Reporter blickten sich an. «Sind das wohl die von Renner angekündigten Pseudofasnächtler, die für Aufregung …», fragte Sandra.

Henry und Jöel rannten los und begannen sofort, Fotos und Videos zu machen. Denn irgendwie sahen diese Fasnächtler nicht wie Fasnächtler aus, sondern wie die angekündigte Chaos- oder Terrortruppe. Alex und Sandra stürmten ebenfalls zu dieser Clique und sprachen mehrere Mitläufer an. Sie fragten, welche Absicht hinter diesem Zug stecke. Antwort erhielten sie keine.

Um 17.03 Uhr enterte die Gruppe, die aus rund fünfundzwanzig Leuten bestand, die Gerüstbühne, auf der am Abend die Gug- genmusiken ihre Konzertauftritte halten.

«Die sehen aus wie der berüchtigte ‹Schwarze Block› aus Zürich», sagte Sandra zu Alex. Der «Schwarze Block» war eine Ansammlung gewaltbereiter junger Menschen, die an Demonstrationen für Ausschreitungen sorgte.

«Hoffen wir, dass nichts passiert. Für eine aggressive Demonstration ist die Fasnacht nun wirklich der falsche …»

In diesem Augenblick gab es einen lauten Knall. Und noch einen. Pyros wurden gezündet. Sekunden später gab es ein riesiges Durcheinander. Fasnächtler und Zuschauer rannten in Panik davon. Einige fielen zu Boden. Kinder schrien. Eltern schrien.

Sandra verlor in diesem Tohuwabohu den Kontakt zu Alex. Sie wurde von hinten angerempelt von einem schwarzgekleideten Kerl mit einem schwarz-weissen Totenkopfhalstuch vor dem Gesicht. Sie versuchte, den Mann zu fotografieren, drückte auf den Auslöser, doch sie stürzte. Als sie sich aufrappeln wollte, sah sie einen Waggis, eine klassische Fasnachtsfigur mit gelber Mähne und einer grossen, roten Nase im Gesicht, mit seinen schweren Holzzoggeli auf sich zu rennen. Sie spürte einen dumpfen Schlag im Gesicht. Alles wurde schwarz. Und dann war es ganz ruhig.

STEINENVORSTADT, BASEL

Kommissär Olivier Kaltbrunner rannte von seinem Büro bei der Heuwaage Richtung Barfüsserplatz und verfluchte sich, dass er nicht in besserer körperlicher Verfassung war. Sein Mitarbeiter Giorgio Tamine war fünf Meter vor ihm und versuchte, in der Steinenvorstadt seinem Chef einen Weg durch die Menschen zu bahnen. Da durch die Basler «Kinostrasse» Hunderte, wenn nicht Tausende von Leuten Richtung Heuwaage rannten, um sich in Sicherheit zu bringen, war fast kein Durchkommen mehr. Olivier Kaltbrunner keuchte und war nicht unglücklich darüber, dass es nur langsam vorwärts ging. So kam er wenigstens wieder zu Atem. Als er sich einigermassen fit genug fühlte, sagte er zu sich: «Ich muss weniger fressen, weniger Bier saufen und mehr trainieren, Goppeloni.» Dann schrie er: «Polizei! Aus dem Weg! Polizei!»

Ohne grossen Erfolg. Als er mit Tamine den Barfüsserplatz erreichte, hatten die Polizeigrenadiere den gesamten Platz bereits mit Gitterfahrzeugen abgesperrt. In der Luft hing Tränengas. Als er und Tamine an drei Polizeigrenadieren in Vollmontur mit Helm und Schutzmaske vorbei wollten, wurde ihnen mit Schlagstöcken und Schutzschildern der Weg versperrt.

«Ich bin der Kommissär, verdammte Scheisse, was seid ihr für elende Flachzangen?» Er zückte den Ausweis.

Einer der Polizeigrenadiere entschuldigte sich auf Berndeutsch: «Sorry, wir sind nicht von der Basler Polizei, sondern vom Nordwestschweizer Polizeikonkordat.»

«Schon gut», antwortete Olivier Kaltbrunner ruhig. «Dürfen wir jetzt durch?»

«Ich muss erst meinen Gruppenführer frag…»

«Jetzt reicht es aber endgültig!», schrie Kaltbrunner aus Leibeskräften. «Geh zurück nach Bern! Wir sind hier in Basel, und ich bin Goppeloni der Chef hier!»

