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1. Sicheln und Kreuze
ОглавлениеKraeh lehnte am Stamm eines Baumes, dessen Krone ihm notdürftigen Schutz vor dem prasselnden Regen bot. Er war nicht mehr der Ohm des kleinen Dorfes, das er ein für alle Mal hinter sich gelassen hatte, als er zu seiner eigenen Grabstätte aufgebrochen war. Aber der junge Krieger, von dem er erzählt hatte, war er auch nicht mehr – ganz und gar nicht. Seine Glieder schmerzten von dem kurzen Stück Weges, das er die letzten beiden Tage hinter sich gebracht hatte. Am schlimmsten machte ihm sein Rücken zu schaffen. Nach langem Versuchen, eine angenehme Position zu finden, hatte er sich zuletzt damit abfinden müssen, dass seine Wirbelsäule ihm keine Ruhe vor dem Schmerz gönnen wollte. Ein Ächzen entfuhr ihm, wie er Lidunggrimm, das Schwert, das ihm vor so vielen Jahren zum Geschenk gemacht wurde, aus seiner Scheide zog. Er hob die Klinge nahe vors Gesicht. Der blanke Stahl wirkte unverändert jung und selbstbewusst, strotze nur so von Kraft, Zuversicht und Tatendrang – ganz im Gegensatz zu ihm.
Er erinnerte sich an ihren letzten Kampf. Allein dem Schwert und einer guten Portion Glück war es zuzuschreiben, dass er ihn überlebt hatte. Wären die Grabschänder weniger überrascht gewesen und der letzte seiner Gegner nicht im rechten Moment auf dem glitschigen Moos ausgerutscht, hätte er dem jungen Mann kaum mehr etwas entgegenzusetzen gehabt. So war der Narr geradezu in seine Klinge gestolpert und dennoch hatte Kraeh die Kraft gefehlt, ihm einen schnellen Tod zu bereiten. Augenblicke, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, hatte es ihn gekostet, Lidunggrimm frei zu bekommen, um erneut zuzustechen und den Stahl in der Wunde umzudrehen, bis der Mann aufgehört hatte zu strampeln.
Möglicherweise wäre es das Beste gewesen, er hätte sich seinem Schicksal ergeben, hätte der Wahrheit ins Auge geblickt und seinen Platz auf dieser Welt dem Jüngeren geräumt. Doch halt, es gab kein Schicksal – nicht mehr. Er selbst hatte die Menschen mit einem einzigen Streich von den Nornen befreit. Wie dem auch sei, er war am Leben, die anderen hingegen nicht. Sollte das auch weiterhin so bleiben, musste er einen Weg aus dieser Wildnis finden. Er hatte Hunger und die kleine Stichwunde an seinem Oberschenkel, zum Glück die einzige, die er aus dem Kampf davongetragen hatte, wollte einfach nicht verheilen. Er senkte Lidunggrimm und schob seine verdreckte Tunika hoch. Der Dolchstoß hatte beim Herausziehen sein rechtes Beinkleid aufgeschnitten, sodass er nun direkt auf den kleinen Rinnsal Blutes sah, der zwischen den beiden runzligen Hautlappen hervorquoll. Früher hätte er sich darüber keine Sorgen gemacht. Nie hatte er Wundbrand erlitten. In seiner jetzigen Verfassung jedoch bot der Anblick durchaus Grund zur Beunruhigung.
Ein dicker Regentropfen fiel ihm auf die Stirn und er wurde sich hüstelnd seiner durchnässten Stiefel bewusst. Es war erst früher Nachmittag, aber die dunklen Wolken über ihm und seine Erschöpfung gaukelten ihm ein nächtliches Empfinden vor. Er war sich nicht sicher, noch eine Nacht im Freien zu überleben, also sammelte er die letzten Kraftreserven und zwang sich auf die Beine.
Benebelt von Schmerz und Anstrengung schleppte er sich durch das Unterholz. Der Regen wurde gegen Abend schwächer und Kraeh spürte, wie die Verzweiflung sich von seinem leeren Magen aus immer weiter ausbreitete, bis sie seine Kehle erreichte und drohte ihm die Luft abzuschnüren. Bald würde er sich der Erschöpfung hingeben müssen, bald würde er fallen und nicht mehr in der Lage sein aufzustehen. Die Befürchtung bewahrheitete sich. Eine Wurzel, die er unter der Decke toten Laubes übersah, brachte ihn zum Straucheln. Er fiel der Länge nach hin, wirbelte dabei einige Blätter auf und blieb, das Gesicht im Matsch versenkt, liegen. Es schien ihm, als würde die Erde ihn zu sich rufen, und er hatte keinen Willen mehr, sich diesem Ruf zu widersetzen.
Die Zeit verstrich. Der Nieselregen auf seinem Rücken war wie eine Melodie – ein Lied, das ihn auf die andere Seite geleiten würde … Irgendwo vor ihm raschelte es. Er stützte sich auf die Ellbogen und hob den Kopf ein wenig an. Die Ursache des Geräuschs war schnell gefunden. Ein Fuchs war auf Kraehs Bewegung hin stehen geblieben, die Schnauze schnüffelnd nach oben gereckt. Es dauerte eine Weile bis er den Alten wahrnahm, da der Wind seinen Geruch seitlich verwehte. Als sich ihre Blicke schließlich trafen, schien der Räuber nicht sonderlich beeindruckt. Gemächlich tapste er in einem Bogen um den Gestürzten herum weiter. Kraeh sah ihm nach. Plötzlich erkannte er einen schmalen Lichtkegel, keine zwei Steinwürfe von ihm entfernt, der sich aus dem Dunkel der Nacht abhob. Ohne Zweifel ein Feuer. Das war es, was er gebraucht hatte: ein Ziel, für das sich das Weitermühen lohnte. Er kam auf die Beine. Sie waren verkrampft, taten aber ihren Dienst. Taumelnd erreichte er das Lagerfeuer, um das eine Handvoll Gestalten saß, deren Gesichter er nicht erkennen konnte, da sie in Anbetracht der Witterung unter Kapuzen verborgen waren. Seine Hand hob sich zum Gruß, doch die Stimme versagte ihm und er sackte in sich zusammen, ehe er ein Wort herausbrachte.
* * *
Das Erste, was er beim Aufwachen wahrnahm, war die Taubheit seines rechten Beines. Sie hatte den Schmerz abgelöst. Panisch richtete er sich auf und ließ sich sogleich wieder sinken, erleichtert durch die Tatsache, dass sein Bein noch war, wo es hingehörte.
»Ich habe die Wunde gereinigt«, ertönte eine Frauenstimme neben ihm.
Kraeh verrenkte sich den Kopf bei dem Unterfangen, seine Retterin in den Blick zu bekommen. Alles, was er sah, war ein wenig anmutendes Profil, aus dem eine zu lange Nase herausstach, flackernd beleuchtet von dem Schein eines Feuers. Dank murmelnd, ließ er seinen Nacken knacken, indem er das Gesicht dem verhangenen Himmel zuwandte.
Er gab sich den Anschein zu dösen, während er die Wärme des Feuers aufsog und dem Gespräch lauschte, das die fünf, in der Gegend offenkundig Fremden, führten. Es dreht sich um ihn. Die unansehnliche Frau, die sich ihm in seiner Ohnmacht angenommen hatte, bestand darauf, von ihrem bisherigen Plan abzurücken und ihn zumindest in ein unweit gelegenes Dorf zu schaffen, wo man sich um ihn kümmern könnte. Zunächst widersprach ihr nur einer der vier Männer. Sein Akzent verriet, dass er nicht aus den Rheinlanden stammte. Seine Stimme war tief und besonnen, doch lag unverkennbar auch eine Spur Beunruhigung darin.
»Heilige Isabel«, sagte der Mann gedämpft, »Ihr wisst, was Pater Derivell gesagt hat: ›Keine Umwege, keine überflüssige Rast, begebt euch auf schnellstem Wege nach Ulfenstein, wo man euch bereits erwartet.‹ Ihr dürft Euer Leben nicht leichtfertig aufs Spiel setzten«, fügte er noch mahnend hinzu.
»Und was schlagt Ihr vor, Arduhl? Den Greis sich selbst und damit dem sicheren Tod zu überlassen?«, gab Isabel vorwurfsvoll zurück. »Was für eine Heilige wäre ich, wenn ich das täte?«
»Aber die Firsen«, lenkte nun einer der anderen ein. »Niemand weiß, wo die Ungläubigen als Nächstes zuschlagen.«
So ging es noch eine Weile hin und her, aber die Frau hatte ihre Entscheidung gefällt und Arduhl und seinem Fürsprecher gelang es nicht, sie davon abzubringen.
Kraeh hing derweil seinen eigenen Gedanken nach. Die Firsen, so weit im Süden? Wenn der Arm der wilden Stämme mittlerweile so weit reichte, musste Brisak stark geschwächt sein. Ihm war natürlich bewusst, wie sehr sich die Verhältnisse in der Zeit seiner Abgeschiedenheit verändert haben konnten, doch der Gedanke zu Ende gedacht versetzte ihm einen Stich. Was war wohl aus Erkentrud, Sedain und Siebenstreich geworden? Saß Heikhe noch auf dem Thron? Falls ja, brauchte sie offensichtlich seine Hilfe. Er verbesserte sich sogleich: Sie bräuchte Hilfe, ja, jedoch nicht von einem Alten wie ihm, der nicht einmal alleine aus diesem Wald gefunden hätte. Mitten in seinen Überlegungen wurde er vom Schlaf übermannt.
* * *
Kraeh erwachte, noch bevor die letzte Wache, augenscheinlich der Fremdländer, die anderen weckte. Noch so ein Nachteil des Älterwerdens, ärgerte er sich im Stillen; man hatte eigentlich nichts zu tun, außer zu schlafen, und nicht einmal das wurde einem gewährt. Es war selten, dass er über das Morgengrauen hinaus durchschlafen konnte. Heute musste er sich eingestehen, während er aufstand und zum Wasserlassen einige Schritte vom Feuerplatz wegging, lag es wohl vor allem an seinem Magen, der sich anfühlte, als sei er auf die Größe einer Nuss geschrumpft. Zurück bei der Wolldecke, die man ihm in der Nacht offenbar übergeworfen hatte, meldete sich sein Bauch so laut zu Wort, dass der Mann, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, ohne ein Wort einen halben Laib Brot und einen ledernen Wasserschlauch hinwarf.
Gierig gruben sich Kraehs Zähne in die harte Rinde. Er biss ein Stück mit seinen intakten Schneidezähnen heraus, das er dann im Mund hin und her bewegte, bis es vom Speichel vollgesogen von den wenigen verbliebenen Backenzähnen zu kauen war. Sein Hunger war enorm, doch da seine Essprozedur langwierig war, nutze er die Zeit, den Mann, von dem ihn nur das heruntergebrannte Feuer trennte, einer genaueren Musterung zu unterziehen. Seine Hand, die von ebenso hellbrauner Farbe wie sein ebenmäßiges Gesicht war, lag wie zufällig auf dem Griff eines Schwertes, das in einer gebogenen Scheide steckte. Er war gewiss nicht älter als dreißig Sommer, seine Haltung für die frühe Tageszeit auffällig aufrecht, die Wachsamkeit seiner dunklen Augen betont durch die dichten Augenbrauen, welche sich auf dem Nasenbein vereinten.
In das sich unangenehm ausdehnende Schweigen hinein fragte Kraeh ihn, zwischen zwei Schlucken aus dem Wasserschlauch, nach seiner Herkunft.
Sein Gegenüber schien zu überlegen, ob er überhaupt antworten solle, kam dann wohl aber zu dem Schluss, es könne nicht schaden, ein wenig mit dem Alten zu plaudern.
»Morak. Meine Geschwister und ich wuchsen in den Bergen von Morak auf.«
Irgendwo hatte Kraeh den Namen schon einmal gehört, war sich jedoch nicht sicher und fragte deshalb nach.
Er erfuhr in knappen Sätzen, dass es sich um ein Gebiet weit, weit im Süden handele. Eine Meerenge verbinde das kleine Reich mit dem Festland Eiderits, erklärte Arduhl in einer Weise, die nicht den geringsten Zweifel an seinem Unmut über diese geografische Lage ließ.
Da Kraeh ihn nicht beleidigen wollte, unterließ er es nachzufragen, ob dieser Landstrich nicht zu den Firsen gerechnet wurde. Er wäre auch gar nicht dazu gekommen, da Arduhl sich nun seinerseits nach Kraehs Person erkundigte.
»Du hast bisher nicht einmal deinen Namen genannt.« Die Stimme des Mannes machte keinen Hehl aus seinem Argwohn.
»Meine Eltern nannten mich Henfir«, log Kraeh und dachte dabei an seinen Freund, den Bogenschützen, der in der letzten Schlacht gegen Niedswar gefallen war.
»Und du bist Soldat?«, hakte der Fremdling mit einem Seitenblick auf Kraehs Hüfte nach, an der Lidunggrimm hing. Unwillkürlich zog Kraeh seinen immer noch feuchten Mantel über die wertvolle Klinge. Die Geste schien das Misstrauen seines Gegenübers noch zu steigern.
»Ich war es zumindest.«
Die Miene Arduhls war lauernd, vermutlich, dachte Kraeh nun, hatte er das Gespräch nur deshalb begonnen, um auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen. »Sage mir, Henfir, was sucht ein abgedankter Soldat alleine in diesem Wald? Und wie hast du dir eigentlich diese Wunde zugezogen?« Er deutete auf Kraehs Bein.
Schon flogen seine Gedanken. Er hatte sich gerade eine Geschichte zurechtgelegt, da erwachte gähnend Isabel. Und in offensichtlich beiderseitigem Einverständnis, von dem Kraeh nicht wusste, woher es rührte, ließen sie die Sache auf sich beruhen. Eines war ihm klar, er war nicht der Einzige, der etwas zu verbergen hatte. Musste er seine Identität überhaupt verheimlichen, fragte er sich, während er dabei zusah, wie die anderen den Lagerplatz räumten. Er konnte sich nicht einmal sicher sein, ob man sich seiner überhaupt erinnerte, und falls ja, ob es ihm zum Nachteil oder zum Vorteil gereichte, würde er sich mit seinem echten Namen vorstellen. Genau darin bestand die missliche Lage, er wusste generell zu wenig. Entschieden nahm er sich vor, das zu ändern.
* * *
Nachdem Isabel den Aufbruch angeordnet hatte und die kleine Truppe sich auf einem schmalen Trampelpfad befand, wählte Kraeh denjenigen mit der einfältigsten Miene aus, um mit diesem ein Gespräch zu beginnen. Der große, breitschultrige Mann kam eindeutig aus einer ländlichen Gegend. Seine Aussprache jeden Wortes, das mehr als drei Silben hatte, war holprig, sein Gemüt war jedoch ausgeglichen und seine schlichte Art gefiel Kraeh. Zuerst plauderten sie über das Wetter, das auch an diesem Tag nicht freundlicher werden wollte. Lubbo, so der Name des sanften Hünen, trug ein Kettenhemd und beklagte, es zeige schon Rostspuren, obwohl er es frisch erworben habe. Kraeh empfahl ihm, es so bald als möglich mit körniger Erde trocken zu reiben. Während sie so sprachen, ging Kraeh noch langsamer, als es seine alten Beine und die Wunde vorgaben. Sie waren ein gutes Stück zurückgefallen und außer Hörweite der anderen vier, als Kraeh sich beiläufig erkundigte, inwiefern ihre Führerin als Heilige zu gelten habe.
Lubbo erregte die Frage sichtlich, nicht wegen ihres Inhalts, sondern vielmehr deshalb, weil er dem Wunder die angemessene Plastik verleihen wollte und er sich seiner Ausdrucksschwäche allzu bewusst schien. Nach einer Weile des Nachdenkens, bei dem ihm mehr als einmal unwillkürlich ein Wortfetzen herausrutschte, gab er es auf. Wie könnte er, ein Bauernsohn, jemals das Wirken Gottes auf Erden gebührend darstellen? Genau das sagte er dann auch. Kraeh nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, welchen Gott er meinte, und Lubbo begann zu erzählen. Es war die Geschichte einer Armenspeisung. Und so begeistert sie auch vorgetragen wurde, Kraeh fand sie langweilig, was nicht an Lubbo lag. Auch wenn ein Skalde sie begleitet von einer Laute vorgetragen hätte, wäre sie ihm schnöde erschienen. Kraeh hatte schon ganz andere Dinge gesehen, ließ sich jedoch nichts anmerken. Er gab sich neugierig und belohnte den Erzähler an geeigneten Stellen mit einem »Oho!« oder »Tatsächlich?«. Das Einzige, was Kraehs Aufmerksamkeit weckte und auch von Lubbo als Besonderheit hervorgehoben wurde, war, dass die Kirche, entgegen ihrer üblichen Bräuche, Isabel bereits zu Lebzeiten zur Heiligen erklärt hatte.
