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2. Alte Freunde, neue Tänze

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Sedain saß, aufrecht wie gewöhnlich, an seinem wohlgeordneten Schreibtisch. Die Herbstsonne, noch nicht weit über dem Meereshorizont aufgestiegen, blendete ihn einen Moment und warf Schatten in sein akkurat eingerichtetes Turmzimmer, hoch über den Dächern Dundolchs. Ehe der Winter mit seinen klaren Himmeln einbräche, würde er einen Kammerdiener damit beauftragen, die Vorhänge wieder anbringen zu lassen.

Er nahm die Schwanenfeder, tauchte sie ins Tintenfass und überflog noch einmal das Schriftstück vor ihm. Die Verteidigung weist drauf hin … einen Schaden von 60 Tinnios … angestiftet von … Auflistung der Zeugen … Familienverhältnisse des Angeklagten, Frau verstorben, Vater zweier Töchter … Seine Unterschrift war ohne Bögen und Schnörkel, nüchtern und trocken, wie sein Amt es verlangte. Die Verteidigung hatte sich gut vorbereitet, aber der Halbelf war sich sicher, dennoch eine Haftstrafe bewirken zu können. Er dachte an seine eigene Ziehtochter, die er als Säugling vor sechzehn Jahren unter seine Obhut genommen hatte. Vorlaut und furchtlos war sie ihm gestern entgegengetreten, als er sie zur Rede gestellt hatte. In anderen Zeiten hätte er ihr einfach den Kopf dieses Bengels, mit dem sie sich heimlich traf, präsentiert. Bei nochmaliger Überlegung: In anderen Zeiten hätte er sich kaum um ein undankbares Balg gekümmert. Später würde er einfach zum Vater dieser Missgeburt gehen, der auch am Hof beschäftigt war, und ihn auf die Konsequenzen für seine Karriere hinweisen, sollte dieser sich erdreisten, den Nachstellungen nicht entschiedenst entgegenzuwirken. Ein verhaltenes Klopfen zog ihn aus seinen Gedanken.

»Herein.«

Dunjal! Diese einfältige Person, deren einzige Qualität, die Angehörigkeit zur Elfenrasse, Sedain dazu bewogen hatte, diesem den Posten seines Gehilfen zu beschaffen – eine Entscheidung, die er zutiefst bereute. Zaghaft trat Dunjal in den Raum. Seine verweichlichten Gesichtszüge wurden heute noch von seiner geschmacklosen Kleidung untertroffen. Wer zur Hölle trug schon gelbe Lederstiefel?! Widerwillig hob Sedain seinen Blick. Der Störenfried hatte irgendetwas gesagt.

»… ich dachte nur …«

»Und schon lügst du!«, schnaubte Sedain.

»Ich dachte, wir könnten den Grafen von Ulfenstein zu einem Mahl einladen, um die unerfreuliche Angelegenheit seines Neffen zu besprechen«, überging Dunjal die beleidigende Art seines Vorgesetzten, an die er sich mittlerweile katzbuckelnd gewöhnt hatte.

Es war eine gute, wenn auch nicht originelle Idee. Am besten löste man gerichtliche Konflikte, sofern sie einflussreiche Leute betrafen, im Vorfeld. Dies gebot nicht allein die Etikette, sondern auch der gesunde Menschenverstand.

»Unerfreulich sind vor allem deine Heimsuchungen vor dem Mittagessen. Aber schick ruhig einen Boten zu ihm, selbstredend nur, wenn du deine ansonsten nutzlose Existenz mit ein klein wenig Daseinsberechtigung anfüllen willst.«

Dunjal verbeugte sich und verschwand, wie er gekommen war.

In zwei Wochen war Gerichtstag, aber bisher waren keine komplizierten Fälle aufgetreten, die er zu bearbeiten hatte, und so wandte Sedain sich seiner Nebenbeschäftigung zu. Er zog eine Schublade auf und hielt mit einem Griff einen Stapel Blätter in der Hand, die er auf dem Tisch zu sortieren begann. Es waren Namenslisten der zur Verfügung stehenden Soldaten. Als er vor vielen Jahren an den Hof gekommen war, bekleidete ihn das Ansehen eines mächtigen Kriegers. Mit wenig mehr als seinem Ruf hatte er in den Kasernenspelunken herumgelungert und zufällig Freundschaft mit einem gewissen Fordwin geschlossen. Während Sedain sich vom Schwert lossagte und das Studium der Rechte aufnahm, das er mit der gleichen Gewissenhaftigkeit und Konsequenz verfolgte, mit der er früher seine Feinde zur Strecke gebracht hatte, und die Prüfungen schließlich mit höchsten Ehrbezeichnungen abschloss, war Fordwin die Offiziersleiter Stück um Stück nach oben geklettert. Seit drei Jahren war er nun als Heermeister von Dundolch, der einflussreichsten Stadt des Krukenreiches, angestellt. Es hatte sich eingebürgert, dass er Sedain um Rat bat, der seinen guten Draht zu den Soldaten an jedem Monatsende in Form von Jagdausflügen pflegte.

Eine Waffenlieferung war nicht angekommen und nach Aussagen der Überlebenden waren sie von einem sihhilafreundlichen Firsenstamm überfallen worden. Der gerade erst wiederhergestellte Frieden war wacklig und ganz allein dadurch aufrechtzuerhalten, dass man keine Anwandlung von Schwäche zeigte. Die Vergeltungsmaßnahme war bereits beschlossen. Da der Firsenstamm innerhalb der offiziell anerkannten Grenzsteine der Sihhila heimisch war und Tributzahlungen an das konkurrierende Großreich entrichtete – somit, wollte man keinen Krieg riskieren, unantastbar war –, würde ein unbedeutendes Dorf, dessen Einwohner verdächtigt wurden, die Firsen mit Nahrungsmitteln zu unterstützen, den Hammer der Gerechtigkeit zu spüren bekommen. Sedain ging die Listen durch. Brudwig! Er war brutal und gewissenlos und damit wie geschaffen für das Unterfangen. Ihn und seine für ihre Rohheit bekannten Männer würde er dem alten Freund anempfehlen. Zufrieden verstaute er die Listen wieder an ihrem angestammten Platz.