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Es gab selten eine Situation, in der Peter Renner nervös wurde. Jetzt aber war er es. Er versuchte seit gut einer Stunde, irgendeinen seiner Reporter in Basel zu erreichen. Doch keiner nahm seine Anrufe entgegen. Auch die Webcam, die auf den Barfüsserplatz gerichtet war, war ausgefallen. Renner wusste lediglich, dass irgendetwas passiert sein musste, aber nicht was. Und das machte ihn nervös.

Auch seine Anrufe bei der Basler Polizei und bei der Staatsanwaltschaft hatten nichts gebracht. Ja, es sei ein polizeilicher Einsatz im Gange, aber man könne keine Auskunft darüber geben. Selbst auf den Onlineportalen der Konkurrenz gab es keine Informationen. Und die ansonsten lebhaften News-Schleudern Fa- cebook und Twitter blieben ebenfalls verdächtig ruhig.

Chefredaktor Jonas Haberer drängte darauf, die morgige Printausgabe von «Aktuell» zu gestalten. Er wolle mit der Opfer-Story von Sandra Bosone, an der er grossen Gefallen fand, die Schlagzeile auf Seite 1 kreieren. Doch Renner vertröstete ihn, es sei wohl noch etwas Grösseres im Gange in Basel. Vermutlich müsse die Redaktion eine Nachtschicht einlegen. Jonas Haberer murrte.

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

Alex Gaster hatte sich unter der Bühne der Guggenmusiken versteckt und das Geschehen fotografiert und gefilmt. Er war zufrieden. Seine Aufnahmen zeigten, wie die schwarzgekleideten Typen nach dem Abfeuern von Knall- und Rauchpetarden und dem Abbrennen von Pyrofackeln gezielt Leute attackierten, die fotografierten. Sie rissen ihnen die Handys und Kameras aus den Händen und schleuderten sie auf den Boden. Danach flüchteten sie in die Seitengassen. Zwei Männer waren nahe an Alex vorbeigerannt, hatten kurz angehalten, sich die schwarzen Kleider vom Leib gerissen und waren als gewöhnliche Zuschauer weitergerannt. Auch den Aufmarsch der Polizei hatte Alex fotografiert. Allerdings waren diese Bilder weit weniger dramatisch, denn der Tränengaseinsatz hatte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes stattgefunden.

Jetzt kramte Alex sein Handy hervor, um seinen Chef anzurufen. Nach etlichen Versuchen musste er feststellen, dass er keinen Empfang hatte. Das irritierte ihn. Warum gab es am zentralsten Platz in Basel keinen Handyempfang?

FALKNERSTRASSE, BASEL

Zur gleichen ZeitversuchteJoëlThommen, von der Falknerstrasse her wieder auf den Barfüsserplatz zu gelangen. Er hatte einige Mitglieder dieser schwarzen Clique verfolgt, musste dann aber aufgeben, weil die Leute in der Masse der Flüchtenden untergetaucht waren. Auch hatte er etwas Tränengas abbekommen, was ihn einige Minuten ausser Gefecht setzte. Auch er hatte festgestellt, dass sein Handy tot war.

Der Weg zum Barfüsserplatz war durch Polizeigrenadiere und Gitterfahrzeuge versperrt. Die Polizisten standen breitbeinig da. Einige hielten Gummischrotgewehre und Tränengaskanonen in den Händen. Joël zückte seinen Presseausweis und zeigte ihn den Beamten. Sie wiesen ihn jedoch strikte ab, und befahlen ihm zu verschwinden. Joël versuchte zu diskutieren, keiner der martialisch aussehenden Polizisten ging darauf ein.

Joël beschloss, sich einen anderen Weg zu suchen und ging ein Stück zurück. Plötzlich explodierte etwa zwanzig Meter vor ihm eine Rauchpetarde. Er fotografierte. Dann allerdings geriet er in Panik und rannte zurück, wieder auf die Polizisten zu. Dort bin ich sicherer, dachte er.

«Zurückbleiben! Zurückbleiben!», hörte Joël. Er riss den Presseausweis in die Höhe und schrie: «Ich bin Fotograf, lasst mich durch!» Dann hörte er einen Knall und kurz darauf das Niederprasseln von Gummischrot auf den Asphalt.