»Normalerweise«, betonte Lubbo, wobei er hektisch eine kleine Spinne aus seinem schwarzen Haarschopf fingerte, deren Netz er, abgelenkt von seiner eigenen Geschichte, unabsichtlich zerstört hatte, »normalerweise, wird man nämlich nur zum Heiligen, wenn man schon tot ist. Sie ist also was ganz Besonderes.«
Aye, besonders hässlich, stimmte Kraeh ihm stumm zu. So kam er nicht weiter. Sein Gesprächspartner führte ebenjene Dinge nicht aus, die ihn interessierten, da er sie für selbstverständlich hielt. Direkt fragen konnte er aber auch nicht. Eine solche Unwissenheit hätte ihn verdächtig gemacht, zumal all seine Weggefährten dieser Kirche anzugehören schienen. Daher erdachte er sich einen neuen Köder. »Was hat es mit diesem Arduhl auf sich? Ist auch er ein Heiliger?«
Lubbo biss an. »Gott bewahre, nein! Er ist der Sohn eines Häretikers. Und auch er selbst ist ein Sihhila.« Seine rechte Hand machte ein Zeichen vor der Brust, das Kraeh von den Eingottgläubigen aus der alten Zeit kannte.
»Diese verdammten Sihhilas«, fluchte Kraeh ins Blaue. »Wieso gibt Isabel sich mit so einem ab?«
Der Zug war riskant gewesen und er atmete innerlich auf, als der Hüne zustimmend nickte. »Arduhl ist dem Kaiser als Geisel gegeben worden, damit der Friede an den südlichen Grenzen eingehalten wird.«
Kraeh bemerkte, dass der andere nun von Dingen sprach, die er selbst nicht so ganz verstand und die er irgendwann auf dem langen Weg aufgeschnappt haben musste, den sie, nach Arduhls sonnenverbrannter Hautfarbe und seinen vagen Andeutungen der letzten Nacht zu schließen, hinter sich hatten.
Eine Biegung des matschigen Pfades hatte die vier vor ihnen verschluckt. In das leise, aber allgegenwärtige Plätschern, welches der Regen erzeugte, sagte der Hüne, mehr, damit etwas gesprochen wurde, als in der Absicht, informativ zu sein: »Isabel hat sich an den Bischopos von Stienbrook gewendet und vor ihm beteuert, Arduhls Seele sei noch nicht verloren. Er zeige Reue, hat sie gesagt. Und nach einigem Flehen hat der Bischopos schließlich eingewilligt, dass Arduhl sich ihrem Bußgang anschließt. Nicht weit von hier im äußersten Zipfel des großen Reiches wurde nämlich ein Kloster gegründet. Genau der richtige Ort, sagt Isabel immer, um allein mit Gott ins Gespräch zu kommen.«
»Langsam«, bat Kraeh, dem vieles von dem Gesagten unklar blieb. »Stienbrook?«
»Ja, die Stadt aus Stein. Hast du nie von ihr gehört?«
Kraeh überging die Frage, allmählich gelang es ihm, sich einen Reim auf das Ganze zu machen.
»Und sie hat diesen Bischopos dazu überredet, Arduhl mitnehmen zu dürfen?«
Erst jetzt fiel Lubbo auf, etwas zu redselig gewesen zu sein. Er hatte Geheimnisse ausgeplaudert, von denen er vermutlich gar nicht hätte erfahren sollen, die aber bei der Dauer der langen Reise schlecht geheim zu halten gewesen sein mussten. Kraeh schmunzelte. Es sah ganz so aus, als wäre der misstrauische, dunkle Mann eine Liebesbeziehung mit der einflussreichsten Frau eingegangen, um möglichst weit weg von den Feinden seiner Sippe zu gelangen. Der Plan schien aufgegangen. Ob er dafür wohl die Schabracke ins Bett hatte begleiten müssen?
»Tja. Ich jedenfalls finde ihn ganz in Ordnung«, faselte der Hüne in die für ihn peinlich anwachsende Stille hinein und fühlte sich recht listig ob solch eines Überganges. »Für einen Sihhila, meine ich.«
Du alter Narr!, schalt sich Kraeh. Viel zu spät hatte er die Anwesenheit des Dritten bemerkt, der ihnen ohne Zweifel schon seit Längerem abseits des Pfades, verborgen hinter den Büschen, auf Schritt und Tritt gefolgt war.
Nun, da er bemerkt worden war, sagte Arduhl kalt: »Danke Lubbo, sehr freundlich von dir«, schlüpfte durch das rotbraune Laub und gesellte sich ohne ein weiteres Wort zu ihnen.
* * *
Am frühen Nachmittag riss die Wolkendecke auf. Kraeh blieb stehen und krempelte die Ärmel seiner Tunika hoch. Die Sonne auf der Haut tat gut, auch wenn sie kaum wärmte. Lubbo und Arduhl, Isabel und die beiden anderen, zu denen sie mittlerweile aufgeschlossen hatten, taten es ihm gleich. Sie beschlossen, eine Rast einzulegen. Wie sie so schweigend dasaßen und vesperten, kam Kraeh sich etwas erbärmlich vor. Er war der kleinen Reisegesellschaft der sprichwörtliche Klotz am Bein. Auch wenn Lubbo ihn kaum noch stützen musste, drosselte sein schwerer Gang doch die Geschwindigkeit des Vorankommens. Überhaupt unternahmen sie diesen Umweg bloß seinetwegen. Und wie hatte er für die Begleitung, die Versorgung seiner Wunde, den vollen Bauch und die warme Schlafstätte gedankt? Mit Aushorchung und Einmischung in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Er konnte daher den Ärger in Arduhls Miene gut nachempfinden.
Am Abend erreichten sie eine Schlucht. Kraehs Blick folgte dem engen Weg, der sich gefährlich nahe am Rand nach unten ins Tal schlängelte, wo vor Urzeiten einmal ein Fluss geflossen sein musste. Von oben sah man, dass Steinrutsche den Pfad teilweise mit großen Anhäufungen von Geröll überdeckt hatten. Diese Wegstrecke war für ihn ohne Hilfestellung unmöglich zu bewältigen. Arduhl kam offenbar zum selben Schluss und pfiff mit einem abschätzigen Blick auf den Alten geräuschvoll durch die Zähne. Sie verschoben die Kletterei, welche in der Dunkelheit halsbrecherisch gewesen wäre, auf den nächsten Tag und richteten ihr Lager ein.
Als das Feuer prasselte, setzte Kraeh sich an den Abhang, von wo aus er der Sonne dabei zusah, wie sie langsam in einem prächtigen Farbenspiel hinter den hohen Bergen im Westen verschwand. Seine Gedanken spannten den Bogen zu jener Zeit, als er diese Schlucht, welche Rheinebene und Hochgebirge voneinander schied, das letzte Mal in die Gegenrichtung durchwandert hatte. Damals war der Weg noch befestigt gewesen. Er war vorangeritten, gefolgt von den Familien, welche sich entschieden hatten, mit ihm dem weltlichen Treiben zu entfliehen. Isabel kam zu ihm, um einen Blick auf die Wunde zu werfen. Trotz des heftigen Regens am Vormittag war sie zufrieden, die Verbände waren kaum aufgeweicht. Beinahe zärtlich schob sie sein Beinkleid wieder hoch und richtete ihre Augen gleich Kraeh auf die roten und violetten Schlieren, welche an den weit entfernten, schneebedeckten Gipfeln festzukleben schienen.
»Ich danke dir«, sagte Kraeh und meinte es ehrlich.
Sie schwieg.
Weiter unten im Tal wurden winzige Lichter entzündet. Ein helleres Glimmen, meinte der ehemalige Krieger, könnte Brisak sein, obwohl es durch den Dunst, der die Abenddämmerung um den Rhein so oft begleitete, verwischt wurde.
Kurz überlegte er, die hässliche Frau vor ihrem vermeintlichen Liebhaber zu warnen, entschied sich aber kurzerhand dagegen. Es war nicht seine Angelegenheit. Was wusste er schon von diesem Arduhl? Wollte er selbst überhaupt wieder am Leben teilnehmen? Zu welchem Zweck denn? Irgendwie schien es, als würde ihm schon wieder ein Weg aufgenötigt werden. Eine Stimme tief in seinem Inneren sagte ihm, dass er gebraucht werde. Der Ruf einer Eule weckte alte Erinnerungen. Lousana, die starke Kriegerin mit den fremdländischen Zügen, die seine Freundin gewesen war, kam ihm in den Sinn. Von ihrem Abbild in seinem Kopf war es nur noch ein kleiner Sprung zu jener Frau, der vor so langer Zeit die ganze Glut seines Herzens gehört hatte: Erkentrud. Weshalb um alles in der Welt war er damals von ihrer Seite gewichen? Sie war schön, hart und mächtig gewesen, alles, was ein junger Krieger sich nur wünschen konnte. Aber halt! Im Nachhinein verzerrte man die Dinge leicht zu Idealen, die so niemals der Wirklichkeit entsprochen haben. Die Königin der Druden wollte ihn mit Heikhe, seinem Mündel, verheiraten. Ihrer beider Leidenschaft füreinander war nach dem Krieg ebenso schnell erloschen, wie der Stein, den er gerade über die Klippe warf, in das Tal raste. Aber plötzlich wusste er, was zu tun war. Weshalb hatte er nicht schon früher daran gedacht? Das Becken tief unter Erkenheim! Es hatte ihn schon einmal aus dem Reich der Toten zurückgeholt. Sicher würde es ihm auch jetzt wieder helfen. Das war es! Sein Weg würde ihn nach Erkenheim führen.
* * *
Den nächsten Tag begannen sie mit dem Abstieg. Er erwies sich zum Glück als leichter, als Kraeh es am vorigen Abend befürchtet hatte. Teilweise standen die alten Stützstreben noch. Wo es ging, balancierten sie vorsichtig über morsche Balken, die beunruhigende Geräusche von sich gaben, ihr Gewicht aber trugen. An den Stellen, die von Steinlawinen überschüttet worden waren und meist Stege und Geländer mit sich in die Tiefe gerissen hatten, ging Arduhl voran, prüfte die möglichen Gefahren und gab dann den anderen den Weg frei. Isabel ließ sich ebenso wie Kraeh auf besonders tückischem Untergrund von Lubbo helfen. Wenn er gerade mal nicht auf seine Schritte achten musste, fragte Kraeh sich, wie die Tannen, die vereinzelt aus dem Hang wuchsen, es schafften, hier zu überleben. Zwischen all dem Granit machte es den Anschein, als hätten sie sich gerade so viel Erde an einem kleinen Vorsprung oder einer Felsenmulde mitgenommen, dass ihre Wurzeln Halt fanden.
Ein scharfer Wind blies ihnen in den Rücken und machte ihnen zusätzlich zu schaffen, schließlich jedoch erreichten sie zwar ausgelaugt, aber unversehrt eine schmale Holzbrücke am Fuß des Hanges, das letzte unversehrte Überbleibsel des alten Pfades. Allesamt atmeten sie auf, als sie hinter der Brücke anhielten und zurücksahen auf das, was sie geschafft hatten. Isabel sandte ein Dankesgebet gen Himmel.
»Es gibt noch eine andre Route«, fiel Kraeh ein, dem die ängstlichen Blicke Lubbos unangenehm waren. Er wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass am Ende noch jemand abstürzte, wenn die Reisegesellschaft denselben Weg zurücknehmen sollte, nachdem sie ihn abgeliefert hatten. Dieser Weg barg ein zu großes Wagnis, viel zu groß, bloß um seine alte, stinkende Haut aus dem Wald zu schaffen.
Isabel wandte sich ihm zu.
»Es ist wahr. Sie führt dort«, er zeigte die Richtung mit dem Finger an, »an der Steilwand entlang. Wenn ihr dem Gebirgsverlauf drei Tage westlich folgt, gelangt ihr an einen Pass der wesentlich leichter zu besteigen ist.«
Arduhls Augen verengten sich. »Drei Tage? Und wenn wir dort ankommen, kannst du beschwören, dass weder Firsen noch Räuber auf uns warten und Wegzoll verlangen?«
Kraeh sagte nichts. Was hätte er auch dagegen halten sollen? Natürlich konnte er nichts dergleichen versprechen. Außerdem, war Arduhl nicht selbst ein Wilder? Aber das bedeutete natürlich nichts. Die Firsen waren untereinander zerstritten und kein Stamm erkannte die Grenzen des anderen an.
»Noch mehr kluge Einfälle, alter Mann? Oder können wir weitergehen?«, fragte Arduhl wütend.
»Er hat es nur gut gemeint«, wies Isabel ihn zurecht und sagte dann beschwichtigend zu Kraeh: »Wir werden über deinen Rat nachdenken, Henfir.«
Der dunkelhäutige Krieger schüttelte den Kopf und ging eilig voran. Kraeh trat an seine Seite, bemüht, mit ihm Schritt zu halten. »Sie ist zu leichtgläubig«, zischte Arduhl. Er erlaubte sich nur deshalb, seiner Respektlosigkeit Luft zu machen, da er wohl davon ausging, den greisen Unruhestifter bald für immer los zu sein.
»Du musst es ja wissen«, raunzte Kraeh zurück und verlangsamte seine Gangart, bis er wieder bei den anderen war.
So gingen sie den ganzen restlichen Tag das überwucherte Tal hinab. Arduhl lief als Späher voraus und ließ die übrigen fünf an Weggabelungen zu sich aufschließen, wenn er sicher war, dass keine Gefahr drohte. Die beiden anderen Männer, der eine hochgewachsen und schlaksig, der andere feist und untersetzt, waren ebenso gottesfürchtig wie langweilig. Lieber noch unterhielt Kraeh sich mit dem einfältigen Lubbo als mit diesen demütigen, stets an den Lippen Isabels hängenden Windbeuteln. Die Heilige selbst war schweigsam und stellte zumeist ein entrücktes Grinsen zur Schau, das in einem fort zu sagen schien: ›Seht, wie wunderbar die gesamte Schöpfung doch ist!‹ Der alte Krieger wusste damit nichts anzufangen und so tauschte er Belanglosigkeiten mit Lubbo aus oder sann im Stillen.
Die Nacht war bereits angebrochen, als sie brachliegende Äcker und kurz darauf die ersten Häuser erblickten.
* * *
Isabel hatte wieder die Führung übernommen. Vor ihnen lag eine größere Siedlung, die Kraeh nicht kannte. Zielbewusst steuerte die füllige Frau auf eine Aussparung in der mannshohen Palisade zu. Sie grüßte die beiden wachhabenden Soldaten, die aufgrund ihres gelben Wappenrocks über dem Brustpanzer auch bei der herrschenden Dunkelheit ins Auge stachen. Sie kannten die Heilige und ihre Gefährten, und nachdem sie den als Henfir vorgestellten Alten mit dem langen weißen Bart kurz gemustert und ihn offensichtlich als ungefährlich eingestuft hatten, gaben sie den Weg frei. Einen Steinwurf weiter, noch außerhalb des Stadtkerns, stand ein mehrstöckiges Gasthaus. Sie betraten es und fanden sich in einem bürgerlichen Schankraum wieder. Auch hier waren Isabel und die Ihren schon eingekehrt. Der Wirt löste sich von dem größten der runden Tische im Raum, an dem er mit seinen Gästen getrunken hatte, kam auf sie zu und bot ihnen Zimmer für die Nacht an. Er wirkte leicht enttäuscht, da Arduhl darauf bestand, sofort zu bezahlen.
»Im Morgengrauen werden wir aufbrechen«, meinte Arduhl zerknirscht und leiser an Isabel gewandt: »Wir füllen unsere Vorräte auf und machen uns dann so schnell wie möglich auf den Weg.«
Sie nickte, fischte die berechneten Silber- und Kupferstücke aus einem Beutel, den sie unter ihrem abgetragenen Gewand hervorgeholt hatte, und drückte sie dem schlaksigen Wirt in die offene Hand. Nach Abwicklung des Geschäftes setzte er sich wieder zu seinen Leuten.
Isabel wünschte Kraeh Gottes Segen, ehe sie die Wendeltreppe betrat, die hoch zu den Schlafräumen führte. Die Übrigen folgten ihr. Als Letzter kam Lubbo. Auch er wünschte dem Alten alles Gute und meinte, vielleicht sehe man sich ja irgendwann wieder. Kraeh bedankte sich bei ihm und blieb schließlich allein zurück. Er war zwar erschöpft, wollte aber nicht gleich zu Bett gehen. Lieber hätte er sich an einen der freien Tische gesetzt und etwas getrunken. Wie aber sollte er das anstellen? Isabel hatte zwar, großzügig, wie sie war, seine Unterkunft bezahlt, offensichtlich aber nicht die Möglichkeit erwogen, dass einer ohne ein einziges Kupfer in der Tasche unterwegs sein könne. Na ja, dachte er und verkniff sich ein Grinsen, sie war nicht seine Mutter und hatte bereits mehr für ihn getan, als irgendjemand hätte erhoffen können. Er schalt sich einen närrischen, alten Tor, dass er versäumt hatte, die Leichen der Grabschänder zu plündern. Es war ihm in Anbetracht der Umstände schlicht nicht in den Sinn gekommen.