* * *

Nicht willens, die Sitten des Südens gänzlich anzunehmen, bestand Sedain auf ein zwei Stunden früher angesetztes Mittagsmahl als hier üblich. Aufgrund seiner Nähe zum Kaiser genoss er freie Kost im angesehensten Gasthaus der Stadt. Wie immer nickte der vollbärtige und unansehnlich in die Breite gegangene Fordwin seinen Vorschlag ab, dankte und schob nach, er habe selbst schon an Brudwigs Einheit gedacht. Er war ebenfalls mit seinem Assistenten erschienen, der, unter ähnlich harter Knute stehend, stets erfreut war, sich mit Dunjal austauschen zu können. Sedain lauschte mit einem Ohr der Unterhaltung der beiden, während Fordwin sich ein Kalbsstück nach dem anderen zwischen die gelben Zähne schob.

In Momenten der Selbstehrlichkeit, und einen solchen erlebte Sedain augenblicklich, wie er genüsslich an seinem Weinglas nippte, gestand er sich ein, Freude an dem armen, untergebenen Geschöpf zu haben. Elfen waren selten, noch seltener in den großen Städten. Aus ebendiesem Grunde, glaubte Sedain, sahen sie auf alle anderen mit Verachtung herab. Der einzige, mit dem er, von seinem Gehilfen abgesehen, sonst noch zu schaffen hatte, war einer von vier Richtern, vor denen er auftrat. Bei jeder Verhandlung, bei der sie sich gegenüberstanden, meinte er, von ihm herablassend behandelt zu werden, und das, dessen war er sich sicher, wegen der Mischrasse, der er selbst angehörte. Umso befriedigender war es, einen von ihnen herumscheuchen zu dürfen, wie es ihm gefiel. Fordwin war kein Stück besser zu seinem Untergebenen, doch er verhielt sich so, wie er, wenn sie unter vier Augen waren, oft betonte, aus Gründen der Erziehung. Seine verdeckte väterliche Liebe, wie er es nannte, fördere Ehrgeiz und Eigenständigkeit des ihm Anvertrauten. Sedain hingegen glaubte nicht an erzieherische Maßnahmen und hielt die Erklärungen des Freundes für eine Ausrede ob des Vergnügens, das dieser empfand, wenn er andere demütigte – gleich, welcher Rasse sie angehörten. Und was die Liebe generell betraf … Die einzige Person, mit der er diesen Begriff verband, war seine Tochter und auch ihr bezüglich musste er sich eingestehen, dass von Beginn an ihre schlitzförmigen Augen, die ihn noch immer gelegentlich an Lou erinnerten, einen entscheidenden Teil dazu beigetragen hatten, gerade sie aus den kalten Armen der Waisenhausvorsteherin zu retten.

Er nahm einen tiefen Schluck des erlesenen Weins, brachte Dunjal mit einem Blick davon ab, ihm eine Frage zu stellen, und verfolgte weiter seine Gedanken.

Die Sache mit Minka war schwierig, jene der Frau, mit der gemeinsam er sie aufzog, dagegen eindeutiger. Er liebte sie nicht, fühlte sich aber zu ihr hingezogen, zu ihrem Geist, vor allem jedoch zu ihrem schlanken, olivefarbenen Körper. Er mochte und respektierte ihre subtile Art, Dinge anzugehen, auch wenn er sie oft schalt, der Tochter gegenüber zu nachsichtig zu sein. Woher kamen plötzlich diese Überlegungen? Ohne sich etwas anmerken zu lassen, war er gemein zu Dunjal, tauschte ein wenig Hofgerede mit Fordwin aus, ignorierte wie gewöhnlich dessen lästiges Anhängsel und ging schließlich, immer einen Schritt Dunjal voraus, zurück zur Palastanlage.

Am Abend, als er entspannt in den Laken ruhte und die langgliedrigen Finger seiner Liebeskünstlerin gedankenverloren seine Tätowierungen an der Brust nachfuhren, überwältigte ihn zum zweiten Mal an diesem ansonsten durchschnittlichen Tag das Gefühl, dass etwas im Wandel begriffen war. Veränderung stand ins Haus und wie alle Bürokraten hatte er gelernt, alles, was die bewährten Abläufe, Sitten und Gedanken bedrohte, nahezu als persönliche Gefahr zu betrachten. Trotz des körperlichen Wohlgefühls lag er in dieser Nacht lange wach, versuchte, das Rädchen ausfindig zu machen, das sich gedreht hatte und das gemütliche Dasein, welches er sich aufgebaut hatte, ins Wanken bringen wollte. Ohne Erfolg.

* * *

Der hölzerne Käfig, in dem Erkentrud, Arduhl, Kraeh und sechs weitere Männer eingesperrt waren, bot keinerlei Schutz vor dem nicht enden wollenden Regen. Fünf der Leidensgenossen bildeten, wie Kraeh aus einem Gespräch der Wachen erfahren hatten, eine Spielmannsgruppe. Zwei von ihnen beherrschten allerdings nicht etwa ein Instrument, sondern verstanden sich vielmehr darauf, bei einem Auftritt die Zuschauer um deren Geldbörsen zu erleichtern. Wie der Zufall es wollte, unterhielten sie eines Nachts, ohne es zu wissen, in ihrer doppelten Art einen Fürsten der Rheinlande, nachdem dieser, trunken und fremden Weibergeruch an sich, das eigene Bett wohlweislich meidend, an ihr Feuer geraten war. Am nächsten Morgen war die Spielmannsgruppe verschwunden und mit ihr nicht nur dessen Geldbörse, sondern darüber hinaus sämtliche Ringe, die dieser an den Fingern getragen hatte, sowie ein Amulett. Wäre jenes Amulett nicht gewesen, der Fürst hätte die Sache möglicherweise einfach auf sich beruhen lassen, dieses Kleinod jedoch war ein überaus wertvolles Familienerbstück. Der Fürst nun hatte gezwungenermaßen die Sache einer genaueren Untersuchung unterzogen und kam einer ganzen Serie von »schnellstens zu unterbindender dreistester Räuberei«, wie er selbst sich in seinem Brief an Eli, den Schutzherrn von Brisak ausdrückte, auf die Schliche.