«Ich bin Fotograf!» Joël rannte. Dann ein weiterer Knall und ein brutaler Schlag ins Gesicht, den Joël schier umhaute. «Scheisse, Scheisse, Scheisse», haspelte Joël. «Ich bin getroffen.»

Weitere Schüsse. Joël warf sich auf den Boden und schützte seinen Kopf mit den Armen.

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

«Lass gut sein», sagte Flo Arber zu Fotograf Henry Tussot, der nach der Knallerei in der Falknerstrasse wegrennen wollte. Die beiden waren vor etlichen Minuten zur Tramhaltestelle geflüchtet, zusammen mit vielen anderen Menschen. «Keine Ahnung, was da abgeht», ergänzte Flo. «Aber das ist kein normaler DemoEinsatz mehr. Möglicherweise ist das hier alles ernst, also ein wirklicher Terrorakt.»

«Merde!», kommentierte Henry. «Dann ist das ja etwas wie Krieg. Auf in den Kampf!» Er packte seine Kamera, hielt sie wie ein Sturmgewehr vor sich und rannte in geduckter Haltung mitten auf den Platz. «Du spinnst doch», rief Flo ihm nach und schaute zu den anderen Menschen im Tramhäuschen. Erst jetzt bemerkte er, dass sich diese umarmten, an den Händen hielten, weinten oder mit offenen Augen ins Leere starrten. Erst jetzt hörte er, dass irgendjemand das Vater unser betete.

FÄRBERSTRASSE, SEEFELD, ZÜRICH

«Gute Show, was?», tippte Kilian Derungs in seinen PC. «Wir haben dafür gesorgt, dass ihr alles exklusiv habt. Aber eben, das war erst der Anfang.» Er schickte das Mail durch die undurchsichtigen Kanäle und Wellen des Deep Webs an Kirsten Warren.

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

Weit musste Henry Tussot nicht rennen, bis er die ersten Objekte für seine Kriegsreportage vor die Linse bekam. Er war zwar noch nie in einem Krieg gewesen, doch er wäre gerne Kriegsreporter geworden. Dafür war er allerdings zu spät auf die Welt gekommen: In Zeiten der Digitalfotografie, des Videobooms und des Internets war die Zeit professioneller Kriegsfotografen abgelaufen. Die brutalsten und mörderischsten Bilder wurden heute mit Handykameras aufgenommen und innert Sekunden weltweit verbreitet.

Trotzdem: Dieser Platz war nun sein Schlachtfeld. Da lag ein Fasnächtler mit einer klaffenden Wunde am Kopf am Boden, dort ein Kind, das schrie, daneben eines, das nicht schrie, auch nicht jammerte, aber immerhin atmete. Henry fotografierte alle, nachdem er sich kurz nach dem Befinden erkundigt und festgestellt hatte, dass niemand lebensbedrohlich verletzt war. Als er sah, dass die Sanität eintraf, fotografierte er nur noch. Er wusste, dass er wahrscheinlich schon bald von einem uniformierten Muskelprotz abgeführt werden würde.

Er fotografierte ununterbrochen. Fasnachtstrommeln mit zerrissenem Fell, Piccolos in Konfettibergen, zerrissene Laternen, zertrampelte Masken. Und er fotografierte Menschen, die herumlagen. Es lagen viele herum. Henry war sich sicher, dass er auch Tote fotografierte. Nein, das war nicht unmoralisch. Jemand musste das tun. Davon war er zwar nicht ganz überzeugt, aber es tat gut, daran zu glauben.

Eine Frau, kostümiert als Clown, lag auf den Tramschienen, ihr Kleinkind – ebenfalls im Clownkostüm – hatte sie zum Schutz unter sich gelegt. Das Kind hatte die selbstgebastelte Maske noch auf dem Kopf. Es war eine Larve aus einem Schuhkarton und mehreren Toilettenpapierrollen, liebevoll, wenn auch ein bisschen ungeschickt bemalt und mit roten Papierhaaren verziert. Es war ein unglaubliches Sujet, wie Henry sofort erkannte. Der kleine, süsse Clown unter der Clownmutter, die weit aufgerissenen Augen der Mama, das Entsetzen in ihrem Gesicht. Henry kniete sich hin und ging ganz nah ran, nahm sich Zeit. Jetzt sah er: Aus den Sehschlitzen der Larve des kleinen Clowns rannen Tränen, echte Tränen. Er vernahm jetzt auch das Wimmern des Kindes, sein Schluchzen und Schlucken.