Letztlich beschloss er leichthin, seinen leeren, genau genommen nicht einmal vorhandenen Geldsack zu ignorieren, setzte sich an einen verwaisten Tisch und bestellte, als der Wirt nach geraumer Zeit zu ihm kam, einen Krug Ale. Der schlaksige Mann mit dem kurzen Haarschnitt war anscheinend daran gewöhnt, dass seine Gäste anschreiben ließen. »Trink, iss und fühl dich wohl«, sagte er gutmütig. Kraeh vermutete den Grund seiner Großzügigkeit in dem üppigen Trinkgeld, das er sicherlich von Isabel erhalten hatte, und wahrscheinlich würde dieselbe enden, sobald sie abgereist war. Dennoch folgte er der Einladung. Nach dem Ale bestellte er einen weiteren Krug und eine Schale Eintopf, dessen aufgebrühter Geruch bald den Schankraum erfüllte.
Er schob sich gerade den zweiten Löffel in den Mund, als Arduhl sich ihm gegenüber am Tisch niederließ. Kraeh hatte ihn nicht die Treppe herunterkommen sehen, schob diese Tatsache allerdings auf die Trübheit seiner alten Augen. Wortlos lenkte Arduhl die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich, zeigte auf den Eintopf und hatte wenig später auch eine Schale vor sich stehen.
Schweigend schaufelten sie das mittelmäßige Sammelsurium an Kalbsfleisch, verkochtem Kohl, zerstoßenen Kartoffeln und allerlei anderen Zutaten, die in dem bräunlichen Durcheinander untergingen, in sich hinein.
Sie hatten gerade zu Ende gegessen, da schwang heftig die Eingangstür auf. Ein junger Mann, nicht älter als siebzehn Sommer, in der ärmlichen Kleidung eines Stallburschen, stand auf der Schwelle. Sein Gesicht zeigte einen entsetzten Ausdruck, einen Schrecken, den er gleich in Worte fassen sollte.
»Es herrscht Krieg!«
Alle Gespräche verstummten.
»Was sagst du da, Junge?«, fand der Wirt als Erster die Fassung wieder, während er auf ihn zuging und ihn unruhig dazu bewegte, sich erst einmal zu setzen und alles in Ruhe zu berichten.
Das Dutzend verstreuter Gäste, das nicht am Haupttisch saß, rückte näher. Einige trugen ihren Stuhl heran, andere waren aufgesprungen und bildeten nun eine Traube um den Überbringer jener unfassbaren Nachricht. Nur Kraeh und Arduhl blieben sitzen. Die Aufregung ließ alle so laut sprechen, dass sie auch so das meiste mitbekamen. Von den stürmischen Stimmen setzte die vernünftigste – die eines, seiner Kleidung nach zu urteilen, in die Jahre gekommenen Kaufmannes – sich durch, die bat, der Bursche möge von Anfang an erzählen.
Er sei gerade beim Brunnen gewesen, Wasser für seine kranke Schwester zu holen, als ein Bote zu den Wachen gerannt kam, die dort immer stehen. Der Bote habe geflüstert, damit niemand mitbekomme, was er zu sagen habe, doch in der Aufregung haben sie ihn schlicht übersehen. »Die Sihhila sind in die Mittelreiche eingefallen!«, rief der Stallbursche aus. »Rösser, Kriegswagen, tausende von Soldaten, eine riesige Armee zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her! Jede Stadt, die sich nicht beugt, wird dem Erdboden gleichgemacht!«
»Beruhige dich«, meinte der Wirt. »Das alles ist etliche Tagesreisen entfernt. Wahrscheinlich hat der Kaiser den Vormarsch bereits aufgehalten …«
»Der Bote sagte noch etwas anderes«, fiel ihm der Junge ins Wort. »Die Zwillinge sind hierher unterwegs. Der Kaiser befürchtet, die bisher friedlichen Sihhila im Westen könnten sich dem Angriff anschließen. Und auch die Firsenstämme könnten sich unsere Schwäche zunutze machen.«
Wieder bemühte sich der Wirt, die Stimmung abzukühlen, doch er klang weniger zuversichtlich als zuvor. »Die Zwillinge sind schon lange in der Gegend. Soweit ich weiß, suchen sie nach einer bestimmten Person. Das hat nichts mit den anderen Ereignissen zu tun.« Sein Ton wurde brüchig: »Aber sag, kommen sie wirklich hierher? In unsere Stadt?«
Der Junge bejahte, so habe er den Boten verstanden.
Wilde Spekulationen folgten. Einige erhoben sich eilends, um das Gehörte ihren Freunden und Bekannten mitzuteilen. Die Neuigkeiten würden sich wie ein Lauffeuer ausbreiten und, sofern der Krieg selbst es nicht tat, Panik und Entsetzen in die Herzen der Menschen pflanzen. Chaos und Anarchie würden ihre dunkle Saat aufgehen lassen, ehe es die Schwerter taten.
Kraeh, der mit einem spitzen Knochenstück, das er in dem Eintopf gefunden hatte, Fleischreste aus seinen klaffenden Zahnzwischenräumen pulte, fragte sein Gegenüber, was es mit jenen Zwillingen, vor denen sich alle so fürchteten, auf sich habe.
Als Arduhl antwortete, hatte Kraeh einmal mehr das Gefühl, etwas verbinde sie, vielleicht einfach nur die Außenseiterrolle, die sie beide einnahmen. Zwar gab es noch andere Männer im Schankraum, deren Haut dunkel war, aber keiner wirkte dazu noch so edel und stolz wie er.
»Sie sind der rechte Arm des Kaisers, bekannt für ihren bedingungslosen Fanatismus und die damit einhergehende Grausamkeit. Der Wirt hat recht. Sie treiben sich schon seit einiger Zeit in der Gegend herum. Hast du von der Kriegskrähe gehört?«
»Nein«, sagte Kraeh, womöglich etwas zu voreilig, da sein Gegenüber ihn daraufhin mit einem stechenden Blick beäugte, ehe er fortfuhr.
»Sie ist eine Legende, ein Krieger aus der alten Zeit. Weil er gottlos war, bemühte sich die Kirche, ihn vergessen zu machen. Sie war einigermaßen erfolgreich damit. Niemand nennt mehr offen diesen Namen. Jene aber, welche die Gräuel der Kreuzler kennenlernten, tuscheln abends an den Feuern. Man sagt die Krähe werde zurückkommen und das Land vom Joch der Kruki befreien.«
»Kruki?«, hakte Kraeh nach.
»So nennen sich die Anhänger des Kreuzes selbst, in Abgrenzung zu den Sihhila, die den wahren Gott verehren.« Seine Worte waren bei dieser offenkundigen Lästerung so leise geworden, dass Kraeh sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen.
»Ich weiß nicht, wer du bist«, meinte Arduhl dann ein klein wenig lauter, »aber du bist nicht der, für den du dich ausgibst.«
»Du scheinst mir aber auch nicht gerade überrascht über den Ausbruch des Krieges«, konterte Kraeh.
Arduhls Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. »Wohl besser, wir gehen jetzt schlafen«, bedeutete er und wischte mit einer beiläufigen Handbewegung die letzten Sätze weg. »Mein Gefühl sagt mir, dass wir schon bald all unsere Kräfte brauchen werden.«
Das taten sie dann auch. Aber es sollte keine lange Nacht mehr werden.
* * *
Ein Geräusch hatte Kraeh geweckt. Er setzte sich im Bett seines beengten Zimmers auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, nur fahles Dämmerlicht fiel durch das kleine Fenster über dem Kopfende des Bettes. Da war es wieder: ein Poltern, gefolgt von lauten Schritten, wie sie typisch für eisenverstärkte Stiefel sind. Eine Frauenstimme ertönte. »Ihr da, macht das ihr fortkommt!« Kraeh wunderte sich über die Deutlichkeit, mit der er die Stimme wahrnahm.
Er streifte das Laken ab und stieg aus dem Bett. Mit dem Ohr auf dem Dielenboden lauschte er, doch es war nichts mehr zu hören, abgesehen von weiteren Schritten, die sich nun deutlich vernehmbar die Treppe zu den Gästezimmern hochbewegten. Er begab sich in die Hocke. Durch seine Knie fuhr ein bitterer Schmerz. Er biss die Zähne zusammen und zog behutsam Lidunggrimm aus der Scheide. Geschrei auf dem Flur. Die verschlafene Stimme Isabels, deren Protestrufe in einer schallenden Ohrfeige erstarben. Zweimal schlug Stahl aufeinander, dann war es still, bis die Schritte, diesmal eindeutig mehr als zuvor, sich wieder nach unten entfernten. Kraeh atmete auf, verfluchte aber zugleich die Schwäche seines gealterten Schwertarmes.
Kurz blendete etwas seine Augen und er bemerkte den schmalen Riss im Boden, durch den das Licht gedrungen war. Umständlich legte er sich flach auf den Boden und linste direkt in den Schankraum unter sich. Der Mann, der die Öllampe geschwenkt hatte, trat beiseite, als zwei Gestalten, jene, die gerade die Treppe hinabgegangen sein mussten, in Kraehs Blickfeld kamen. Sie ähnelten sich auf groteske Weise. Wie der mit der Öllampe trugen sie eine weiße Tunika. Im Gegensatz zu ihm war ihr Kettenhemd und der auf Hochglanz polierte Harnisch darüber perfekt an ihre Statur angepasst. Das Rüstzeug der weiblichen Gestalt vermittelte den Eindruck, sie stünde nackt unter ihm; die metallenen Brüste waren formvollendet, bis auf die Stacheln, welche die Brustwarzen ersetzten. Ihre behandschuhte Linke ruhte auf einer nietenverstärkten Peitsche, welche in ihrem Gürtel steckte. Selbst unter dem spitz zulaufenden Helm und dem Visier, das ihr Gesicht zur Hälfte bedeckte, war die Unerbittlichkeit ihres Wesens deutlich zu erkennen.
Das Ebenbild dieser scharfkantigen Züge fand sich unter dem von Rosshaar gekrönten Helm ihres Bruders, durch dessen Aussparung an der Augenpartie, ein Blick purer Boshaftigkeit aufflammte, als er den Kopf leicht nach oben bewegte. Für einen Augenblick blieb Kraehs Herz stehen. Hatte ihn der männliche Zwilling bemerkt? Ein Teil von ihm wünschte es sich sogar. Zu Kampf und Tod gezwungen zu werden, wäre vielleicht besser gewesen, als dem, was nun folgen würde, tatenlos zuzusehen. Die grünen Augen des Zwillings hatten sich aber wieder abgewandt und blickten nun nach unten auf eine Person außerhalb von Kraehs Blickfeld.
»Ich frage nur ein einziges Mal«, drohte er. »Wo ist Arduhl ap Tulaf?«
Isabel keuchte, sie wisse es nicht, er müsse in der Nacht verschwunden sein.
Ihrer Stimme war anzuhören, dass sie bereits geschlagen worden war, und doch schwang in ihrer Antwort noch ein Körnchen Entrüstung mit, die sie vor der Erkenntnis der Ausweglosigkeit ihrer Lage bewahrte.
»Er ist fort, mehr kann ich euch nicht sagen«, bedeutete sie flehend, wechselte dann aber rasch wieder den Tonfall. »Wir sind doch Diener desselben Gottes, jenes liebenden Gottes, den Kaiser Gunther über alle anderen zur ihm gebührenden Gloria erhoben hat. Ich stehe unter beider Schutz. Hütet euch, mich noch einmal anzufass…«
Das Wort endete in einem Röcheln. Kraeh sah sie erst, als ihr lebloser Körper nach vorn fiel. Nein, sie war nicht tot, bemerkte der Alte schaudernd. Ihre Handballen stützten sich auf dem Boden ab, in dem kläglichen Versuch, den am Hals blutenden Leib aufzurichten. Lidunggrimm zitterte in Kraehs Hand.
»Wir, mein Bruder und ich, handeln auf Geheiß des Kaisers«, bemerkte der weibliche Zwilling sadistisch. »Eine Hure wie du aber sollte sich weder auf ihn noch auf Gott berufen.« Die Peitsche der Frau knallte auf Isabels Rücken, wo sie einen grässlichen Striemen hinterließ. Hände und Arme klappten ein und sie landete auf dem Gesicht.
Ein Kampfschrei erscholl. Lubbo hatte es geschafft, sich von seinem Bewacher zu lösen, der überrascht und leicht zeitversetzt, hinter ihm herkam. Jeden Augenblick würde Lubbos Klinge an dem Schulterschutz der Peinigerin vorbeifahren und ihre Kehle öffnen. Doch sein Angriff wurde jäh gestoppt. Wie Lubbo an sich hinunterblickte und des Schwertes in seiner Magengegend gewahr wurde, fiel ihm die eigene Klinge zu Boden. Er keuchte, als der männliche Zwilling den Stahl in seinem Bauch umdrehte. »Tötet sie alle!«, schnaubte derselbe wutentbrannt und das Gemetzel begann. Kraeh nahm nichts davon wahr außer den Schreien der beiden anderen, die ihn aus dem Wald gerettet und hierher begleitet hatten, und dem abscheulichen Anblick, wie die Frau in der glänzenden Rüstung sich über Isabel beugte, um sie, dem Anschein nach schneller, als sie eigentlich vorgehabt hatte, zu töten, indem sie die Heilige mit der Peitsche erdrosselte.
»Wickelt die Leichen in eure Umhänge«, kam die Anweisung, des Zwillings, der gerade sein Schwert aus Lubbos Fleisch befreite, »wir wollen kein unnötiges Aufsehen erregen.«
Die Soldaten machten sich an die Arbeit, der Zwilling jedoch sah sich, wohl seiner Intuition folgend, misstrauisch im Raum um, ohne sich dabei zu bewegen. Schon zuvor, als der ihm in die grünen Augen geblickt hatte, verstand Kraeh nun, hatte dieser etwas geahnt. Die beiden da unten waren nicht das, worauf man ihrem Äußeren nach schließen mochte. Sie waren keine Menschen und sie wussten, dass sie beobachtet wurden.
Als die Soldaten den Befehl ausgeführt hatten, die Leichen, so vermutete Kraeh, eingewickelt neben der Eingangstür lagen und einer die Blutlachen auf dem Boden mit einem Lappen aufwischte, flüsterten erst die Zwillinge miteinander, dann winkten sie vier der Soldaten herbei und gaben ihnen weitere Order, die Kraeh nicht verstehen konnte. Aber es war deutlich genug, was der Inhalt gewesen war. Die Soldaten huschten schleichend aus seinem Blickfeld und kurz darauf hörte er ihre gedämpften Schritte auf der Treppe.
Kraehs Blut geriet in Wallung. Was sollte er tun? Das Fenster war groß genug, um hindurchzuschlüpfen, aber wenn diese Mörderbande nicht närrisch war, wovon er nicht ausging, würden ihn unten bereits andere Männer mit gezückter Waffe erwarten. Ein Fußpaar war direkt vor seiner Tür, die er, wie ihm jetzt gewahr wurde, leichtsinnigerweise nicht verschlossen hatte. Einen Wimpernschlag bevor sie aufschwang, hechtete Kraeh direkt an die Wand daneben. Er hatte Glück; die Soldaten hatten sich aufgeteilt, nur einer stand auf der Schwelle. Lidunggrimm fuhr diesem so unerwartet und schnell durch die Kehle, dass jener keinen Laut mehr herausbrachte. Der Lebenssaft sprudelte Kraeh in einer Fontäne entgegen, als er den Körper mit beiden Armen auffing und so geschwind er es vermochte, in das Zimmer hievte. Die Tür stand sperrangelweit offen. Würde jemand vorbeigehen, war er entlarvt. Durch die Wände hörte er, wie in einem Nebenraum ein Wortgefecht entbrannte. Ein anderer Gast wollte sich nicht einfach abführen lassen und der Soldat, welcher sich mit dem Streitlustigen befasste, rief nach Hilfe. Bestens!, schoss es Kraeh durch den Kopf, während seine senilen Finger die Kerze auf dem Nachttisch mit dem für sie bereitliegenden Feuerstein entzündete. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, bis der Docht endlich aufloderte. Vorsichtig, mit der hohlen Hand die kleine Flamme schützend, stellte er die Kerze auf den Boden neben das Bett. Sogleich fing das Laken Feuer. Er schob Lidunggrimm in die Scheide, schleifte den Leichnam des toten Soldaten zum Fenster und stemmte ihn nach oben. Wie ein Sack polterte er über das Dach. Er verhakte sich an der Regenrinne und blieb in grotesker Haltung liegen. Unten wurden Befehle gebrüllt. Sehr gut! Inzwischen brannte das Zimmer lichterloh. Kraeh schlang sich seinen Fellmantel um die Schultern, stürzte aus der Tür, dann den Gang entlang und schließlich die Treppe hinunter.