Denen, in bunte Flickenkleidung gehüllte Trickbetrüger und Musikanten, schien ihre missliche Lage, die mit äußerster Wahrscheinlichkeit in ihrer aller Hinrichtung enden würde, jedoch keineswegs aufs Gemüt zu schlagen. Ganz im Gegenteil: Sie machten sich, aneinandergerückt, über die lächerliche Ausdrucksweise der Strafschrift, die man ihnen bei ihrer Festnahme vorgelesen hatte, lustig und prahlten mit ihren Streifzügen. Lediglich einer von ihnen schwieg beharrlich. Gelegentlich schenkte er einem seiner Freunde ein Lächeln unter seinem scharlachroten Stirnband, das ihm gleichzeitig als Klappe für das linke Auge diente.

Die dritte Gruppe im Käfig bestand nur aus einem Einzelnen, einem Brudermörder, wie es hieß, der sein Heil in der Flucht über den Rhein gesucht hatte, wobei man ihn aufgegriffen und, wie er aussah, erst einmal einer ordentlichen Tracht Prügel unterzogen hatte. Sein Gesicht war dermaßen zugeschwollen, dass man seine normalen Züge kaum erraten konnte.

Kraehs Finger prüften eher beiläufig die Stärke der Stäbe. Sie waren ohnehin nicht das Problem. Die Querstreben waren durch Tau mit den horizontalen verbunden. Würde man das Tau an einigen Stellen durchschneiden, gäbe die ganze Konstruktion sicherlich unter wenigen wohlgezielten Tritten nach. Zwischen Innenfutter und Außenleder seiner nun beinahe gänzlich auseinanderfallenden Stiefel trug er einen Feuerstein mit sich, und sofern er die Spielleute richtig einschätzte, hatte es vermutlich jeder von ihnen zustande gebracht, ein halbes Dutzend Messer an den Wachen vorbeizuschleusen.

Aber genau das war das Problem: die Wachen. Acht Männer, die sich so oft ablösten, dass man sich nicht einmal ihre Gesichter merken konnte. Dazu noch einer, der eigentlich schon lange keinen Dienst mehr hatte, aber so hasserfüllt auf den mit dem fehlenden Auge starrte, dass eine persönliche Verstrickung der beiden offensichtlich war.

Kraeh ging es nicht um sich. Er war ein alter Mann und würde mit einem Lächeln auf den Lippen sterben. Es war Erkentrud, die ihm Sorgen bereitete, obgleich ja gerade sie es gewesen war, die sie, die Götter allein wussten, aus welchem Wahn heraus, in diese wenig aussichtsreiche Lage gebracht hatte. Allerdings hatte sie schon seit einer geraumen Weile keinen ihrer verrückten Anfälle mehr gehabt und war dafür in eine lethargische Wortkargheit verfallen. Die Traurigkeit, welche von ihr ausging, war ansteckend. Um sich nicht zum hundertsten Mal in dem Zirkel derselben knapp vorgebrachten trübseligen Gedanken vorzufinden, in den sie geriet, wenn man sie ansprach, fragte Kraeh den Einäugigen, was es denn mit ihm und – er deutete auf den krampfhaft an einer Pfeife ziehenden Wachmann – auf sich habe. Doch es war dieser, der, ohne die Augen von dem Gefangenen zu nehmen, nahe an das Gitter trat, nahe genug, um das Zischen zu hören, das die Regentropfen von sich gaben, wenn sie in die Pfeifenglut fielen, und an seiner statt antwortete: »Er hat auf meiner Vermählung gespielt, der lustige Bursche.« Obwohl er bestimmt pausenlos daran dachte, war jetzt, da er davon auch noch redete, sein Gesicht, bei der Erinnerung an jenen Tag, rot wie eine reife Preiselbeere geworden. »Und als es an der Zeit war, das Brautgeld dem Schwiegervater zu überreichen, im Übrigen, einem Schweinehund vor dem Herrn, wie ihn die Welt selten gesehen hat, da fehlte plötzlich meine wohlgehütete Geldtruhe. Damit nicht genug, dieser Dreckskerl säuselt meiner Liebsten bei der anschließenden, wie ihr euch denken könnt, wenig erfreulichen Feierlichkeit so viel Schwachsinn von den Fesseln der Ehe und der uferlosen Freiheit ins Ohr, dass ich am nächsten Tag erfahren muss, dass sie sich mit ihm und seinen dreckigen Kumpanen aus dem Staub gemacht hat.« Die von unzähligen Äderchen durchzogenen Augen des Sprechenden schwebten irgendwo zwischen Tränen und Meuchelmord. »Ich hoffe, es hat dir wenigstens Spaß gemacht, Bastard!«, spuckte er noch aus, weiterer Reden unfähig geworden.

Der Einäugige gähnte und rekelte sich genussvoll. Als er seinen Mund zum ersten Mal, seit die Königin, Arduhl und Kraeh hier waren, öffnete, um etwas zu sagen, sahen ihn alle an. Seine Stimme, die auf eigenartige Weise jedem Wort eine ganze Kette von Bildern mitzuschicken vermochte und die, ohne zu singen, einen bezaubernden Rhythmus besaß, stand in krassem Gegensatz zu dem Inhalt, den sie dem seelisch Gebeutelten mitteilte.