«Was ist passiert?», fragte er die Frau und hoffte, dass sie … ja, sie brach auch in Tränen aus … Henry schaltete den Blitz ein … zack! … die Frau zuckte zusammen … «Excusé moi!» … Mann, war das ein Shot! …

Henry stand auf und fotografierte weiter wie ein Verrückter. Dann rannte er weiter, immer noch in geduckter Haltung. Er entdeckte Blutspuren, einen verlorenen Schuh, einen liegengebliebenen Rucksack, eine weggeschmissene Maske, noch eine Larve, einen leeren Kinderwagen, einen leeren Leiterwagen, gelbe, goldene, rote und blaue Räppli, Konfetti, einige blutgetränkt. Weiter, weiter.

Plötzlich entdeckte er Sandra Bosone. «Sandra!», schrie Henry. Aber sie antwortete nicht. Ohne durch den Sucher seiner Kamera zu gucken, drückte er ständig den Auslöser, fotografierte alles, was rund um ihn herum passierte. Er fotografierte auch Sandra, ihren Körper, ihr Gesicht, die Wunde an ihrem Kopf, das Blut in ihren dunkelblonden, kurzen Haaren, und gleichzeitig versuchte er, den Puls seiner Kollegin zu fühlen!

«Hilfe!», schrie er. «Hilfe! Hier liegt eine Tote!»

RATHAUS, BASEL

Um 18.33 Uhr beschlossen die Basler Regierung, die Vertreter des Krisenstabs, die Polizeiverantwortlichen und die Staatsanwaltschaft, die Fasnacht per sofort für beendet zu erklären. Der Entscheid würde wie in einem Katastrophenfall nicht nur über die Medien, sondern auch mit Lautsprecherwagen in der ganzen Stadt verkündet. Zudem solle die Bevölkerung aufgerufen werden, zu Hause zu bleiben.

Erneut wurde der Einsatz der Armee diskutiert. Allerdings nur kurz: Unterdessen waren sich alle einig, dass die zivilen Kräfte die Lage nicht mehr unter Kontrolle halten könnten, falls weitere Anschläge stattfänden. Stadtpräsident Serge Pidoux informierte sofort Militärminister Georg Bernauer. Dieser, so stellte Pidoux verärgert fest, konnte einen freudig erregten Unterton nicht unterdrücken: Endlich ein Ernstfall für seine Armee.

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

«Zu welchem Schluss kommst du?», fragte Olivier Kaltbrunner Giorgio Tamine.

«Ich bin mir nicht sicher. Diese Brandspuren hier …»

Olivier Kaltbrunner nahm seine Brille mit dem dünnen Goldrand ab, kniete nieder, rieb mit den Fingern ein wenig Brandstaub vom Boden und roch daran. «Also für mich riecht das wie ganz normale Asche, wie sie beim Abfackeln von Pyros zum Beispiel an Fussballspielen entsteht.» Er hielt seine Finger Tamine hin. «Ja, das kann ich bestätigen», sagte Giorgio Tamine, nachdem er an Olivier Kaltbrunners Fingern geschnuppert hatte.

«So, so, du kannst das bestätigen», wiederholte Kaltbrunner. Er ärgerte sich einmal mehr über den polizeilich-korrekten Ton seines Mitarbeiters. Bestätigen - irgendwie hatte Tamine den Wechsel vom uniformierten Polizeidienst in die Staatsanwaltschaft, der das Kommissariat unterstellt war, noch immer nicht vollständig geschafft.

Olivier Kaltbrunner stand auf, wischte seine Finger an der Hose ab, setzte die Brille auf und sagte: «Wir haben es hier nicht mit Bomben zu tun. Das war auch kein Attentat.»

«Bist du dir sicher?»

«Nein. Aber wenn ich die Verletzungen der Menschen anschaue und höre, was die Sanitäter erzählen, dann wurden diese Leute, die hier herumliegen, niedergetrampelt. Es gab durch die Knallerei dieser schwarz angezogenen Idioten schlicht und ergreifend eine Massenpanik.»