Während er nach unten hastete, wobei eine der Stufen ihn beinahe zu Fall gebracht hätte, nahm er sich die Zeit, kurz nachzudenken. Diese Kaisertreuen suchten vornehmlich nach Arduhl. Die Soldaten töteten auf Geheiß, wie er hatte erfahren müssen, auch Unschuldige, aber eben nur auf direkten Befehl hin. Seine Sorge musste also allein jenen Zwillingen gelten. Sie würden dort sein, wo ein potenzieller Ausreißer die beste Möglichkeit zur Flucht hätte. Sofern sie seine Finte geschluckt hatten, vermuteten sie ihn auf dem Dach. Zwar hatte er die Leiche nach vorne hin, zur Seite der Eingangstür aus dem Fenster geworfen, aber nur ein Dummkopf würde, wenn er einmal auf dem Dach war, den kürzesten Weg wählen. Demnach wären sie auf der Rückseite des Hauses und er würde wie der besagte Dummkopf handeln.
Im Schankraum hatte sich bereits Qualm angesammelt. Der leichte Morgenwind gab dem Feuer, was es brauchte, um sich flugs auszubreiten. Kraeh stürmte an den Säcken vorbei, in denen sich, wie er wusste, die heilige Isabel, der gutmütige Lubbo und die beiden anderen befanden. Er riss die Tür auf und vernahm das Knistern hinter sich, mit dem das Freudenfeuer seinen Dank über den neuerlichen Luftzug ausdrückte. Hustend waren die Soldaten, die oben gesucht hatten, nun hinter ihm am unteren Ende der Treppe angelangt. Der Ärgermacher hatte seinen Widerstand aufgegeben und stolperte gleich den Soldaten vorwärts, um seine Haut vor den Flammen zu retten.
»Feuer! Feuer!«, platzte Kraeh einige Schritte vor ihnen aus dem Gasthaus. Er war verwundert, wie schnell die Menschen aus den umliegenden Häusern herbeikamen, um dem Spektakel beizuwohnen. Einige liefen mit schwappenden Eimern heran. Tatsächlich waren die Zwillinge nicht zu sehen. Die drei Soldaten, die den Eingang bewachen sollten, wurden der Lage um sie herum kaum Herr. Abgelenkt von dem Anblick ihrer Gefährten hinter Kraeh, erkannten sie in dem Alten, der einen panischen Ausdruck zur Schau stellte, offenbar keine Gefahrenquelle. Ehe er es wirklich begriff, fand Kraeh sich in einer Seitengasse wieder.
Nur noch ein Flackern am dunstigen Himmel wies auf die Feuersbrunst hin. Er war in Sicherheit.
* * *
Drei Tage später folgte Kraeh einer befestigten Straße, die nach Brisak führen würde; zumindest hatte dies der freundliche Schäfer behauptet, der seinen Weg gekreuzt hatte. Natürlich hätte er nach seinem überstürzten Verlassen der Stadt, in der er das Wirtshaus in Brand gesteckt hatte, auch einen weniger auffälligen Pfad durch die Wälder einschlagen können, doch schien es ihm sinnvoller, der einmal geglückten Strategie treu zu bleiben. Wer würde einen Flüchtling schon auf dieser Straße erwarten, wo dermaßen viel Betrieb herrschte? Unentwegt überholten ihn Abenteurer, Soldatentrupps, meist jedoch Bauern und Holzfäller, die Wagen angefüllt mit ihren Waren, die sie in Brisak gegen einen guten Preis zu verkaufen trachteten. Niemand schenkte dem alten Bettler, für den man ihn zweifelsohne hielt, besondere Aufmerksamkeit. Anfangs war er noch nervös geworden, wenn sich Hufgetrappel genähert hatte, nun grüßte er die Soldaten in ihren hell wattierten Wappenröcken gelegentlich sogar. Für gewöhnlich fing er sich daraufhin ein »Aus dem Weg da!« ein, zuweilen aber auch einen mitleidigen Blick, gefolgt vom Klimpern einiger Kupferstücke, welche über den Pflasterstein rollten, ehe er sie einsammelte.
Die Sonne stand im Zenit, ein flüsternder Wind ging durch seinen Bart, während er in einen wurmdurchlöcherten Apfel biss, der von der Ladefläche eines vorbeiholpernden Karrens gehüpft war. In der Tat war er zu einem Bettler und obendrein zu einem Dieb geworden, denn manchmal musste er dem Hüpfen von Äpfeln, Birnen und Nüssen ein wenig nachhelfen. Doch fühlte er sich deshalb nicht elend. Er hatte alles, was ein Mann brauchte: ein Ziel und ein Feindbild. Diese verdammten Zwillinge hatten seiner Retterin und Gönnerin das Leben genommen, dafür würden sie bezahlen.
Hauptsächlich von diesem Gedanken angetrieben, schlug er sich mehr schlecht als recht durch, bis er schließlich in der Ferne die zackigen Mauern Brisaks ausmachte. Mehr als einmal hatte er in letzter Zeit von der Gastfreundschaft jener Menschen profitiert, deren Gehöfte in der Nähe der Straße lagen. Teilweise gegen das wenige Geld, welches man ihm zugeworfen hatte, öfter allerdings umsonst, war ihm ein spärliches Mahl und ein Platz in den Ställen zugestanden worden. Früher, erinnerte er sich, hatte er die Nächte unter freiem Himmel geliebt. Heute war ihm das einsame Bibbern zusammengekauert unter Felsvorsprüngen, Hecken und kahlen Baumkronen zuwider. Immer wenn er sich dazu genötigt sah, fühlte er sich am nächsten Morgen wie gerädert. Schmerzende Knochen, steife Glieder – nein, das Übernachten im Freien war etwas für junge Leute. So dachte er, während die Abendsonne ihr friedliches, goldrotes Licht über die weiten Felder und Baumgruppen ergoss, die sich vor ihm auftaten. Die Szenerie war vertraut, auch wenn das Umland der Festung sich enorm erweitert hatte. Obwohl es ihn noch einen halben Tagesmarsch kosten würde, eines der mächtigen Tore zu erreichen, fühlte er sich schon beinahe Zuhause. Das Krähen eines Hahns von einem Misthaufen lenkte sein Augenmerk auf ein Hofgut. Vom steinernen Schornstein, der wie ein erhobener Zeigefinger aus dem Dach ragte, zogen Rauchschwaden gen Himmel. Hier würde er, hoffentlich zum letzten Mal, um Unterschlupf bitten.
Gegen die Vernunft hoffte er, Heikhe in Brisak anzutreffen. Wer weiß, überlegte er, als seine auseinanderfallenden Stiefel durch den Matsch des Zugangs zum Hof schmatzten, vielleicht richtet sie ein Fest anlässlich meiner Rückkehr aus und stellt mir eine Leibgarde zur Seite, die mich sicher nach Erkenheim geleitet.
Der verwitterte Sandstein, aus dem die Wände des Haupthauses des Gehöfts bestanden, war von Wind und Regen abgeschliffen. Eine gestutzte Ulme lehnte sich an das Gemäuer und diente als zusätzlicher Tragebalken für das löchrige Ziegelsteindach. Wo Sturm und Hagel die Ziegel gebrochen hatten, war Moos und Stroh in die Löcher gestopft worden. Ein schäbiger Anblick.
Ehe Kraeh an die knauflose Tür klopfen konnte, öffnete sie sich. Ein von roten Adern durchzogenes Augenpaar glotzte ihn unter einer wettergegerbten Stirn hervor unschlüssig an. Der Mann war ärmlich gekleidet und stank nach Schweiß. Seine breiten, nackten und behaarten Unterarme hielten eine schartige Axt.
»Wat dich brucht an min Hof?«, fragte der Bauer säuerlich. Seine Wurstfinger umklammerten den Schaft der Axt, dass die hornhäutigen Knöchel bleich hervortraten.
Kraeh machte einen Schritt zurück und hob die Hände, um zu signalisieren, nicht auf Streit aus zu sein.
»Mein Name ist Henfir«, sagte Kraeh in ruhigem Tonfall. »Ich wollte lediglich um eine Schlafgelegenheit bitten.«
Die Knöchel des Bauern nahmen nun die rot gebräunte Farbe der übrigen Haut an, da sich sein Griff um die Axt entspannte. Der Bauer machte jedoch keinerlei Anstalten, ihn hereinzubitten, darum fügte Kraeh hinzu: »Es soll euer Schaden nicht sein. Ich kann bezahlen.« Er senkte seine Hände und beförderte zwei Kupferstücke ins Flackerlicht, das aus dem Inneren des Hauses drang.
»Brunai«, stellte sich der Mann knapp vor und versetzte dem Jungen, der nun neugierig hinter ihm hervorlugte, einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Kumm rin«, zeigte Brunai sich nun freundlicher, »min Fruwe het die Nachtemahl beriet.«
Den Weg gab er allerdings erst frei, nachdem Kraeh ihm seine restlichen Geldstücke überreicht hatte. In der Stube saß bereits die ganze Familie zu Tisch, bis auf Brunais Frau, die zu den Tonschalen, welche schon dastanden, eine weitere füllte. Kraeh dankte und fragte sich, auf was die drei Mädchen, die vier Jungs und der Hausherr warteten. Merkwürdigerweise gesellte sich die Frau, der die Schmerzen der Geburten ins abgeschlaffte Gesicht geschrieben standen, nicht zu ihnen. Mit einem sorgenvollen Blick zog sie sich mit ihrem Essensanteil, der wegen des nicht eingeplanten Gastes spärlich ausfiel, in einen Nebenraum zurück.
Brunai erhob sich und faltete die Hände. »Wir lobben dir Gott, der du libbest dein guote Knächte.«
Da er wieder Platz nahm, machte sich die Familie über das Essen her; eine klebrige Pampe aus Milch und aufgelösten Haferflocken, die im Mund knirschte, wegen des mit Erde ausgewaschenen Topfes, wie Kraeh vermutete. Niemand sprach ein Wort. Die jüngste Tochter vergaß über das Bestaunen des Fremden das Essen, was ihr nach einiger Zeit den drohenden Blick ihres Vaters eintrug. Wären nicht zwei der Söhne im Wege gewesen, hätte der Hausherr seine Missbilligung bestimmt mit einem Schlag unterstrichen, die stumme Drohgebärde reichte jedoch aus. Das Mädchen schlang den Brei in sich hinein, ohne sich ein weiteres Mal zu trauen, auch nur den Kopf zu heben.
Das Mahl war rasch zu Ende. Brunais Frau räumte mithilfe der ältesten Tochter – einem hübschen Ding, bald im heiratsfähigen Alter – den Tisch ab, stellte ihrem Mann eine tönerne Flasche sowie zwei Becher hin und verließ gemeinsam mit den Kindern die Stube.
Der Bauer schenkte erst sich, dann Kraeh ein, leerte seinen Becher in einem Zug, schenkte sich nach und schob dem Fremden dann den zweiten Becher hin. In seiner befremdlichen Sprache hob er an, sein Leid zu klagen. Wie viele sei er den Versprechungen des Kaisers auf gutes Land und niedrige Steuern folgend aus dem fernen Süden hierher übergesiedelt. Zwei Söhne habe ihn allein die Reise gekostet. Nach zwei Sommern habe ein Pilz beinahe die gesamte Ernte vernichtet und er sei gezwungen gewesen, den Großteil der gepachteten Äcker brachliegen zu lassen, weil er sich kein neues Saatgut habe leisten können. Zudem seien wegen des Krieges mit den Sihhila gegen die Versprechungen des Kaisers dann doch Steuern erhoben worden, die er nicht zu entrichten imstande gewesen sei. Nun gehöre selbst »dis klih Hus, was sin war« Gunthertocht, der Herrin von Brisak. Kraeh konnte es kaum fassen. Sollten sich seine Hoffnungen erfüllen? Heikhe musste mittlerweile eine alte Frau sein, aber es war nicht unmöglich, dass sie das Zepter noch in der Hand hielt.
Sein Gegenüber, das sich in einem fort in Selbstmitleid erging, erregte in Kraeh kein Mitgefühl. Die Art, in der der Bauer seine Frau und seine Kinder behandelte, machte Kraeh eher wütend. Doch da er nichts daran ändern konnte, bat er den Hausherrn nach einem zweiten Becher des schlecht gebrannten Obstlers, den ihm der Bauer in großzügiger Geste gereicht hatte, ihm seinen Schlafplatz zu zeigen. Schwankend führte Brunai Kraeh zu den Stallungen außerhalb des Haupthauses. Er wies auf eine kläglich von Stroh bedeckte Stelle, die, hätte er es sich leisten können, wohl von einem weiteren Ochsen eingenommen worden wäre. Verstimmt über den Fremden, der so unerfreulich wenig Anteil an seiner Lebensgeschichte genommen hatte, raunzte er einen unwirschen Gutenachtwunsch und machte sich auf in sein Ehebett, wo seine Frau zu ihrem Gott betete, er möge zu betrunken sein, um Interesse an ihrem schon zur Genüge ausgebeuteten Körper zu haben. – Ihre Gebete wurden nicht erhört.
Einen Augenblick sann Kraeh nach, während er es sich so gemütlich wie unter den gegebenen Umständen möglich machte, ob er nicht ein seltsames Leuchten in den wässrigen Äuglein seines Gastgebers gesehen hatte, als er sich vorhin vom Tisch erhoben hatte. War es Gier gewesen? Seine weite Tunika war ihm beim Aufstehen weggerutscht und hatte damit möglicherweise den Blick auf den kostbaren Knauf Lidunggrimms freigegeben …
Aus dem Stroh hatte Kraeh ein Knäuel geformt, das ihm als Kopfkissen diente. Die Halme stachen ihm unangenehm in den Nacken. Seinen Umhang gebrauchte er als Decke. Nicht einmal eine Kerze hatte Brunai ihm dagelassen. So lag er im milchigen Licht des Mondes, das durch die Ritzen im Gebälk über ihm in die Stallung fiel.
Die Ochsen scharrten im Schlaf gelegentlich mit ihren Hufen. Im ganzen Stall stank es nach ihren Ausscheidungen. Draußen bellte ein Hund. Vermutlich war er damit beschäftigt, sein Revier gegen Füchse und andere Räuber zu verteidigen. Und noch etwas war zu hören: das Zanken von Katzen. In Kraehs Ohren klang es immer wie das Jammern kleiner Kinder. Ein unheimliches Geräusch. Er fragte sich, weshalb der Hund dem Streit kein Ende bereitete. Wahrscheinlich hatte der Bauer ihn darauf abgerichtet, die Katzen in Frieden zu lassen, da sie den Hof von den kleineren Plagen wie Mäusen und Ratten säuberten, die nicht in das Beuteschema des Hundes passten.
Auch wegen der Unbequemlichkeit hing er diesen Gedanken eine Weile nach, bis ein Knarren an der Stalltür ihn in die Realität zurückholte. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass auch er wohl in ein gewisses Beuteschema geraten war. Ein unterdrücktes Streitgespräch verschaffte ihm genügend Zeit, Stroh zusammenzuklauben und seinen Mantel so darüber auszubreiten, dass es den Anschein erregte, er läge er noch immer an dem Platz, von dem er sich nun schleunigst entfernte.
Keinen Wimpernschlag zu früh, duckte Kraeh sich, als die Tür aufging. Brunai schlich, gefolgt von zweien seiner Söhne, auf leisen Sohlen zu der präparierten Schlafstätte. Einer trug eine abgedämmte Laterne und alle drei hatten Knüppel in den Händen. Ohne Zaudern – das hatte Brunai seinen Söhnen offensichtlich erfolgreich eingebläut, ehe sie den Stall betreten hatten – schlugen sie auf das Stroh ein. Es dauerte lächerlich lange, ehe der Mantel verrutschte und die drei ihren Fehler erkannten.
Kraeh war in der Zwischenzeit aus seinem Versteck hinter einem schlafenden Ochsen hervorgetreten und versperrte breitbeinig die Tür.
Der Bauer und seine Söhne zuckten zusammen, als Kraeh einen Pfiff ausstieß. Der kurze Moment des Schreckens wich jedoch schnell der Habsucht, als Brunais Blick den Greis auf der Schwelle musterte.
»Giffen mir dat!«, stieß er zwischen seinen faulen Zähnen hervor und deutete dabei auf Kraehs Hüfte.
»Was?«, fragte der Alte betont langsam. »Das hier?«
Das magische Schwert fuhr aus der Scheide. Mondlicht huschte über die Klinge und die Lider der drei Augenpaare, die darauf gerichtet waren, weiteten sich. Noch nie hatten sie etwas derart Wertvolles gesehen. Und es war zum Greifen nahe; allein die gichtigen Finger eines steinalten Fremden trennten sie davon, es in ihren Besitz zu bringen.