»Anfangs, jaaa, da hatten wir Spaß. Aber als sie uns alle bedient hatte, auf jede Art, die du dir vorstellen kannst, und vermutlich noch auf ein paar Dutzend mehr, wurde sie uns lästig. Doch gräme dich nicht«, unterstand er sich nicht boshaft fortzufahren, »wenn sie noch dort ist, wo wir sie abgesetzt haben – wie lange ist das her, drei Jahre? –, findest du sie leicht wieder. Gehe einfach in das heruntergekommenste Hurenhaus von Brisak. Wie hieß es damals noch gleich?«

»Das Schwarze Loch«, spielte einer seiner Gefährten geistesgegenwärtig mit.

»Das war es! Danke. Du siehst, unserer Freundschaft steht nichts mehr im Wege. Solltet ihr einen zweiten Versuch starten, wäre sie eindeutig um ein gutes Stück Erfahrung reicher. Gewissermaßen habe ich dir, so betrachtet, sogar einen Gefallen erwiesen.«

Der preiselbeerfarbene Gehörnte hatte tatsächlich die ganze Demütigung bis zum Schluss über sich ergehen lassen, schien sie förmlich aufgesogen zu haben. Seine Pfeife war ausgegangen, aber er bemerkte es gar nicht. Einer seiner Kameraden versuchte, ihn damit zu beruhigen, dass, sobald die Zwillinge einträfen, ein anderer Wind wehen und er, Otwin, gewiss schon zur Mittagsstunde den Erzfeind hängen sehen würde. Ob es diese Worte waren oder die innere Einsicht, wie unvernünftig jede Handlung, nach der es ihn verlangte, hinsichtlich seiner Karriere gewesen wäre, es gelang ihm jedenfalls, sich wieder aufs hasserfüllte Starren zu beschränken. Auch als ein Mädchen den Wachen Obst und Brot brachte, nahm er es nicht einmal wahr.

Arduhl machte die zwei Schritte zu der zusammengekuschelten Bande hin, begab sich in die Hocke, schlug seine Kapuze zurück und fragte, ob die Zwillinge tatsächlich hierher unterwegs wären. Ein einzelnes Auge zwinkerte ihm zu.

»Jedenfalls spricht man hier seit zwei Tagen von nichts anderem«, gab ihm ein schwarzer Lockenkopf zur Antwort.

»Wer sind überhaupt diese Zwillinge?«, schrie der sich zurecht ausgegrenzt fühlende Brudermörder. In diesem Moment tuschelten der Lockenkopf und Arduhl noch etwas anderes, was von einem Wärter nicht unbemerkt blieb.

»He da! Hier wird nicht geflüstert!«

»Vor was habt ihr denn Angst?«, ergriff der Einäugige wieder das Wort.

»Wir haben vor gar nichts Angst«, biss Otwin an. »Du bist derjenige, der sich fürchten sollte.«

Mit einem Mal kam Otwin eine Idee, die er auch sogleich in die Tat umsetzte. Er verschwand, um kurz darauf mit einem merkwürdig anmutenden Stück Holz in der Hand zurückzukommen. Seine Kameraden sahen ihm mit gerunzelter Stirn zu, wie er an den Käfig trat, die eigentümliche Flöte seines Feindes in der Hand, taten aber nichts dagegen. Sie schienen plötzlich sehr müde. Einer gähnte.

»Das würde ich nicht tun«, sprach der Einäugige, nun war er aufgestanden.

»Ach ja? Und wieso nicht? Willst du aus deinem Hundekäfig hinausspazieren und mir die Gurgel umdrehen?« Er nahm dabei die Flöte in beide Hände, bereit, sie entzweizubrechen.

»Wie sollte ich das bewerkstelligen? Dafür bist du schließlich viel zu wachsam.«

Otwin kam noch einen Schritt näher, damit sein Gegenüber direkter Zeuge davon werden würde, wie er jetzt ihm etwas nahm, das ihm wichtig war – zu nah. Der Lockenkopf packte ihn blitzschnell an seiner Tunika, zog ihn an die Stangen heran, wo Arduhl ihm mit der flachen Hand einen Schlag an den Hals versetzte, der ihn rücklings zu Boden streckte.

Das Mädchen, das vorhin das Obst gebracht hatte, kam herangelaufen. Sie vergewisserte sich, dass ihr Gift angeschlagen hatte und die Wachen allesamt bewusstlos waren, dann stürmte sie zum Käfig. Sie entschuldigte sich mit zwei Dolchen dafür, den Schlüssel zu dem Vorhängeschloss nicht gefunden zu haben, und sofort machten sich alle an die Arbeit. Es war nicht ganz so leicht, wie Kraeh es sich vorgestellt hatte, doch nach einer kurzen Weile, die ihm in Anbetracht der Umstände allerdings wie eine Ewigkeit vorkam, hatten sie ein dachsbaugroßes Loch geschaffen, durch das sich einer nach dem anderen hindurchzwängte.

Der Einäugige gab dem sommersprossigen Mädchen einen Kuss auf die Wange. »Dank deines Verlobten, wissen wir auch, wo sich unsere Sachen befinden. Nimm Timpte und Forque mit. Holt nur das Nötigste und alles, was ihr an Waffen unserer neuen Freunde findet.«

Das Mädchen war schon losgegangen, drehte sich dann aber noch einmal um. »Lass ihn am Leben. Versprich es mir«, bat sie.