REDAKTION AKTUELL, WANKDORF, BERN

Praktisch die ganze Redaktion, bis auf wenige Online-Journalisten, drängte sich ins Sitzungszimmer und schaute gebannt auf Peter Renner. Der Nachrichtenchef trug sein Headset und versuchte, einen der «Aktuell»-Reporter in Basel zu erreichen. Doch es meldeten sich nur die Mailboxes der Journalisten oder einfach eine Frauenstimme, die mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer nicht erreichbar sei. Die Redaktorinnen und Redaktoren konnten mithören, da Renner sein Telefon mit der Lautsprecheranlage verbunden hatte. Selbst Jonas Haberer blieb stumm. Alle erwarteten, dass er jeden Moment ein fürchterliches Donnerwetter loslassen würde. Doch dieses blieb aus. Haberer sagte nichts. Entweder war das Piep-piep-piep aus den Lautsprechern zu hören oder: «Der gewünschte Mobilteilnehmer …» Allen war es absolut unverständlich, warum keine Verbindung nach Basel möglich war. «Hast du es schon mit SMS oder WhatsApp oder via Facebook versucht?», fragte ein junger Onliner.

«Ja», murrte Renner. «Twitter ist übrigens auch tot, was Basel betrifft.» Ihm war klar, dass sich die jungen Journalisten nicht vorstellen konnten, dass Menschen oder ganze Regionen einfach einmal nicht erreichbar sein konnten. Diese jungen Leute waren alle mit Smartphones, Computern und Social Media aufgewachsen. Wieder herrschte Stille.

«Wo ist eigentlich die Halma-Tante?», fragte Haberer plötzlich. Allerdings nicht im erwarteten Kasernenton, sondern ganz normal, fast schon freundlich. «Ich meine diese Kirschtort… also Kristen oder wie sie heisst.»

Das erstaunte selbst Peter Renner. Er hatte es noch nicht oft erlebt, dass Haberer einen Versuch wagte, einen Namen richtig auszusprechen. «Kirsten meinst du?»

«Meint ihr mich?», meldete sich nun Kirsten Warren mit ihrem englischen Akzent zu Wort. «Sorry, ich habe nicht verstand…»

«Schon gut», unterbrach Haberer, aber immer noch nett. «Kannst du erklären, was das soll?»

«Yes. Ich denke die Leute, mit denen wir es hier zu tun haben, haben die Handynetze und die Logins zu Facebook, Twitter, Mail und Co gekappt. Anders kann ich nicht erklären, was hier passiert.»

«Gekappt?», fragte Renner.

«Yes. Ich bekam von unserem Freund …»

«Danke!», schrie Haberer nun in seiner gewohnten Lautstärke mit seinem ebenso bekannten Unterton. Doch irgendwie war es für alle Anwesenden eine gewisse Erleichterung: Der Chef schien wieder normal zu werden, also war vielleicht doch alles in Ordnung mit ihren Kolleginnen und Kollegen in Basel. Renner schaute zu Haberer und nickte. Eigentlich hätte er Kirsten Warren unterbrechen müssen, da sie gerade daran war, ein Geheimnis zu verraten, von dem bis jetzt nur sie, Renner und Haberer wussten: Das Geheimnis der Nachrichten aus den obskuren Tiefen des Internets. Plötzlich ertönte über die Lautsprecheranlage ein normaler Summton. «Flo, nimm endlich ab!», sagte Renner. Es raschelte und knackste.

«Ja, Flo Arber?» Alle im Meetingroom atmeten auf.

«Was zum Teufel macht ihr verdammten Anfänger eigentlich an dieser Scheiss-Fasnacht?», schrie Jonas Haberer. «Seid ihr besoffen, bekifft oder beides? Herrgottsack, Flöli, ihr seid am Leben! Wir hatten eine Scheissangst um euch!»

BARFÜSSERPLATZ, BASEL

Henry Tussot, der Möchtegern-Kriegsreporter, hatte einen Schock erlitten und wurde von Sanitätern versorgt. Immer wieder fragte er: «Est-ce que Sandra est morte? Est-elle morte?» In seinem Zustand konnte der gebürtige Westschweizer kein Deutsch mehr.