»Giffen uns dat«, wiederholte der größere der beiden Söhne seinen Vater, »und du kunnst fortegahn.«
Beinahe taten Kraeh die Narren leid. Ohne Frage, er war alt, nicht mehr als ein erbärmlicher Abglanz seiner einstigen Größe, aber genau das würde den dreien zum Nachteil gereichen. Früher hätte er sich vielleicht damit begnügt, ihnen mit ihren eigenen Knüppeln den Hintern zu versohlen, dieser Tage würde er besser sichergehen …
»Du hast recht, ich werde verschwinden«, schleuderte er jenem ältesten Sohn herablassend entgegen, dessen Stirnfalten und Gestik verrieten, dass er die größte Möglichkeit eines unbeschadeten Angriffs in seiner linken, der waffenlosen Seite entdeckt zu haben glaubte.
»Aber ich gehe mit all meinen Sachen, insbesondere dieser.« Dabei drehte er Lidunggrimm so in seiner Hand, dass dem jungen Mann hätte klar werden müssen, wie wenig ausgereift sein Angriffsplan war. Wären sie gemeinsam auf ihn losgegangen, hätten sie eine Chance gehabt, doch das Zaudern Brunais und dessen jüngeren Sohnes bot Kraeh die Möglichkeit, den brutalen von oben herab geführten Schlag des Knüppels mühelos zu parieren. Das Holz splitterte, als es auf die Klinge traf. Kraeh machte einen Satz zurück und zog dem Bauernjungen die Schneide längs über den Bauch. Fassungslos schaute dieser an sich herab. Der Schmerz hatte sein Bewusstsein noch nicht erreicht und so versuchte er, blass vor Schock, seine Eingeweide mit den Händen an ihrem angestammten Platz zu halten. Natürlich war sein Unterfangen vergeblich. Seine Innereien quollen hervor, flutschten durch seine gespreizten Finger und klatschen auf den Stallboden. Er wankte und fiel. Der Vater stürzte neben seinem Sohn zu Boden, nahm den sterbenden Körper in seine Arme und begann, heftig zu schluchzen.
Kraeh wusch die Klinge an einer Decke ab, die über einer Koppel hing, schob sie in ihre Scheide und verließ ohne ein weiteres Wort den Stall. Er empfand keinerlei Mitleid, nur ein Gefühl des Ekels begleitete ihn nach draußen in die kalte Nacht.
Ärgerlich darüber, seinen Mantel zurückgelassen zu haben, beschleunigte er seinen Schritt, um zu verhindern, dass die Kälte, die der feuchte Dunst des Morgens mitbrachte, sich in seinen Gliedern festsetzte. Die Mauern der alten Feste Brisaks wuchsen und Kraehs Gemüt verdüsterte sich, während der goldene Schimmer der Sonne sich auf den Wehrgängen ausbreitete und die Gestalten der Wachposten von den Zinnen abhob. In der Ferne grollte ein Donnerschlag und Kraeh deutete ihn unwillkürlich als schlechtes Omen. Eine Gruppe von drei Wagen näherte sich dem mächtigen Tor, auf das auch er zuhielt. Er korrigierte seinen Gang, und als die Sonne als ganzer runder Ball am wolkenlos blauen Himmel stand, fing er die Gruppe nicht weit von den Mauern entfernt ab. Es waren Händler, die Wagen angefüllt mit Erz, das in den nordöstlich gelegenen Minen abgebaut worden war. Ihr Sprecher, ein feister Kerl, der auf dem vordersten der Wagen vom Kutschbock aus seine Peitsche auf die langhaarigen Lastpferde knallen ließ, hatte keine Einwände, dass der fremde Alte sich ihnen anschloss. Das Schlusslicht des kurzen Zuges bildeten zwei schwer beladene Frauen, die, froh, den langen Weg endlich hinter sich zu haben, trotz ihrer Last zu Scherzen aufgelegt waren. Kraeh lachte ein wenig über ihre derben Sprüche und schließlich, nur wenige Schritte trennten sie noch von den nun offenen Flügeln des Tores, gelang es ihm, der einen ein Stück zerfransten Stoffes abzuschwatzen, das ihr bis dahin als Schal gedient hatte. »Ich kuf mir ehn nuwes, glänzlicheres«, sagte sie lächelnd und zeigte dabei zwei Reihen schlecht gepflegter Zähne. Kraeh band sich den Stoff um die Hüften, was den beiden ein neuerliches Gelächter entlockte. Allmählich gewöhnte er sich daran, dass ihn, den alten Sonderling, niemand ernst nahm, und auch sein Ohr stellte sich auf die Sprache des ländlichen Volkes ein.
Als sie auf Höhe der Stadtwachen anlangten, hatte auch er ein Grinsen aufgesetzt. Zwischen den herumalbernden Frauen fiel er nicht weiter auf und der Soldat, dem eine Mischung aus Müdigkeit und Strenge ins Gesicht geschrieben stand, winkte sie weiter. Jetzt grinste Kraeh nicht mehr. Er wünschte den Weibern einen schönen Tag und verschwand im Gewimmel, das in den engen Gässchen hinter dem zweiten Verteidigungsring schon zu dieser frühen Morgenzeit herrschte.
Kraeh war dergleichen Menschenmassen nicht mehr gewohnt. Ihm schwindelte. All diese Leute, dachte er, alle mit ihrer eigenen Geschichte, ihren eigenen Träumen, ihren eigenen Zielen und Beweggründen. Er blieb stehen, um sich zu sammeln.
Ein breitschultriger Mann, der einen schweren Sack auf dem Rücken schleppte, rempelte Kraeh so heftig an, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor. Ohne ein Wort der Entschuldigung stapfte der Mann weiter in das undurchschaubare Gewusel. Ein weiterer Ellbogen rammte Kraehs Rippen. Diesmal ging es so schnell, dass er nicht einmal die dazugehörige Person ausfindig machen konnte.
Einfach stehen bleiben war keine gute Idee gewesen. Er setzte sich in Bewegung. In Ermangelung eines besseren Einfalls folgte er der sich kaum merklich nach oben windenden Hauptstraße, die ihn an ihrem Ende zu dem Palas im Zentrum der Stadt führen würde. Zu seiner Rechten erkannte er nach einiger Zeit eine Abkürzung: ein steiles Treppchen, an dessen einer Seite Schießscharten angebracht waren. Sie musste aus einer Ära stammen, da Brisak noch wesentlich kleiner gewesen und jene breite Mauer, an der er nun entlangging, die äußerste gewesen war. Doch auch hier war geschäftiges Treiben im Gange, allerdings waren es vornehmlich kleinere Soldatengruppen, die an ihm vorbei nach oben marschierten oder ihm leichtfüßig entgegenkamen, immer mindestens zwei Stufen auf einmal überspringend.
»Ein Kupfer für einen alten Veteranen.«
Irgendetwas an der versoffenen Stimme erregte Kraehs Aufmerksamkeit. Er sah sich um und entdeckte eine kümmerliche Gestalt, die am Rand des Gässchens auf einer Stufe saß. Der linke Ärmel ihrer schmutzigen Tunika hing schlapp herab. Das Gesicht des Einarmigen war von einer tiefen Narbe verunstaltet, die sich von der linken Stirnseite bis zur rechten Wange zog. Die Verletzung hatte den Mann auch noch ein Auge gekostet, dessen leere Höhle wund und entzündet zu den jungen Burschen, die an ihm vorbeihasteten, hochblickte. Kraeh blieb kurz vor dem Alten stehen.
»Ein Kupfer«, bat der Bettler erneut.
»Tut mir leid, ich habe selbst kein …«
»Kraeh die Kriegskrähe!«, unterbrach ihn der am Boden Sitzende ungläubig.
Erschrocken sah Kraeh sich um; niemand hatte den Bettler beachtet. Er kniete sich zu ihm nieder und legte einen Zeigefinger auf die Lippen.
»Du bist es wirklich, nicht wahr?«, fragte die erbärmliche Person, diesmal leiser.
»Aye«, gestand Kraeh.
»Ich wusste es. Ich habe zwar nur noch ein Auge, aber das lässt sich nicht so leicht täuschen.«
Er probierte sich an einem Lächeln, da seine Lippen allerdings außer Übung waren, glich das Ergebnis doch eher einer jener Fratzen, welche man zur Wintersonnwende als Masken zur Schau stellte, um böse Geister zu vertreiben oder einfach Kinder zu erschrecken.
Er bekam ein wohlwollendes Nicken zur Bestätigung. »Fürwahr, ein gutes Auge ist dir geblieben.«
»Du hingegen hast aber nicht die geringste Ahnung wer ich bin, hm?«
»Um ehrlich zu sein, nein«, gab Kraeh zu.
»Kann’s dir nicht übel nehmen«, meinte der Bettler, gab aber einen Laut von sich, der entfernt an ein Knurren erinnerte. »War damals dabei, als wir die Wutach gestürmt haben«, fuhr er fort. Die Vergegenwärtigung jener längst vergangenen Tage schien den Bettler seine Enttäuschung vergessen zu lassen. »Und auch in Triberkh, damals«, er gackerte, »auf der anderen Seite, versteht sich. Dort hab ich mir auch diese schönen Andenken geholt.« Er deutete auf seinen Armstumpf und das fehlende Auge.
»Tja, wir haben euch seinerzeit ganz schön in den Arsch getreten«, konnte Kraeh sich nicht verkneifen zu antworten. Viele seiner Freunde waren an jenem Tage gefallen, als sie gegen Niedswar den Seher und dessen Horden in die Schlacht gezogen waren. Er musste sich ermahnen, die Tatsache im Gedächtnis zu behalten, nur einen einfachen Soldaten vor sich zu haben, der schlicht den Befehlen seiner Vorgesetzten gehorcht hatte und nichts von den größeren Zusammenhängen gewusst haben konnte. Auf die Gefahr hin, seinem Gegenüber das Einzige zu nehmen, was er noch hatte, fragte er: »Wollen wir die alten Zeiten nicht ruhen lassen und uns gemeinsam ein Ale genehmigen? Gibt’s das Goldene Horn noch?«
»Schon, aber nicht für alte, arme Hasen wie uns«, erwiderte der Veteran bitter, fügte aber hinzu: »Mein Neffe hat nen Laden unten bei den Netzflickern, bei dem hab ich einen gut.«
Kraeh nahm die Einladung gerne an, immerhin waren seine Taschen noch leerer als die des Mannes, dem er gerade auf die Beine half.
»Mein Name ist übrigens Thorbilt«, grunzte dieser, als er endlich stand.
»Sehr erfreut. Meinen kennst du ja.«
Unwillkürlich rannte Thorbilt ein Schauer den Rücken hinab. Ja, den kannte er nur zu gut.
* * *
Als sie in der kleinen, schmuddeligen Schenke saßen, die zu dieser frühen Tageszeit bis auf Thorbilts Neffen leer war, spürte Kraeh die Müdigkeit wie einen Geröllhaufen über sich zusammenbrechen. Vor ihm stand ein Krug abgestandenen Ales. Rotfar, der Neffe, ein stattlicher, für die Umgebung auffällig gut gekleideter Mann mittleren Alters, hatte ihnen gegenüber Platz genommen. Ehrfürchtig hatte Thorbilt Kraeh vorgestellt, zu schnell und zu entschlossen, als dass Kraeh die Möglichkeit gehabt hätte, es zu verhindern. Während er an seinem schalen Ale nippte, bat er den Wirt, seine Anwesenheit in der Stadt möge unter ihnen dreien bleiben. Am liebsten hätte er sich sofort auf einer der beiden Eckbänke des Raums, der von den Nachbarhäusern verdunkelt wurde, ausgebreitet und geschlafen. Er wollte aber nicht unhöflich erscheinen, außerdem bot sich ihm endlich die Gelegenheit zu erfahren, was in seiner Abwesenheit alles vorgefallen war. Bisher war er überaus vorsichtig gewesen, nicht einer falschen Person eine unbedachte Frage zu stellen, doch die beiden wussten ja ohnehin schon, wer er war.
Die Offensive der Sihhilas im Osten, erfuhr er, habe nach der Verwüstung einiger Grenzstädte geendet. Verhandlungen zwischen den beiden Großreichen seien wohl wieder aufgenommen, die größeren Städte dennoch in Alarmbereitschaft versetzt worden.
Auf seine Frage, ob er Königin Heikhe im Palas antreffen könnte, tauschten die beiden Verwandten einen sorgenvollen Blick.
Rotfar musterte Kraeh eine Weile, bevor er kopfschüttelnd verneinte. »Wo hast du denn gesteckt all die Jahre?« Der Ausdruck seines Gesichts hellte sich kurz auf. »Ist es so, wie die Legenden sagen; bist du aus dem Jenseits zurückgekehrt, um das Land von seinem Joch zu befreien?« Ein Zwinkern seines linken Auges machte deutlich, wie wenig er von dem Gerede der Leute hielt. Als Kraeh nichts sagte, verdunkelten sich seine Züge wieder.
»Heikhe wurde Verrat vorgeworfen, ebenso wie Erkentrud, deren Feste geschliffen wurde, ehe der Wiederaufbau abgeschlossen war. Das alles geschah vor mehr als drei Jahrzehnten. Der Kaiser begnadigte seine Schwester. Man sagt, seitdem sei sie seine Gefangene am Hofe in Dundulch, der Hauptstadt des Reiches, von dem wir mittlerweile Provinz sind.«
Es war also wahr! Kraeh kämpfte gegen seine Müdigkeit. Kaiser Gunther war der kleine Junge, den er einst am jenseitigen Ufer des Rheins an den Feind verloren hatte. Er, Rhoderik, Sedain, Heikhe und die schöne Lou hatten ihn für tot gehalten. Der Seher musste ihn fernab aufwachsen haben lassen, wobei er es irgendwie über seinen eigenen Tod hinaus geschafft hatte, Gunther seinen Größenwahn einzuimpfen. Es wunderte Kraeh wenig, dass der Bauer, der ihn hatte ausrauben wollen, von den Geschehnissen an den hohen Höfen nichts mitbekommen hatte und daher glaubte, immer noch von Heikhe regiert zu werden. Vielleicht hielt man das einfache Landvolk aber auch bewusst in einem falschen Glauben. Kraeh wollte gerade eine diesbezügliche Frage stellen, als Rotfar fortfuhr: »Im Palas wirst du niemand Geringeren vorfinden als Eli den Düsteren. Nach der Auflösung des Senates letzten Herbst, hat der Kaiser ihn eingesetzt, damit er die südlichen Gebiete verwaltet.«
»Und befriedet«, schaltete sich Thorbilt ein.
Erst jetzt fiel Kraeh die Kette um Rotfars Hals auf, deren Ende unter der am Kragen bestickten Tunika verschwand. Der Wirt verstand und zog an dem Kettchen, bis das kleine goldene Kreuz zum Vorschein kam.
»Wir sind jetzt alle Krukis hier«, erklärte er, da Kraehs Augen sich zu Schlitzen verengten. »Aber sag«, sprach er weiter, die Anspannung seines Gegenübers mit unechter Gelassenheit überspielend, » was bringt dich dazu, in meiner bescheidenen Schenke einzukehren, Herr Kraeh? Eli ist nicht gerade für seine Freundlichkeit bekannt, doch würde er sich sicher geehrt fühlen, die große Kriegskrähe an seiner Tafel willkommen zu heißen.«
Kraeh lächelte. »Das wird sich morgen herausstellen.« Er nahm den letzten Schluck aus seinem Humpen; »Vorerst aber möchte ich dich um einen Schlafplatz bitten. Sofern es für dich in Ordnung ist, dass ich bezahle, sobald es mir möglich ist.«
Rotfar versicherte ein wenig aufgewühlt, er sei selbstredend ein gern gesehener Gast, stand auf und ging in einen Nebenraum. Kurz darauf kam er mit einem Bettlaken unter dem Arm zurück. »Leider kann ich nicht mehr anbieten«, sagte er, als er Kraeh in den unbelegten Schlafraum hinter dem Tresen geführte. »Für einen Mittagsschlaf wird’s hoffentlich reichen«, fügte er noch mit einem Zwinkern hinzu, indem er seinem unerwarteten Gast das Laken in die Hand drückte.
Kraeh bedankte sich und richtete das Bett, welches der Tür am nächsten war. Natürlich würde er wieder kein Auge zutun, den beiden war nicht zu trauen. Er döste ein wenig, darauf bedacht, dass der Schlaf ihn nicht vollends übermannte. Gerne hätte er noch mehr erfahren, aber sein Geist war so träge wie seine Glieder steif. Mit jenen wenigen Dingen jonglierend, die er eben gehört hatte, driftete er ab und schlief unversehens doch ein. Es musste bereits früher Abend sein, als das Tuscheln seiner beiden Gastgeber ihn weckte. Zumindest seine Instinkte waren noch einigermaßen auf Trab. Der beschleunigte Herzschlag in seiner Brust verdrängte den Rest der Müdigkeit. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit, Kraeh spürte einen Blick auf sich ruhen, dann schloss sie sich wieder.