Der Einäugige nickte. »Wie beim letzten Mal.«

Kraeh blickte sich um. Arduhl, dessen Nase als erste frei Luft geschnuppert hatte, war verschwunden, die anderen nahmen die Waffen ihrer ehemaligen Bewacher an sich. Schon war das Mädchen, gemeinsam mit dem Rotschopf und dem Zwergwüchsigen der Spielmannsgruppe, zurück, voll beladen mit ihren Ausrüstungsgegenständen. Eilig warfen Kraeh und Arduhl sich ihre Waffengurte über die Schultern, Erkentrud nahm Schmerz in die Hand und die anderen packten ihre in Lederhüllen gewickelten Instrumente. Sie hörten Pferdewiehern und machten sich sofort in die angegebene Richtung auf. Während Kraeh den anderen im Laufschritt folgte, staunte er über die Raffinesse des Plans, den man ohne ihn entwickelt hatte. Vielleicht, überlegte er, war aber auch alles nur Zufall und jeder tat das Naheliegendste. Egal jetzt! Sie waren bei einer Koppel angelangt, wo Arduhl bereits auf dem Rücken eines großen Braunen auf sie wartete. Der Brudermörder war als Nächster auf einen Pferderücken gesprungen. Ungeduldig, wie er war, ritt er auf einen Deut Arduhls los, ehe noch die anderen alle im Sattel saßen.

Natürlich schlugen sie, als alle so weit waren, eine andere Richtung als der Brudermörder ein. Die kraftvollen Tiere ritten im vollen Galopp die beiden Wachen an einem Nebentor nieder und ebneten den Ausreißern somit buchstäblich den Weg in die Weite dahinter. Schon waren Alarmrufe und das Klirren von Stahl zu hören.

In der näheren Umgebung der Garnison war jeder Baum gefällt und jedes Gebüsch so gestutzt worden, dass niemand unbemerkt näher als zweihundert Würfe herankam. Für die Flucht erwies sich dieser Umstand als bedrohlich. Als sie am Ende der kahlen Ebene die Baumgrenze erreichten, sahen sie über die Schultern. Eine Gruppe von Verfolgern hatte sich bereits an ihre Fersen geheftet. Der Lockenkopf hatte die Führung übernommen. Er lenkte sie mitten in den Forst, dessen Boden die Wassermassen nicht mehr aufzunehmen vermochte und der Kraeh daher eher wie ein einziger großer flacher See vorkam, durch den sie Wasser schlagend ihre Tiere hetzten. Gleichzeitig hatte ihnen der lang anhaltende Regen einen möglichen Vorteil verschafft. Wenn sie erst einmal außer Sichtweite waren, würde es schwer werden, ihrer Spur zu folgen.

Mitten in diesem Strudel von Nässe, dem Schnauben der Pferdenüstern und dem ohnmachtsnahen Zustand, in dem Kraeh sich aufgrund von Anstrengung und der sich überschlagenden Ereignisse befand, zügelte der Lockenkopf unverhofft sein Reittier. Ohne auf die dunstige Wolke der Häscher hinter ihnen zu achten, ließ der Einäugige seinen Wallach an die Spitze tänzeln. Ein Sturmwind, der vermutlich schon länger blies, in der Hast aber Kraehs Aufmerksamkeit entgangen sein musste, brauste durch die Aue, schüttelte die angesammelten Tropfen aus den Baumkronen und fuhr schamlos durch Mark und Bein der Flüchtenden. Durch die verschwommene Sicht war der Mann nicht mehr als ein bleicher Fleck unter dem Stirnband, das seine hellblonden Haare zurückhielt. Die Flöte, welche Otwin zuvor zerstören wollte, kam zum Vorschein. Der Einäugige setzte sie an seine Lippen und entlockte ihr nur einen einzigen hohen Ton, einen Ton allerdings, der die Welt zu verändern schien. Alle Erschöpfung fiel von Kraeh ab. Er fühlte sich plötzlich wie unter dem Einfluss einer unbekannten Droge. Ohne eigenes Zutun setzte das Tier unter ihm sich wieder in Bewegung. Die Rinde der Bäume, der Schlick, durch den die Hufe trabten, der aufrechte Rücken Erkentruds – alles zog wie im Traum an ihm vorüber. Die Soldaten in ihrem Nacken verloren immer mehr an Bedeutung. Es war, als würden der dichte Wald, die Männer, die Pferde sich zurückziehen und nur noch jener eine Ton zurückbleiben. Bald mischte sich das Zupfen eines Saiteninstruments hinzu, bald Themen einer höheren Flöte. Doch waren es bloß Variationen, Ausgestaltungen des einen Grundtons. Kraeh bemächtigte sich das Gefühl, die Melodie mit Händen greifen zu können. Die Wirklichkeit, den eigentlichen Gehalt des Seins, wo er ansonsten lediglich seinen Abglanz in den Dingen wahrzunehmen vermochte, schien auf, heller als die Sommersonne. Tag und Nacht, Mensch und Tier, Forst und Heide fielen in diesem einen, alles Verbindenden zusammen. Wie die Stimme eines Erwachten, die den Schläfer weckt, zog die des Einäugigen den Schleier vor seinen Augen weg. Er blickte sich um. Auch die anderen wirkten, als erwachten sie gerade aus einem tiefen Traum.

»Seht! Der bodenlose See. Dort, wo der Fluss den See nährt, steigt er hinan zu seinen Quellen.«

Die Welt schälte sich, als würde sie sich in ebenjenem Augenblick neu erschaffen. Aus dem All-Einen heraus gewann sie in frischer Unschuld ihre unendlichen Einzelheiten zurück. Von West nach Ost wurde der Horizont von den Riesen des Alben-Gebirges abgeschnitten, deren ehrwürdige schneebedeckten Höhen sich in der klaren Oberfläche des sagenumwobenen Sees spiegelten. Lag es eventuell noch an den Nachwirkungen des Flötenspiels, dass die Dimension dessen, was er sah, ihn schwindeln machte? Die Relationen zwischen der Pappel vor ihm und den gigantischen Fels- und Wassermassen schienen in ihrem Missverhältnis geradezu absurd. Kraeh atmete tief durch und ließ seinem Verstand Zeit, die Eindrücke zu ordnen.