Obwohl eine junge Sanitäterin immer wieder antwortete, dass seine Kollegin nicht tot, aber schwer verletzt sei, wiederholte Henry die Frage ständig. Sie sei bereits ins Spital gebracht worden, erklärte ihm die Frau ebenfalls mehrmals. «Sandra est morte?!» Henry zitterte. Er begann zu schluchzen.

NOTFALLSTATION, UNIVERSITÄTSSPITAL, BASEL

Die Warterei machte ihn madig. Zwar konnte Joël wegen seiner Verletzung durch das Gummischrot kaum noch etwas sehen, doch die grünen Wände des Eingangsbereichs der Notfallstation irritierten ihn. Zudem konnte er das Gestöhne und Gejammer der anderen Verletzten nicht mehr ertragen. Wer nicht in Lebensgefahr schwebte, musste in diesem grünen Raum warten und konnte darauf hoffen, dass irgendwann sein Name aufgerufen wurde.

Wie er hierhergekommen war, wusste er nicht mehr genau. Jemand hatte ihn wohl auf der Strasse gefunden und hierhergebracht. Langsam kam er aber wieder zu sich. Er prüfte, ob er seine Fotokamera noch hatte. Ja, sie war da. Das war das Wichtigste.

Jetzt müssen meine Bilder aber subito in die Redaktion geschickt werden, befahl er sich selbst. Wie spät ist es wohl? Meine Güte, ich verpasse den Redaktionsschluss! Und ich habe kein einziges Foto im Blatt!

Er stand auf und ging Richtung Ausgang, stiess aber mit jemandem zusammen. Er tappte weiter und lief gegen eine Wand. Jemand fragte ihn, wohin er wolle. Er müsse hinaus, Luft schnappen. Die Person, vermutlich eine Frau, aber da war sich Joël nicht sicher, führte ihn hinaus und sagte, er müsse jemand anderen bitten, ihn zurückzuführen. Joël fragte, ob er oder sie so nett wäre, ihn auf dem Handy mit seinem Chef, Peter Renner, zu verbinden, denn Joël konnte auf dem Display nichts erkennen. Seine Augen waren viel zu stark verschwollen.

«Alles okay bei dir?», fragte Renner.

«Ja», log Joël.

«Wo bist du?»

«Vor dem Spital.»

«Warum denn das?»

«Spielt keine Rolle.»

«Okay. Du triffst dich jetzt mit Flo und Alex. Die beiden sitzen beim Tinguely-Brunnen und schreiben Texte. Du musst alle Bilder von dir und auch jene von Henry und Sandra auswählen und subito mailen. Wir stehen unter Druck, Redaktionsschluss ist in einer Stunde. Verstanden?»

«Okay. Warum können Henry und Sandra das nicht …»

«Sie sind verletzt.»

«Okay.»

«Bei dir ist alles klar?», fragte Renner nach. «Du klingst irgendwie komisch.»

«Nein. Geht schon.»

«Was zum Teufel ist mit dir?»

«Nichts. Kommt gut.»

«Du bist auch verletzt, stimmt’s? Warum sagst du das nicht? Bleib, wo du bist! Wart, bleib am Telefon …»

Joël hörte wie Renner über eine zweite Leitung mit Alex sprach. Er müsse Joël beim Spital abholen. «Nein, es geht schon, Peter. Gib mir einen Moment!» Renner antwortete nicht. «Ich Idiot», murmelte Joël. «Die schmeissen mich raus. Ich gehe einfach immer zu weit und bekomme auf die Schnauze, das …»

«Joël?»

«Ja!»

«Alex und Henry kommen. Was ist los?»

«Nichts. Ich habe es einfach vermasselt … ich wollte den Kerl foto… dann … scheisse, ich hab Durst …»

«Joël!»

«Ja. Hier. Wer ist am Telefon …»

«Ich bin es, Renner, die Zecke, Peter!»

«Kannst mich rausschmeissen, Zecke. Oder Haberer, der Kotzbrocken. Ich kann’s einfach nicht. Ich bin ein mieser Reporter … ein ganz mieser …»

«Joël, beweg dich nicht von der Stelle! Die beiden werden gleich bei dir sein. Rede jetzt einfach mit mir. Hörst du? Was ist passiert? Erzähle es mir. Ruf um Hilfe!» Peter Renner klang plötzlich sehr weit weg.

«Joël!»

«Ich … ich …»

Der Tod - live!

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