»Er schläft«, hörte er Rotfar zu seinem Onkel sagen.
Das durfte doch wohl nicht wahr sein! So plump konnten sie nicht vorgehen. Natürlich versprachen sie sich eine Belohnung dafür, dass sie ihn an die Obrigkeit verrieten, der Grund lag also nahe: Geld. Dem einen fehlte es gänzlich, der andere war wohl von jener Art, die nicht genug bekommen konnte. Aber doch nicht auf diese Weise! Alle machten so ein großes Gerede um seinen Namen, und sobald sie mit ihm zu schaffen hatten, taten sie so, als hätten sie den dümmsten Einfaltspinsel der ganzen Rheinlande vor sich!
Getuschel folgte, aus dem klar »Halbe, halbe« und »Einverstanden« herauszuhören war. Ihre Dummheit kommt mir zugute, versuchte Kraeh, sich zu beruhigen, aber es gelang ihm nicht gänzlich.
Die Außentür wurde geschlossen. Rotfar hatte das Haus also verlassen. Kraeh gähnte, dann stand er auf. Thorbilt saß, mit Blick auf die Tür, auf einem Schemel. Als sie plötzlich aufging, wäre er fast hintenüber gestürzt. Noch so eine törichte Idee. Was wollte sein Bewacher nun machen? Ihn durch seine Erbärmlichkeit zum Heulen bringen?
»Thorbilt, Thorbilt«, sagte Kraeh kopfschüttelnd. »Man sollte meinen, du hättest aus unserer letzten Begegnung eine Lehre gezogen …«
Der Bettler antwortete nicht, während sein eines Auge auf der Suche nach einer Ausrede durch den Raum irrte.
»Du denkst vermutlich, du hättest nichts mehr zu verlieren.« Kraeh schaute verächtlich auf ihn herab. »Die Gesetze der Spiegelungsgleichheit aber scheinen nahezulegen, dass du mit einem Bein weniger viel hübscher anzusehen wärst …« Dabei glitt seine Hand langsam zu Lidunggrimms Knauf.
Als der Bettler zu winseln begann, nahm Kraeh sich einen Stuhl, rückte ihn vor Thorbilt und setzte sich darauf. Der Schreck hatte gesessen.
»Also hör zu«, untergrub Kraeh das Gejammer, »von jetzt ab werde ich dir jedes weitere Mal, das wir uns begegnen, ein Körperteil abnehmen. Das ist ein Versprechen …«
»Danke, danke!«, fiel ihm das Häuflein Elend ins Wort.
»Soll ich mit der Zunge anfangen?«, fuhr Kraeh ihn an. Mit zusammengepressten Lippen und einer Träne im Auge, bewegte Thorbilt seinen Kopf stumm von links nach rechts.
»Dachte ich mir. Und deinem liebreizenden Neffen richte aus, dass ich kommen werde, ihn zu holen. Ich werde ihm einen Sack Geld um den Bauch binden und ihn im Fluss versenken. Hast du verstanden?«
Thorbilt nickte.
»Schön, hüte dich, mir noch mal über den Weg zu laufen«, sagte der nach dem unruhigen Schlaf wenig erholte alte Krieger, indem er sich erhob. Er zögerte. »Dein Mantel«, forderte er. Umständlich schälte sich der Bettler aus dem alten Fetzen und reichte ihn Kraeh.
Sein Magen war flau, als er aus der Taverne trat. War er so tief gesunken, es nötig zu haben, greise Krüppel einzuschüchtern und auszurauben? Aber halt, dachte er, während er der kleinen Gasse vor sich nach links folgte, da müsste er sich ja beinahe dazurechnen und andererseits gefiel ihm auch die Vorstellung, wie Rotfar sich die nächste Zeit in die Hose machen würde aus Angst, die Kriegskrähe stünde irgendwann vor seiner Tür. Er schob diese Gedanken beiseite. Was er vor allem brauchte, war einen Ort, an dem er wirklich ausruhen und sich erholen konnte, doch er hatte kein Geld, um sich ein Gasthaus leisten zu können, und ohnehin wäre es wohl keine gute Idee gewesen, beim nächsten Verräterpack abzusteigen.
Die Gasse war wie ausgestorben. Nur vereinzelt drangen Geräusche aus den wenigen erleuchteten Häusern an seine Ohren. Sein neuer Mantel stank nach Pisse und Schweiß, kurz wurde ihm wieder übel. Offensichtlich war mehr Zeit vergangen, als er gedacht hatte; Tagesschlaf hatte ihn schon immer verwirrt. Die Rinnen zu beiden Enden der Gasse, welche die Abwässer der Haushalte sammelten, ehe sie in den Rhein gespült wurden, dampften in der Kälte der Nacht und legten einen dunstigen Schimmer über die Pflastersteine, die beinahe völlig darunter verschwanden. Hatte er sich getäuscht oder war gerade tatsächlich der Ruf einer Krähe zu hören gewesen?
Noch einmal. Jetzt war er sich sicher. Schon stießen die schwarzen Schwingen durch die Luft und das Tier landete nur einen Funkenflug vor ihm auf dem Boden. Der Dunst verschluckte den gefiederten Körper bis auf den Kopf. Der Schnabel öffnete und schloss sich, aber diesmal war nichts zu hören. Oder doch? Kraeh konzentrierte sich. Er hatte das übermächtige Gefühl, der Vogel wolle mit ihm in Kontakt treten, wollte ihm etwas sagen, ihn … warnen!
Er reagierte instinktiv. Mit einem schnellen Satz verbarg er sich in einer ausgesparten Nische eines Mauerfundaments. Schon hallten Schritte durch die Gasse, Kettenringe rasselten. Es handelte sich um mindestens zehn Mann, schätze er. Als die Patrouille einbog, flog die Krähe auf. Auf sie aufmerksam geworden, hob der Mann, der die Truppe anführte, seine linke, zur Faust geballte Hand in die Höhe, woraufhin die Soldaten hinter ihm anhielten. Wortlos machte der Mann noch einige Schritte, den Blick auf den sich schnell entfernenden Vogel geheftet. Er stand nun direkt neben Kraeh, der den Atem anhielt, während seine Hand lautlos zu Lidunggrimm wanderte. Der Offizier hatte die Enden seines Schnurrbartes nach oben gezwirbelt. Voller Konzentration lauschte er in die Totenstille. Gleich würde er ihn entdecken, dessen war der alte Krieger sich sicher, immerhin war sein Versteck nicht gerade ausgefallen. Der Mann brauchte nur den Kopf zu drehen. Wie viele würde er in der Überraschung niederstrecken können, bis sie ihn überwältigten?
Die Soldaten, welche in einer Zweierreihe auf ihren Vorgesetzten warteten, begannen, ungeduldig zu werden. »Der hat wohl ein Gespenst gesehen«, schnappte Kraeh auf und zu seiner Rettung auch der Offizier. Er wandte sich ab und der Vorlaute musste eine knappe Rüge über sich ergehen lassen. »Eli verlangt nicht mehr, als einen alten Sack in den Palas zu schaffen«, verteidigte sich der ausgescholtene Soldat.
»Ja, nur war dieser alte Sack zufälligerweise einmal der größte Krieger, den diese Welt kannte. Und genau deshalb, weil du es nicht sonderbar findest, dass wir auf der Suche nach der Kriegskrähe eine Krähe auffliegen sehen, wirst du niemals zum Offizier aufsteigen, geschweige denn, dass dich jemals ein Schwertorden als Ritter aufnehmen wird.
Los jetzt!«, befahl der Schnauzbart abrupt, offenkundig ärgerlich darüber, sich überhaupt auf diese Diskussion eingelassen zu haben.
Im Laufschritt zog der waffenstarrende Trupp am Schlupfwinkel Kraehs vorbei. Als er sich sicher war, dass sie weg waren, trat der Greis aus der Nische zurück auf die Gasse.
Wie er sich durch die menschenleeren Straßen stahl, tränten seine Augen und Schweiß perlte unangenehm seinen Nacken hinab. Fast schien es, als hätten seine Beine ein Eigenleben entwickelt. Ohne das direkte Geheiß ihres Besitzers trugen sie ihn durch die schmuddeligen Viertel der Unterstadt. Kraehs Gedanken gingen auf anderen Wegen, flogen zurück zu jenen Tagen, die er an Siebenstreichs Hof verbracht hatte, wo er zum letzten Mal sogenannten Rittern begegnet war. Die bretonischen Abgesandten, die damals dort verweilten, hatten jenen Rang bekleidet. Er hatte sich gut mit ihnen verstanden, jedoch nie genauer nachgehakt, was es mit ihren Titeln auf sich hatte, deshalb war sein Bild von einem Ritter vage. Der schnauzbärtige Soldat von vorhin allerdings wollte nicht einmal jener ungenauen Vorstellung entsprechen. Ein Ritter war doch zumindest hoch zu Ross anzutreffen, edel und tugendhaft in all seinem Betragen. Kraeh musste über sich selbst schmunzeln, er hatte doch wahrlich genug gehört und gesehen, um nicht auf solche Wunschbilder hereinzufallen.
Fischgeruch brachte ihn zurück in die Wirklichkeit. Hier im Hafenviertel lebte man anscheinend nach einer anderen Zeit. Letzte Verhandlungen wurden geführt, während die meisten Stände des kleinen Marktes, auf den er gedankenverloren zugegangen war, von ihren Betreibern soeben aufgeräumt wurden. Die Waren, Muscheln, Flusskrebse, vor allem aber Fische in jeder erdenklichen Form und Größe, wurden in von Salz glänzenden Stoff eingewickelt und anschließend in Körbe verpackt. Am nächsten Tag würden sie nur noch die Hälfte wert sein, ein Gesetz, das jenen, welche mehrere Körbe zu füllen hatten, in die schlecht gelaunten Gesichter geschrieben stand. Dennoch wurde bei der harten Arbeit, an der sich die ganzen Familien beteiligten, auch gescherzt und gelacht.
Kraeh lehnte sich an eine Ecke und sah den Männern, Frauen und Kindern dabei zu, wie sie Bretter vor die vom Tran klebrigen Ablageflächen türmten, Karren beluden und Mütter ihre Kleinsten mitten in all dem Schmutz und Gestank stillten. Es war offensichtlich ein rauer Alltag. Ungeachtet dessen rührte sich in Kraeh der Anflug von Bitterkeit. Nie nach seiner Jugend hatte er die Freuden eines solch einfachen Lebens kosten dürfen, nie erfahren dürfen, wie es sich anfühlte, einen eigenen Sohn in den Armen zu halten.
»Du da!«, gellte ein sehniger Halbstarker ihn an, der trotz der Kälte lediglich eine armfreie Strickjacke trug. »Willst du nur herumstehen oder dir ein bisschen Kupfer durch Arbeit hinzuverdienen?«
»Eigentlich wollte ich über den Fluss«, sagte Kraeh ein wenig aus der Fassung geraten. Nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, wartete hier nichts als eine dunkle Kerkerzelle und vielleicht eine glühende Zange auf ihn. Nein, er durfte nicht auf Hilfe hoffen und würde den Weg nach Erkenheim alleine meistern müssen. Geschliffen hin oder her, die Drudenfeste war sein Ziel. Er hatte kein anderes.
Der Bursche ließ von seinem Tun ab, kam ausladenden Schrittes auf ihn zu, setzte eine feixende Miene auf und meinte: »Da bist du nicht der Erste. Pass auf, ich bin hier eigentlich fertig, wenn du den Tisch da drüben schrubbst und kurz auf meinen Bruder aufpasst«, er deutete auf einen verloren wirkenden Jungen mit einem Lappen in der Hand, »kannst du mit übersetzen.«
Er wartete die Antwort gar nicht ab – augenscheinlich war das Angebot in seinen Augen viel zu großzügig, als dass es einen Sinn ergeben hätte, dieses auszuschlagen –, gab dem sommersprossigen Jungen einen Klaps und war schon um eine Ecke verschwunden.
Zugleich überrumpelt und erfreut, wie leicht ihm dies zugefallen war, trat Kraeh an den niedrigen Tisch, ließ sich den Lappen reichen und begann, die Überreste des Tages von dem maroden Holz zu wischen.
Der Junge mit dem fettigen, flachsblonden Haar sprach kein Wort. Auch als Kraeh sich als Henfir vorstellte, blieb der Kleine stumm. Da Kraeh gerade mit dem Tisch fertig war und sich daranmachen wollte herauszufinden, was den Jungen wohl so eingeschüchtert hatte, tauchte sein älterer Bruder wieder auf. Doch er kam nicht allein; fünf weitere Fischersöhne in seinem Alter trotteten hinter ihm her. Ihre abgetragenen Westen und Mäntel wölbten sich an den Hüften. Sie trugen Waffen.
»Mein Name ist Svain«, sagte jener, der ihm die Überfahrt angeboten hatte, während er den Jungen ein Stück mit sich schob, bis sie ein altes Weib erreichten, das ihn wie selbstverständlich an die Hand nahm. Sobald die beiden außer Sicht waren, stellte Svain die anderen vor. »Allesamt Freunde von mir«, schloss er. Und weil er Kraehs Blick zuvor bemerkt hatte, erklärte er, sie trügen Waffen zu ihrem Schutz, da man nie wisse, was der Fluss einem bringe, besonders des Nachts.
Kraeh tat die Rede mit einem »Aye« ab und folgte den wenig Vertrauen erweckenden Burschen die Straße hinab, welche zum Ufer führte.
Ein breiter Kahn, unstet im Wasser auf und ab schwappend, erwartete sie, ein gutes Stück von den letzten regulären Anlegestellen entfernt. Nur jene, die für die Pacht eines bewachten Ankerplatzes nicht aufkommen konnten, banden hier ihre Boote an Felsblöcke, die sonderbar einsam ihren stummen Dienst verrichteten und dabei einem, der nicht gesehen werden wollte, jede Menge Schutz böten. So dachte Kraeh, den Blick auf den siebten im Bunde gerichtet. Nachdem dieser von Svain gegrüßt worden war und das Halteseil losgebunden hatte, sprang der junge Mann ins brackige Wasser, das ihn bis zur Brust umspülte, und hielt das Boot gerade. Die Strömung schien nicht stark und den Übrigen gelang ein trockener Einstieg. Kraeh war froh, den Balanceakt hinter sich zu haben, da keiner der Burschen daran gedacht hatte, ihm eine Hand zu reichen. Schon wollte er nachfragen, als der zweite Passagier unvermittelt vor dem Bug und hinter Svain, der als Anführer das Boot als Letzter betreten würde, auftauchte. Svain musste ihn die ganze Zeit über gesehen haben, zumindest wirkte er nicht überrascht.
Zwei Dinge schossen Kraeh durch den Kopf. Wieso hatte er selbst ihn nicht früher bemerkt? Er hatte doch extra auf die Umgebung geachtet. Und woher, bei den enthaupteten Nornen, kannte er den Mann? Ein lang geschnittenes, schwarzes Cape gab nicht viel von seiner Statur preis, verdeckte auch die Haare, irgendetwas aber an seinen Bewegungen war unverkennbar. Sie waren zu genau, sparsam und allzu exakt ausgeführt. Sein Satz in den Kahn, dem es wohl selbst nicht aufgefallen war, dass er nun das Gewicht eines weiteren Reisenden tragen musste, so schnell und sacht zugleich war er zugestiegen, war formvollendet. Der Mondschein gab ebenmäßige Züge unter einem struppigen Bart preis.
»Ah …«, staunte Kraeh, im selben Moment vergegenwärtigend, dass es vielleicht von Vorteil war seine Bekanntschaft mit Arduhl zu verhehlen. »Ah ja, dann kann’s ja losgehen«, rettete er die Situation. Arduhl setzte sich ohne ein Anzeichen, ihn wiederzuerkennen, Kraeh gegenüber auf die wenig bequemen Querstreben, die das Boot anstelle von Bänken durchzogen.
Der junge Mann zog sich triefend auf den Kahn und Svain gab ihm mit seinem Sprung genug Schub, um abzulegen. Die beiden stakten sie mit zwei langen Stangen ein gutes Stück vom Ufer weg. Sobald die Strömung stärker und der Grund tiefer wurde, ließen sie davon ab und Svains Bande wickelte Ruder aus einer Kuhhautplane und begann, den Kahn mit kräftigen Zügen auf den Fluss hinauszuschippern.