»Die Quellen des Rheins?«, fragte Arduhl ungläubig. »Wir sind doch nicht mehr als … als … einen halben Tag unterwegs … oder?«

»Ach wirklich?«, gab der Einäugige lächelnd zurück. »Jedenfalls scheint es mir an der Zeit für eine Rast. Die Tiere sind müde.«

Kraeh begutachtete sein Pferd. Es schien tatsächlich abgeschafft. Kalter Schweiß glänzte auf dessen Fell.

In einer steinigen Bucht fanden sie einen geeigneten Rastplatz, teilten ihre spärlichen Vorräte mit den Tieren und entzündeten ein Feuer. Es war nicht das einzige. Viele Feuer ließen ihre Funken an diesem Abend rings um den großen See herum in den aufgeklarten Himmel fliegen.

»Peuten, Uthen und Gaesen«, nannte der Lockenkopf die Namen der Stämme, die Kraeh gewohnt war, unter der Einheitsbezeichnung Firsen zusammenzufassen.

Plaudernd saßen sie um die Flammen, eine Flasche Branntwein kreiste und wärmte sie zusätzlich von innen. Arduhl, dem es gelegen kam, nicht über politische Themen zu sprechen, erläuterte den Spielleuten, weshalb er als Einziger in ihrer Runde auf den Branntwein verzichtete. In gutmütiger Manier zogen sie ihn ein wenig damit auf, aufmerksam darauf bedacht, seine Religiosität, auf die seine Enthaltsamkeit zurückging, dabei nicht wirklich anzugreifen. Lachend erhob sich der Einäugige, ging zur anderen Seite des Feuers und setzte sich zwischen Kraeh und Erkentrud, deren Augen immer wieder auf ihm geruht hatten.

»Fragt«, bot er ihnen gut gelaunt an.

Der Alte ließ Erkentrud den Vortritt. »Erst einmal: dein Name?« Tatsächlich, fiel Kraeh jetzt auf, hat er sich noch gar nicht vorgestellt. Keiner hatte das bisher getan. Erkentrud hatte sicher recht, wenn sie hinter diesen seltsamen und redegewandten Spielleuten mehr vermutete, als der erste Blick vorgaukelte.

»Wenn man alt ist, so alt wie ich«, sagte der Mann in seiner den Ohren schmeichelnden Sprechweise, »geben einem die Menschen viele Namen. Davon kann auch Kraeh ein Lied singen …«

»Woher …?«

»Kinder!«, unterbrach er ihn, »es gibt wenig, was ich nicht über euch weiß. Aber zurück zu deiner Frage«, er wandte sich wieder Erkentrud zu, »am besten gefiel mir schon immer Wanderer. Es trifft meine Natur und hat einen schönen Klang.«

»Du bist kein einfacher Zauberer«, stellte die Königin fest. Sie wollte noch etwas sagen, hatte aber den Faden verloren. Ihre Züge wurden traurig, wie sich ihr Blick in den Flammen verlor.

»Nein, bin ich nicht«, stimmte der Wanderer Erkentrud zu, obwohl sie schon nicht mehr verstand, warum es ging, »aber wer vermag schon zu sagen, was er wirklich ist?«, schob er in einer Weise nach, die nahelegte, dass er es von sich ziemlich genau wusste. Auf eine Geste reichte einer seiner Kameraden ihm ein Zupfinstrument. Er strich sich die goldenen Haare, die ihm aus dem Stirnband gefallen waren, hinter die Ohren und schon tänzelte seine andere Hand über die Saiten. Sein Lied war eine Geschichte und Kraeh brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es seine eigene war. Jene, die er selbst schon erzählt hatte. Wie lange war das her? Und wie verblichen erst ihr Inhalt!

»Und schwarze Schwingen im Wind«, schloss die Weise und der Wanderer zwirbelte gedankenverloren an seinem Bocksbart, der etwas zerzaust von seinem Kinn abstand. Erst jetzt bemerkte Kraeh das Schnarchen des Lockenkopfes, das gleichmäßige Atmen von Arduhls leichtem Schlaf und das Keuchen Erkentruds, das die Albträume, die sie plagten, widerspiegelte. Sie waren zu zweit.

»Wohl eine langweilige Geschichte«, scherzte Kraeh, aber ein Unterton in seiner Stimme strafte seine Leichtigkeit Lügen.

»Nur weil man ihre Wahrheit vergessen hat«, erwiderte sein Gegenüber ernst, legte das lautenartige Ding beiseite und verkündete, dass auch er nun reif für etwas Erholung sei. Wachen seien allerdings nicht notwendig, dafür habe er gesorgt. »Eines noch«, gähnte er, während er sich bereits auf seiner Schlafstatt ausstreckte, »falls dich die alten Zeiten keinen Schlaf finden lassen und dich womöglich die Wanderlust packt, gehe überallhin, bloß nicht dort hinaus.« Sein ausgestreckter Arm, an dem sich unzählige Reife klirrend um das letzte Stück freie Haut balgten, deutete auf ein schummriges Licht am Uferrand.

Wenig später befand Kraeh sich auf dem Weg. Fast meinte er, das Lachen des Einäugigen in seinem Kopf zu hören. Was für ein dummes Spiel, dachte er sich. Jetzt musste er natürlich nachsehen, was ihn in dem allmählich Konturen annehmenden Häuschen erwartete, von dessen Schornstein ein dünner Faden Qualm wie von einer gespreizten Hand aufstieg.

* * *

Behutsam pirschte Kraeh sich an, so gut seine alten Knochen eben mitmachten. Das Gebäude entpuppte sich als größer, als er gedacht hatte. Ans steinerne Haupthaus lehnte sich ein Anbau aus Lehm und Binsen, der direkt an den See angrenzte. Kraeh erkannte ihn als Bootsschuppen. Seine lautlose Annäherung wurde jäh von einem Schwan zunichtegemacht. Keifend reckte dieser den Kopf vor, wobei er die Bedrohung für sein nahes Nest mit Flügelschlägen, die ihm eine erstaunliche Breite verliehen, einzuschüchtern suchte. Kraeh huschte weiter. Durch ein Fenster fiel plötzlich der Lichtkegel einer Kerze. Der Alte legte die Hand aufs Schwert, ging zur Vordertür, klopfte an, und als niemand antwortete, schob er die unverschlossene Tür auf und trat ein.

Niemals hätte er dem Bolzen der schweren Armbrust rechtzeitig ausweichen können, die im Schoß eines monströsen Wesens lag und auf seine Brust zielte. Es saß einbeinig auf einem Schaukelstuhl, seine Haut im Schein der Kerze schien aus verwittertem Granit zu bestehen, die Hörner auf dem Schädel wippten im Takt des Stuhls.

»Siebenstreich!«, rief Kraeh voller Erstaunen.

Jetzt erkannte auch der Troll den Eindringling. »Bist du es, Kriegskrähe?«

»Aye, mein König. Ich bin es.«

Immer noch im Schreck, da er den Anblick der gewaltigen Gestalt nicht mehr gewohnt war, sah er dabei zu, wie Siebenstreich die Armbrust entspannte und neben sich an die Wand lehnte.

Gerade als Kraeh sich gänzlich gefasst hatte, fauchte das Schwanenweibchen erneut. Jemand musste ihm gefolgt sein. Kurz darauf trat Erkentrud ein. Sie grüßte den Troll und setzte sich ohne jede Furcht wie selbstverständlich an den Tisch zur Rechten des ehemaligen Königs, obwohl sie ihn keineswegs zu erkennen schien. Kraeh verharrte unsicher.

Siebenstreich bat ihn mit einem entschuldigenden Wink auf sein fehlendes Bein, ihm ein Döschen von einer Ablage zu reichen. Kraeh tat es. Der Troll öffnete das Döschen und entnahm ihm zwei Pfeifen, stopfte sie mit Tabak und bot die eine Kraeh an. Er nahm sie dankend entgegen und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Während sie pafften und Erkentrud etwas Unverständliches von riesenhaften Schweinen faselte, sahen sich die zwei alten Freunde unverblümt in die Augen. Beide erwogen sie Sinn und Zweck dieser Begegnung, die kein Zufall sein konnte.

Schließlich brach der Troll das Schweigen. »Eine Verrückte, ein Greis und ein Krüppel – ich habe es stets geliebt, die Prominenz der Welt unter meinem Dach zu versammeln.«

Kraeh lachte und war froh, dass Erkentrud einfiel, offensichtlich ungerührt von der Anrede Siebenstreichs, der ihren Geisteszustand erstaunlich schnell erraten hatte.

Der Scherz hatte die Verlegenheit nur kurz vertrieben. Sie hatten sich in Zeiten des Krieges kennengelernt, waren Schwertbrüder gewesen und erst jetzt fiel ihnen auf, dass die Umstände ihnen immer die Gesprächsthemen vorgegeben hatten. Nun, als ausrangierte Überreste längst vergangener Legenden, waren sie sprachlos in Ermangelung einer gemeinsamen Sache. Gerne hätten sie höfliche und banale Worte ausgetauscht, wie sie glaubten, dass andere Leute es taten, die sie sich nach langer Zeit wiedersahen. Aber sie waren keine einfachen Leute, sondern Regenten und Krieger. So berichtete Siebenstreich nüchtern, wie er Zeuge von Heikhes Entmachtung hatte werden müssen, wie er nach dem Zerfall der Rheinlande sich hierher zurückgezogen und einbeinig, wie er war, dem Stammeshäuptling dieses Gebietes im Zweikampf das Schwert aus der Hand geschlagen, dessen Leben aber verschont hatte. Nachdem dieses Ereignis sich herumgesprochen hatte, sei Frunda, der Kriegsherr der Gaesen hier erschienen und habe ihm versichert, keiner der ansässigen Stämme, die sämtlich unter seiner Schirmherrschaft stünden, würde ihn je wieder belästigen. »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist er der Bruder deines Freundes Sedain. Wohl auch deshalb war er so großzügig, weil er von unserer beider Verstrickungen gehört hatte.«

Kraeh fuhr es unwillkürlich kalt den Rücken herab bei der Erwähnung des Namens.

»Hast du eine Ahnung, wo er steckt, wenn er nicht bei seinen Brüdern ist?«

Siebenstreich nahm einen tiefen Zug, der ihn zum Husten brachte. Ein Laut, wie aufeinanderreibende Felsen.

»Frunda wollte nicht über ihn reden.« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Ich glaube, wenn sie sich begegneten, würde einer den anderen töten. Die Fischer aber, die ich zuweilen für den Tabaknachschub aufsuche und die jede noch so unbedeutende Geschichte aufsaugen wie eine Wüste den Regen, munkeln, er sei in Dundolch und habe sich den Kruken angeschlossen.«

Endlich etwas, das Kraeh seit Langem beschäftigte und zu dem er sich nun eine eindeutige Erklärung erhoffen konnte. »Was genau hat es denn mit dieser Religion der Kruken oder Kruki auf sich? Ist es nicht der Eingottglaube, den wir schon vor so vielen Jahren bekämpft haben?«

Der Troll fuhr sich über die linke ergraute Augenbraue, so wie er es früher gern getan hatte, wenn eine Belehrung anstand. »Bei jeder Glaubensrichtung muss man die Unterscheidung treffen, an wen sie sich richtet. Die alten Vielgötterglauben zielten in der Hauptsache auf eine kleine Oberschicht ab, meist auf die Kriegerkasten.