Die Überfahrt würde eine Weile dauern. Kraeh streckte sich aus, so gut es ging. Jede Faser in ihm lechzte nach Ruhe und Erholung. Meine Güte, dachte er, bin ich alt geworden. Seine vor Müdigkeit tränenden Augen fielen zu; er ließ es geschehen. Sie öffneten sich erst wieder, als sie bereits auf der anderen Seite, in einen von Wasserpest bedeckten Seitenarm einliefen. Es war einer der wenigen im Einzugsgebiet Brisaks, welcher nicht der Flussbegradigung unter Brans Regentschaft zum Opfer gefallen war. Die ausladenden Wurzeln eines überhängenden Baumes diente ihnen als Anlegestelle. Der Kahn wurde vertäut und sie kletterten, an den klitschigen Wurzeln Halt suchend, an Land. Kraehs Magen fühlte sich flau an. Seine aus der Erschöpfung herrührende Konzentrationsschwäche hatte der unruhige Schlaf in dem Gasthaus nicht vertreiben können und sie war ihm nur allzu deutlich bewusst, als die sieben Burschen sich, sichtlich nervös, im Halbkreis um ihn und Arduhl herum gruppierten.
»Hier ist der Rest«, sagte Arduhl in seinem fremdländischen Akzent und warf Svain ein klimperndes Beutelchen zu.
Der Angesprochenen ließ es, ohne einen Blick darauf zu werfen, in einer Tasche verschwinden.
»Wir wollen das Doppelte. Und sein Schwert.«
Kraeh erinnerte sich, wie beim Erwachen sein Mantel von Lidunggrimms Scheide gerutscht war. Schon wieder Ärger wegen der kostbaren Klinge! Früher hatte sie einmal den Zweck gehabt, Ärger zu beseitigen …
Arduhl blieb stumm. Er schien ebenso wenig überrascht von der Wendung wie Kraeh selbst, nur hätte Kraeh, wäre er alleine gewesen, eher auf eine schnelle Flucht gebaut. Svain und seine Jungs hatten von Anfang an geplant, sie aus der Stadt zu bringen, um sie hier im mehr oder minder rechtlosen Raum in Ruhe auszunehmen. Waren eigentlich alle Menschen schlecht oder hatte er in der letzten Zeit einfach nur Pech? Der Südländer trat vor Kraeh, seine Hände waren unter den Falten seines Capes verschwunden. Auch die der anderen wanderten zu ihren Hüften.
Auf einmal überschlugen sich die Ereignisse. Kraeh bemerkte die Bewegung am Rande seines Blickfeldes zu spät, um dem Knüppel ganz auszuweichen. Er traf ihn hart an der Schulter und schmetterte ihn mit dem Rücken gegen den Stamm des Baumes, durch dessen karge Krone das Mondlicht den Platz des Geschehens beleuchtete.
Als er sah, wie jener, der den Schlag gegen ihn geführt hatte, von der Wucht seines Hiebes leicht aus dem Gleichgewicht geraten, in Arduhls Schwert lief, das dort auf wundersame Weise wie aus dem Nichts aufgetaucht war, entschied er sich, dem Folgenden als Zuschauer beizuwohnen und seine Zurückhaltung nur aufzugeben, falls es nötig werden würde – wozu es nicht einmal im Ansatz kommen sollte.
Arduhls Bewegungen waren ein Liebesgeständnis an seine Klinge. Sie berührte die anderen Waffen nicht, sie waren es nicht wert, nur ihre Besitzer bekamen ihren Kuss zu spüren. In unglaublicher Schnelligkeit und Präzision tauchte sie in sie ein und wieder hinaus. Noch nie hatte Kraeh bei einem Schwertkampf so wenig Blut fließen sehen. Einer nach dem anderen, der den Kuss empfing, sackte in sich zusammen; den Boden noch nicht ganz erreicht, fiel schon der Nächste. Es war, wie einem Künstler des Todes zuzusehen.
Als er mit ihnen fertig war, wischte Arduhl den Stahl an Svains Weste sauber.
»Hast du ein Ziel, alter Mann, oder suchst du nur nach einem raschen Tod?« In seiner Stimme schwang ein Hauch von Verachtung mit.
»Ich bin auf dem Weg nach Erkenheim, zu einer alten Bekannten.«
Arduhls Miene zeigte auch jetzt kein Erstaunen, er schürzte nur die Lippen und bedeutete dem Alten – wie selbstverständlich davon ausgehend, dass sie gemeinsam reisen würden – vorauszugehen. Kraeh massierte sich die geprellte Schulter und kam mühsam auf die Beine. Er orientierte sich kurz am Nordstern und schlug dann eine ungefähre Richtung in den schlüpfrigen Untergrund des Auenwaldes ein.
Lidunggrimm schnurrte in ihrer Scheide, enttäuscht, den Tanz verpasst zu haben. Kraeh beruhigte sie in Gedanken matt: Unser Tag wird kommen.
* * *
Sie waren nicht lange gegangen, als Kraeh nicht mehr weiterkonnte. Wenig erfreut gestand Arduhl ihnen eine Rast bis zum Morgengrauen zu. Der Alte erstaunte ihn dadurch, einen Schlafplatz zu finden, der frei von Schlick und Schlingpflanzen war, über die man immerfort stolperte und deren Dornen Schlitze und Löcher in Arduhls Lederstiefel gerissen hatten, durch die nun die kühle Nässe seine Füße heimsuchte. Er war die rauen Höhen der Gebirge von Morak und die trockene Einsamkeit der Mura-Steppen gewohnt; diese klamme Sumpflandschaft aber, in der sie sich befanden, zehrte an seinen Nerven. Er wrang den Stoff aus, den er um seine Füße zu wickeln pflegte, und folgte dann mit kleinmütigem Widerwillen, den er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dem im Plauderton vorgebrachten Rat des Alten. Angewidert sah er seinen Händen dabei zu, wie sie die Stiefel dick mit dem Fett beschmierten, das er sonst gebrauchte, um seine Schwertscheide geschmeidig zu halten. Schließlich hängte er Stofflappen und nun matt glänzendes Schuhwerk an einem niedrigen Ast auf, dass der Wind damit spielen konnte.
Da der Alte auf die Frage, ob er in diesen Gebieten aufgewachsen sei, schon nicht mehr antwortete, bettete Arduhl seinen in die Kapuze gehüllten Kopf auf einen umgestürzten Baumstamm und schloss, obwohl er keine Müdigkeit verspürte, die Augen. Alles ist lediglich eine Sache des Willens, vergegenwärtigte er sich die Lehrworte seines Großneffen Idrahims, der damals das erste Viertel seiner Ausbildung übernommen hatte. Wir sind nicht mehr als die Summe jener Fähigkeiten, die wir uns in unserer Jugend zu eigen machen.
Ob der Greis, der mittlerweile geräuschvoll schnarchte, wohl ahnte, welche Kräfte sie zusammengeführt hatten? Es war gleich. Er würde sich von ihm aus diesem ungastlichen Landstrich führen lassen, der nicht besser geeignet hätte sein können, seine Spuren zu verwischen, und ihn dann seinem Schicksal überlassen.
Er konzentrierte sich darauf, sich auf nichts mehr zu konzentrieren, und schlief kurzerhand ein.
Die Sonne reizte seine Nase und ein heftiges Niesen ließ ihn schließlich hochfahren. Sie hatten verschlafen! Nicht sie, wie Arduhl kurz darauf aufging. Henfir oder wie auch immer der Alte heißen mochte, saß ein kleines Stück entfernt über einem knisternden Feuer, das kaum Rauch entwickelte. Auf einem aus hellen Zweigen errichteten Rost über der Feuerstelle, brodelte ein Sud in seinem Tonbecher, den der Alte ihm entwendet haben musste, als er noch geschlafen hatte.
Zerknirscht kam Arduhl auf die Beine, seine Nase war zu und in seinem Hals hatte sich über Nacht ein unangenehmes Kratzen eingenistet.
»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, fragte er schlecht gelaunt, während er neben das Feuer trat und von oben in seinen Becher schielte. Mit einer Geste, die ihm zu verstehen gab, dass das Getränk seinem Hals wohltun würde, bot Kraeh ihm den Becher an, nachdem er selbst einen Schluck daraus genommen hatte. Als Arduhl das dampfende Gebräu, immer noch auf eine Erwiderung wartend, an die Lippen setzte, hob Kraeh in provozierendem Tonfall zur Gegenfrage an: »Wieso habt Ihr, Arduhl ap Tulaf, die heilige Isabel an ihrem letzten Morgen nicht geweckt?«
Das hatte gesessen. Und Kraeh war besonders stolz darauf, den vollen Namen seines Gegenübers behalten zu haben, den er von einem der Zwillinge aufgeschnappt hatte, als er in dem Gasthaus der stille Zeuge ihrer Grausamkeiten geworden war.
Der Südländer nahm einen großen Schluck von dem bitteren Sud, ohne die Miene zu verziehen, kniete sich hin und gab dem Alten den Becher zurück. Ihre Gesichter waren einander nun so nah, dass sie sich beinahe berührten.
»Die Schnepfe konnte einfach den Mund nicht halten.« Seine Stimme war flach und ausdruckslos. Kraeh kannte diese Art zu sprechen von Sedain und er wusste ja auch so bereits, dass sein Gegenüber nicht zu jener Sorte Hund gehörte, die laut bellte, weil ihre Zähne stumpf waren.
»Am Ende«, fuhr Arduhl fort, »erging es ihr wie allen, die zu viel reden.« Es stand außer Frage, er wollte drohen, aber etwas in den dunklen Augen verriet Kraeh, dass ihm der Tod Isabels, obgleich sie ihm als Mittel zum Zweck gedient hatte, keinesfalls gleichgültig war. Auch deshalb, vor allem jedoch aus einer alten Charakterschwäche heraus, gegen die er längst aufgegeben hatte anzukämpfen, stichelte er weiter.
»Wie war das, all die Monde mit dieser Schönheit zu vögeln, nur um die eigene Haut zu retten?«
Kraeh provozierte, um die Wahrheit ans Licht zu locken, gleich wie hässlich oder unbarmherzig sie sein mochte. Ihre Blicke trafen sich erneut. Ein Windhauch strich durch die weißen und schwarzen Haare der beiden Männer. Kurz nur mahlten Arduhls Wangenknochen, dann fasste er sich wieder. Er war zu beherrscht, etwas Unüberlegtes zu sagen. Außerdem wusste der Alte schon zu viel; hätte er im Zorn noch mehr preisgegeben, wäre dessen Tod beschlossene Sache gewesen und aus irgendeinem Grund, den er noch nicht recht verstand, mochte Arduhl den greisen Sonderling.
»Wir brechen auf«, wandte er sich endlich ab, um seine Stiefel und Socken vom Baum zu pflücken; der Alte hatte seine anbehalten. Und das war ein Segen, auch so, vom Feuer angewärmt, verströmten sie einen bestialischen Gestank. Der Alte lachte über den Gesichtsausdruck des Jüngeren und Arduhl grinste zurück. Der alte Stinker hatte sich etwas Heiteres, Unbedarftes, ja Jugendliches bewahrt und das gefiel Arduhl.
* * *
Drei Tage waren sie mittlerweile unterwegs. Nach dem letzten Gespräch hatten sie, trotz gegenseitiger Gewogenheit, ihre Wortwechsel auf das Nötigste beschränkt. An einem Morgen hatte Kraeh sich schlafend gestellt und seinen Weggefährten dabei belauscht, wie er weniger zu einem Gott als zu einer allumfassenden schöpferischen Macht, einer Essenz des Lebens gebetet hatte. Sie befanden sich in einem merkwürdigen Abhängigkeitsverhältnis. Zuweilen musste Arduhl den Älteren stützen, wenn diesen die Kräfte verließen, zugleich kannte Kraeh in den Gefilden seiner Heimat viele nützliche Kniffe, die einem das Leben erleichterten. Zusätzlich gab er unterschwellig vor, den Weg zurück in die Zivilisation zu kennen. Wenn er ehrlich war, hatte er keine Ahnung, wo genau sie sich befanden. Immerhin wusste er, anscheinend im Gegensatz zu Arduhl, dass die Festung Erkenheim vor mehr als dreißig Jahren geschliffen worden war. Der Südländer verband mit dem Namen wohl einen Glanz längst vergangener Zeiten und kannte ihn vermutlich lediglich aus Sagen und Legenden. Kraeh sprach diesen Punkt natürlich nicht an, da er auf den anderen angewiesen war und dieser glücklicherweise auch nicht nachfragte.
Ein kleiner Bachlauf, der ihm vage bekannt vorkam, zerstreute zumindest ein wenig den Zweifel, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Sie folgten ihm, bückten sich unter Astwerk hindurch, schlenderten vorbei an Pilzkolonien, stets begleitet vom Quaken der Frösche und Unken, die Arduhl suspekt waren, da man sie trotz ihrer nicht überhörbaren Masse so selten zu Gesicht bekam.
»Wo verstecken sich all diese Biester?«, fragte der Südländer mürrisch. Gleichwohl er mehr zu sich selbst gesprochen hatte, zeigte Kraeh ihm kurz darauf einen der Quäker. Vorsichtig am Rücken gepackt zeigte er den gelben Bauch des zappelnden Tiers.
»Man kann daran lecken«, meinte Kraeh, »bringt interessante Wachträume. Haben wir früher oft …« Er brach ab. Ein Geräusch hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er setzte die Kröte auf den Boden. Arduhl hatte die Hand schon am Schwertgriff. So leise wie möglich bewegten sie sich auf die Quelle des Klanges zu, der sich beim Näherkommen als Tonfolge entpuppte. Jemand sang. Eine Frau mittleren Alters, das wirre Haar zum Zopf hochgesteckt, pflückte, in ihre Weise versunken, in gebückter Haltung ein Kraut, das am Bachlauf wuchs. Als sie die beiden über und über mit Dreck beschmutzten Männer sah, fuhr sie erschrocken hoch.
»Es ist in Ordnung«, versuchte Arduhl, der ein wenig vorangegangen war, sie zu beruhigen. »Wir wollen dir nichts Übles.«
Kraeh, der etwas außer Puste hinzukam, lächelte der Frau, die nun versteift dastand, freundlich entgegen. »Wir wollen nach Erkenheim. Kannst du uns sagen, wo wir es finden?«
»Erkenheim, kein Stein, mehr auf dem andern steht«, trällerte sie in derselben leicht schiefen Melodie wie zuvor. Der Reim hatte sie offenbar mit dem Anblick der beiden Fremden versöhnt. Sie schien keine Angst mehr zu haben. Wenig feminin wischte sie ihre vom Pflücken nassen Hände an dem Latz ab, den sie über ihrer kurzen braunen Tunika und dem verblichenen Rock trug.
»Ja, ja sicher«, murmelte sie. »Besuch ist selten dieser Tage, müsst ihr verstehen.«
»Besuch?«, hakte Arduhl nach, doch sie hatte die Kräuter bereits verstaut und winkte den beiden, ihr zu folgen. »Kommt, kommt. Nach Erkenheim, mit Stock und Bein …« Sie sang und summte, den ganzen Marsch über Worte in unsinniger Reihenfolge aneinanderreimend.
Ohne dass sich an der Landschaft etwas merklich verändert hätte, zumindest nichts, was den beiden Männern aufgefallen wäre, breitete sie schließlich die Arme aus. »Willkommen in Erkenheim!«
Auch auf den zweiten Blick konnte Kraeh nichts erkennen, was seine Erinnerung wachgerufen hätte. Der Untergrund war hier vielleicht ein wenig trockener, aber überall wuchsen Farne und Sträucher sowie Bäume, von denen Lianen herabhingen. Er ging, ohne auf die beiden anderen zu achten, ein paar Schritte, und tatsächlich, als er mit seinem Stiefel Moos beiseitewischte, traf er auf etwas Hartes. Er kniete sich hin und machte mit den Händen weiter. Eine Platte. Und dort drüben, nicht weit von ihm entfernt, glänzte, von Grünzeug überwuchert, ein Stück weißen Steins aus einem Erdhaufen.
Sie waren also tatsächlich an ihrem Ziel angelangt. Unglaublich, wie schnell die Natur sich zurückgenommen hatte, was einst ihres war, ehe der Mensch seine Mühe darauf verwendet hatte, ihr Antlitz in seinem Sinne zu gestalten. Kraeh dachte unwillkürlich an den Pan, der ihm in diesen Wäldern Lidunggrimm und Pian Anam überreicht hatte.
»Folgt mir«, sagte die seltsame Frau in seinem Rücken, »die Herrin erwartet euch bestimmt schon.«
»Das ist also der Hochsitz der Drudenkönigin, die unbezwingbare Festung, zu der wir aufgebrochen sind?«, fragte Arduhl schneidend, während sie ihrer dem Anschein nach zielsicheren Führerin hinterhergingen. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich die Dinge verändert haben. Aber das hier …« Frust und Enttäuschung waren nicht zu überhören. »Das geschieht, wenn man dem Gerede des einfachen Volkes Glauben schenkt, das stets mehr im Gestern als im Heute lebt. Ich hätte es besser wissen sollen.«
Kraeh dachte sich seinen Teil, sagte aber nichts.
Die Frau bog um eine mistelübersäte Eiche, deren breiter Stamm gewiss älter als drei Dekaden war. Ihre Wurzeln hatten das steinerne Fundament gesprengt, dessen sie nun, da sie einem Trampelpfad hinab folgten, ansichtig wurden. Wo jetzt die Eiche stand, ging es Kraeh durch den Kopf, musste einst einer der hohen Türme, die durch hängende Bögen miteinander verbunden gewesen waren, gen Himmel geragt haben.
Die Frau klopfte, unnötigerweise, wie die beiden Männer fanden, an eine eingefallene, von Wurzeln und Efeu umrankte Tür und trat in einen abwärts führenden Gang. Der Geruch von Moder und Fledermauskot stieg ihnen in die Nase. Ihnen war es eher, als stiegen sie in eine vergessene Gruft denn in einen Thronsaal, um einer Königin ihre Aufwartung zu machen. Der Tunnel war nicht beleuchtet und so tapsten sie bald in völliger Finsternis voran, verfolgt von dem Echo ihrer eigenen Stöhnlaute, wenn sie sich an einem der aus dem Nichts auftauchenden Vorsprünge die Ellbogen stießen.
Die bis hierher verstummte Führerin bat sie, einen Moment zu warten. Sie klopfte erneut gegen Holz, dumpf hallte das Echo an ihnen vorbei und dann öffnete sich knarrend der Eingang zu einer kleinen Halle, die Kraeh sofort wiedererkannte. Nur hatte er sie das letzte Mal auf einer anderen Seite verlassen und der Eingang, den sie jetzt benutzt hatten, war entweder neu angelegt worden oder damals verborgen gewesen. Aber es war ohne Zweifel derselbe Raum, in dem er nach seiner Reise über den Styx erwacht war: derselbe jadesteinerne Boden, dieselbe grün-weiße Musterung an der kuppelförmigen Decke, welche in die gleichartig beschaffenen Wände überging. Vorsichtig betrat Kraeh den glitschigen Rand des Beckens, das den größten Teil des Raumes einnahm. Der einzige Unterschied zu seinem letzten Besuch hier bestand darin, dass das große Becken nicht mehr mit der golden schimmernden Flüssigkeit angefüllt war. Lediglich eine Pfütze Nass bedeckte den Grund, auf dem eine zusammengekauerte Gestalt hockte.
»Erkentrud«, stieß Kraeh aus, als er unter dem einstmals gülden fallenden Haar, das nun zu einem verfilzten Etwas verkommen war, die markanten Züge der Drudenkönigin erkannte. Sie war noch immer schön, wie sie zu den Besuchern nach oben blickte, aber etwas an der Art, wie diese sie ansah, stimmte nicht. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. »Mein Krieger ist zu mir zurückgekommen«, sagte sie kehlig.
Kraeh wollte sich schon freuen, dass sie ihn hinter all der faltigen Haut ebenfalls erkannte, doch auf einmal kamen ihm Zweifel, ob sie wirklich wusste, wer da vor ihr stand.
»Wieso gibt es kein Salz mehr auf die Eier, Lischa?« Traurigkeit mischte sich in Erkentruds Stimme. »Zu lange ließest du mich warten.«
Kraeh war sprachlos. Nun erst begriff er, die einst so stolze Königin war dem Wahnsinn anheimgefallen. Eine Woge des Mitleids überkam ihn. Noch bedauernswerter war, dass sich zumindest ein Teil von ihr ihres Irrsinns bewusst zu sein schien, wie er von ihren gläsernen Augen abzulesen glaubte, welche zu viele Jahre im Fackelschein gewohnt hatten, um einen einzelnen Punkt zu fixieren. Abrupt sprang sie auf. Sie schwankte kurz und raufte sich die Haare. »Wir brechen auf!«, rief sie aus. »Lou, lass meinen Streitwagen anspannen und meine Kriegerinnen antreten!« Mit einem Mal war sie aus dem Becken geklettert und rauschte, Arduhl beiseitefegend, an den verdutzt Dreinblickenden vorbei in den Tunnel.
»Ihr müsste verstehen, sie schläft schon lange im Schoß der Göttin«, erklärte die Dienerin das sonderbare Gebaren ihrer Herrin. Kraeh und Arduhl, denen sie ebenso verschroben vorkam wie Erkentrud selbst, nickten bloß und folgten den sich schnell entfernenden Schritten der Königin.
»Wo sind all die anderen Druden hin?«, fragte Kraeh über die Schulter hinweg, während sie durch den schmalen Gang nach oben liefen.
»Als die Barrieren brüchig wurden, hat Erkentrud sie entlassen, um ein Blutvergießen zu verhindern«, raunte Lischa, als gebiete die Schwärze um sie herum den Flüsterton. »Sie befahl ihnen, sich den Firsen anzuschließen, die das Gesetz der Göttin kennen.«
»Einzig ich bin geblieben«, fügte sie kaum noch vernehmbar hinzu.
Am Ende des Ganges holten sie Erkentrud ein. Die Finger in Stein und Erde gekrallt stand sie und schmiegte sich ins letzte Schutz gewährende Dunkel. Ihre Augen starrten weit aufgerissen in das fahle Sonnenlicht, das draußen herrschte, die Pupillen derart geweitet, dass sie nur einen kaum wahrnehmbaren Streifen der blauen Iris übrig ließen. Die beiden anderen waren schon an ihr vorüber, als Kraeh ihr seine Hand anbot: »Komm, ich helfe dir.«
Sie kicherte. »Aber wir sind zu früh.«
»Zu früh für was?«
Ihr Kopf wackelte, anscheinend belustigt über sein Unverständnis.
»Für die Männer, die ich habe kommen sehen, natürlich«, sagte sie immer noch spöttelnd.
»Königin«, setzte Kraeh an, einerseits, um nicht selbst völlig den Respekt vor ihr zu verlieren, andererseits, um sie daran zu erinnern, wer sie war, und sie somit vielleicht zur Besinnung zu bringen.
»Königin der Druden«, wiederholte er, »niemand wird kommen. Wir sind mitten …«
Das war unmöglich! Sich rasch nähernde Schritte drangen an ihre Ohren. Kettenhemden rasselten durchs Unterholz.
Es war zu spät, um sich zu verstecken. Man hatte sie bereits entdeckt. Ein Dutzend waffenstarrender Orks trampelte aus dem Wald. Sie nahmen einen offenen Halbkreis als Kampfformation an, in dessen Mitte der hässlichste und stärkste, auf dessen grünem Gesicht Narben und Kriegsbemalung prangten, sich ihnen bedrohlich näherte. »Gebt uns die Frauen und alles, was ihr sonst noch habt, dann lassen wir euch vielleicht am Leben«, grunzte er übellaunig.
»Die meinte ich nicht«, flüsterte Erkentrud, ihr Kichern erstarb. Und in einer Gebärde, in welcher sich die Stärke der einstigen Herrscherin offenbarte, schlug sie ihr schmutztriefendes Kleid beiseite und zog Pian Anam. Lidunggrimm sprang beinahe von selbst aus seiner Scheide, ebenso verblüfft und entzückt über die Präsenz der Schwesternklinge wie ihr Träger. Lischa flüchtete in den Tunneleingang zurück und Arduhl machte katzenhaft einen Sprung rückwärts. Schulter an Schulter standen nun er, Kraeh und die einstige Königin, während sich der Halbkreis um sie zuzog.
Einer, der sich wohl Lorbeeren verdienen wollte, hatte sein Schwert vorwitzig an Arduhls still in der Luft stehenden krummen Klinge schleifen lassen; im letzten Moment versuchte er, in Richtung des Handgelenks zu stechen – was ihn den Arm kostete, als Arduhl blitzschnell reagierte. Es gab immer einen Dummen in Lagen wie diesen, dessen Blut vergossen werden musste, um die anderen mutig zu stimmen. Die Ruhe vor dem Sturm war gebrochen. Pian Anam vollzog einen Bogen und drängte dabei drei der Angreifer zurück. Kraehs Arme waren zu schwach für Rundschläge, deshalb setzte er Lidunggrimm wie einen Speer als Stoßwaffe ein, wurde aber von einer Axt so hart pariert, dass es ihm gerade noch gelang, nicht mitten unter die Feinde gerissen zu werden. Er versetzte dem Axtschwinger einen Tritt in die Lenden, der von seinem knielangen Kettenhemd abgepolstert wurde. Wie er in die streitlustigen Fratzen der drei Orks, die ihm am nächsten standen, blickte, überlegte er, wer von ihnen der schwächste Gegner sein würde. Es war immer gut, erst einmal die Zahl des Feinds zu mindern und sich am Ende mit den wirklich harten Brocken auseinanderzusetzen. Hätte Erkentrud nicht in diesem Augenblick einem auf sie Eindringenden den gesamten Torso von unten bis zum Hals aufgeschlitzt, hätte er auch in Erwägung gezogen, einen tollkühnen Ausfall zu vollführen, um den beiden anderen die Gelegenheit einiger tödlicher Streiche zu bieten. Seine Überlebenschancen in diesem Kampf, so wurde ihm bitter bewusst, gingen ohnehin gegen null. Den nächsten Schlag parierte er direkt vor seinem Gesicht. Nach dem heftigen Aufprall nahm er die Linke vom Griff Lidunggrimms. Für einen Wimpernschlag war er dem stinkenden Atem des Orks ausgesetzt, währenddessen grapschte er an den Gürtel des Gegners, fand einen Dolch, zog ihn und rammte ihn dem Ork in den ungeschützten Oberschenkel. Grunzend drückte der Verletzte in blinder Wut die beiden Klingen runter auf Kraehs Schulter, dem es gerade noch gelang, Lidunggrimm auf die Breitseite zu drehen. Dennoch reichte die Wucht aus, ihn einknicken zu lassen. Er fand keine Zeit, auf die Beine des nun außer sich Geratenen einzustechen. Den eigenen Dolch im Oberschenkel, drosch der Ork, Schaum vorm Mund, immer wieder von oben auf Kraeh ein. Lange würde er nicht mehr aushalten können, dachte er verzweifelt, da zuckte die Spitze von Arduhls Krummschwert in die Brust des Feindes. Der Ork blickte an sich hinab, besah ungläubig die offenen Ringe seines Kettenhemdes und den roten Fleck, der sich langsam ausbreitete. Dann brach er in sich zusammen. Schon hatten zwei neue seinen Platz eingenommen. Kraeh fehlte die Kraft, sich aufzurappeln. Es war vorbei. Doch was war das? Hörte er bereits in die nächste Welt hinein, waren es die Rösser Donars, die da gegen seine Schläfen pochten?
Ein Morgenstern ließ den Kopf jenes Orks platzen, von dem er erwartet hatte, dass dieser ihm im nächsten Moment den Todesstoß versetzen würde. Ein Wurfspeer ragte plötzlich aus der Brust des nächsten.
Als er es schließlich doch noch schaffte, seinen Körper aufzurichten, waren alle Orks niedergemacht oder lagen sich windend in ihrem eigenen Blut.
Die Reiter stiegen nicht ab. Sie thronten auf ihren Streitrössern und gewährten den Sterbenden vom Sattel aus den Gnadenstoß. Erkentrud und Arduhl schienen unverletzt. Arduhl wog kurz ab, senkte dann aber seine Waffe. Nicht weil er sicher gewesen wäre, von Freunden errettet worden zu sein, sondern wegen der schieren Aussichtslosigkeit auf Erfolg gegen gut dreißig Männer auf Pferden.
»Die habe ich gemeint«, sagte Erkentrud schwer atmend.
Die Behandlung, welche sie von den mit Kreuzen geschmückten Soldaten erfuhren, war allerdings beinahe ebenso unerfreulich wie das Zusammentreffen mit den Orks. Auch wenn sie noch nicht wussten, was für einen bedeutenden Fang sie gemacht hatten, zeigten die Männer sich doch von Anfang an misstrauisch gegen den Südländer und seine seltsamen Gefährten. Dass man sie nicht in Ketten legte, war das Äußerste an Freundlichkeit, das man ihnen entgegenbrachte. Nachdem man sie grob ihrer Waffen entledigt hatte, stiegen auf Befehl hin zähneknirschend drei Männer von ihren Pferden ab, deren Zügel aneinandergebunden wurden, ehe Erkentrud, Kraeh und Arduhl harsch auf die Sättel befohlen wurden. Die drei Soldaten, die sie sich ohne eigenes Zutun zu Feinden gemacht hatten, schwangen sich hinter Kameraden in den Sattel.
Sie brachen auf. Kraeh und Arduhl taten keinen Mucks, Erkentrud hingegen entließ Lischa lautstark aus ihren Diensten. Als der Soldat zu ihrer Rechten wissen wollte, mit wem sie da redete, erschrak sie und sah zu Boden.
»Mit niemandem«, lenkte Kraeh ein, »ihr Geist ist verwirrt.«
Die Königin blinzelte dem Mann zustimmend entgegen, und sobald er wegsah, schenkte sie Kraeh einen vernichtenden Blick. Verstand sie nicht, dass er wahrscheinlich gerade das Leben ihrer Dienerin gerettet hatte? Aber wie er stumm auf dem Rücken des schnaubenden Tieres saß, überkam den Alten erneut das betäubende Gefühl, dass nun sowieso alles gleichgültig war. Was hatte er sich eigentlich vorgestellt? Dass er Erkentrud fand und sie ihm einfach so eine zweite Jugend schenkte? Aye, ungefähr das hatte er sich gedacht, gestand er sich ein. Was für ein Tor er doch war! Am besten wäre es wohl, sie würden ihn gleich hier aufknüpfen, ehe er sich der nächsten kindischen Hoffnung hingeben konnte. Während er den Blick über die grimmig dreinschauenden Soldaten schweifen ließ, die zuweilen lüstern auf Erkentrud starrten, zuweilen flugs die Hände auf ihre Waffen legten, wenn Arduhl auch nur seinen Kopf unerwartet drehte, ging ihm auf, dass eine Hinrichtung keineswegs eine abwegige Aussicht war.
Als einer, der als Kundschafter vorausgeritten war, zurückkehrte mit der Nachricht, er habe den Weg wiedergefunden, lockerte sich die Stimmung allerdings auf. Obgleich das Reich der Druden zerfallen war, flößten die Wälder dem, der die Geschichten kannte, immer noch Respekt, wenn nicht gar Angst ein. Da sie jetzt die Bestätigung hatten, wieder aus ihnen herausgeführt zu werden, brachen die Soldaten ihr Schweigen und die in Gewahrsam Genommenen erfuhren, dass sie vermutlich von Botlim-Orks, die aus ihrem Reservat ausgebrochen sein mussten, attackiert worden waren.
Ein fernes Donnergrollen brachte den kommandierenden Offizier dazu, seinen Leithengst in einen leichten Trab verfallen zu lassen, der von den übrigen Tieren in altem Herdenbewusstsein aufgenommen wurde. Trotzdem erreichten sie ihr Ziel nicht, ohne in einen heftigen Regenguss zu geraten. Durchnässt bis auf die Haut ritten sie auf ein aus massiven Holzpfeilern errichtetes Tor zu. Die ehemalige Garnison war zu einem Städtchen herangewachsen, dessen Bewohner, als der Platz im Inneren der Palisade nicht mehr ausreichte, ihre Hütten und Häuser doch immerhin so nahe wie möglich an den Sicherheit ausstrahlenden Wall gedrängt hatten, was dem Ganzen einen etwas seltsamen Anblick verlieh.
Kraeh bemerkte, wie gut Erkentrud die Nässe stand, während sie durch das nach außen aufschwingende Tor ritten. Das Haar klebte ihr auf Stirn und Wangen und die durchtränkte Kleidung betonte ihre immer noch beeindruckenden weiblichen Formen. Direkt hinter dem Tor wurden sie schon von noch mehr Männern in Waffen erwartet, von denen einer deutlich herausstach. Er war nicht eben groß zu nennen, doch sein mit Gold überzogener Flügelhelm und sein mit dem Bullen Brisaks bestickter Überwurf wiesen ihn als denjenigen aus, der über ihr Schicksal entscheiden würde.
»Eli!«, entfuhr es Arduhl.
Nach einer kurzen Musterung, die ein sardonisches Lächeln auf den Mund des Befehlshabers zauberte, machte er eine Handbewegung, die unverzüglich zur Folge hatte, dass man sie unsanft von den Pferden zog.
»Bringt sie zu den anderen Gefangenen«, sagte Eli in einem Tonfall, der Widerworte weder kannte noch jemals geduldet hätte. »Und verdoppelt in Anbetracht unseres berüchtigten Besuchs die Wachen – auch wenn er kaum von Dauer sein wird.« Dabei nahm er den Helm ab und fixierte Arduhl in einer Weise die keinen Zweifel daran ließ, dass er ihm am liebsten auf der Stelle das Herz aus der Brust geschnitten hätte.