Diese Zeit ist anders. Moneden wie die Sihhila und die Kruken haben es geschafft, ein System auszuarbeiten, dessen Wirkungsmacht sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. In ihrer Ausrichtung auf das Jenseits versprechen sie dem Bauer auf seinem Acker das Gleiche wie dem König auf seinem Thron. Der Grundtenor allerdings, zumindest bei den Kruken, ist dasselbe alte Lied, das wir schon damals zu verachteten pflegten. Sie beschwören, alles, was Freude bereitet, sei allein deshalb schon schlecht. Glaube mir«, Siebenstreich zwinkerte, »die können ihr Gemächt nicht anfassen, ohne Schuldgefühle zu bekommen.« Da beide sich beide gleichzeitig an den Eiern kratzten – eine Alltagsgeste damals in der bunten Halle –, lachten sie. Erkentrud lachte wieder schrill mit. Zuvor hatte sie die ganze Zeit über in die Flamme der Kerze gestarrt, als ob sie versuchte, sie mittels Gedanken- oder Zauberkraft zum Erlöschen zu bringen.

»Wie alt«, besann Kraeh sich, »ist dieses Lied eigentlich wirklich? Ich erinnere mich dunkel an eine wesentlich fernere Vorgeschichte.«

»Du hättest lesen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest«, wurde er streng zurechtgewiesen. »Jetzt ist es zu spät.« Ein resignierender Unterton lag auf einmal in der Stimme des Trolls, der Kraeh Angst machte.

»Ein Teil von Heilwigs Bibliothek wurde doch gerettet«, sagte der Greis schnell. Drei Rauchringe, die in ihrer perfekten Form für einige Übung sprachen, schwebten auf ihn zu.

»Verschone mich, Kraeh. Ich bin müde.«

»Ich dachte, Trolle werden alt«, versuchte er, den Freund zu entwaffnen, der tatsächlich sehr müde wirkte.

»Ich bin alt«, kam die schlichte Antwort und Kraeh wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte.

Im Folgenden bot Siebenstreich, der nun nur noch bei seinem Geburtsnamen Fjönir angesprochen werden wollte, ihm umständlich, aber beharrlich an, sich mit ihm hier niederzulassen. »Die Welt braucht uns nicht mehr«, wiederholte er schwermütig. »Dieses Faktum musst du akzeptieren, sonst endest du mit dem Messer eines Strauchdiebes zwischen den Rippen.«

Erkentrud stieß unpassend ein frenetisches Gelächter aus. »Ich denke, sie wird bleiben«, sagte der weise Troll und streckte ihr dabei seine klauenartige Hand entgegen, die sie zaghaft annahm.

Kraeh sah dem Freund wie zum Eingang des Gesprächs tief in die trüben Augen. Erneut überkam ihn tiefe Traurigkeit. »Ich muss weiter. Zu viele Rätsel sind ungelöst.«

»Aye«, ahmte Siebenstreich ihn nach. »Aber die Welt wird immer nur aus Rätseln bestehen, wenn man es genau betrachtet. Allein, ich bin das Herumraten leid.«

Kraeh stand auf. Auch jetzt hätte er gerne wieder etwas gesagt, dass seine freundschaftlichen Gefühle ausdrückte, aber sie waren Krieger und Regenten. Er deutete erst vor Erkentrud, die ihn nicht einmal ansah, dann vor Siebenstreich eine Verbeugung an und überließ diese einstigen Größen ihrem Lebensabend.

Vor der Tür erwartete ihn, den Schwan mit Brotkrumen fütternd, schon der Wanderer. »Ich bin froh über deine Entscheidung. Gehen wir.«

* * *

Lange gehen sie zu zweit. Dem Plätschern eines Gebirgsbach folgen sie. Bald sind sie in einem Nadelwald, bald balancieren sie über granitene Klippenhänge. Es ist wie in einem Traum und tatsächlich spürt Kraeh seinen eigenen Kniff in den Oberarm nur sehr schwach. Sein Körper fühlt sich seltsam, fern und taub an. Auch ihre Gespräche sind vage und schmecken eher nach aufgewärmten Erinnerungen.

Was hatte der Wanderer gesagt? Die anderen seien schon vorgegangen? Ja, das war es.

»Wir treffen sie, wenn wir fertig sind.«

»Fertig mit was?«

»Mit unserem Tanz.«

Nun geht Kraeh auf, was ihm so fremd vorkommt: Er sieht nur zur Hälfte aus seinen eigenen Augen, der zweite Blick schwebt über ihnen. Er kann sich selbst dabei zuschauen, wie er ein angebotenes Wachtelei in der Hand wiegt, es schält, in den Mund schiebt, ohne zu kauen, schluckt und es die gefühllose Kehle hinuntergleitet.

Sie gelangen zuletzt auf eine weiß bedeckte Anhöhe. Schnee. Wie selbstverständlich entledigen sie sich ihrer Schuhe und dann ihrer Kleidung.

Beim Styx! Bin das wirklich ich?, fragt sich Kraeh, während er auf seine gebeugte, alte Gestalt herabblickt. Die Wirbelsäule gekrümmt, das Haar spärlich und strähnig wie auf einem Totenschädel, die Narben auf der fleckigen Haut werden von der Kälte an den Rändern rot hervorgehoben.

Indes der Alte bibbernd und doch nicht frierend dasteht, ritzt der Wanderer Zeichen in den Schnee. Als er einen Kreis direkt vor Kraehs Füßen schließt, richtet er sich zu voller Größe auf.

»Wir sind hier, einen Pakt zu schließen, einen alten Zauber zu wirken, die Macht der Erde zu beschwören. Und nach alter Manier fordere ich einen Schwur auf dein Blut.« Ein Dolch erscheint in seiner Hand. Er wirft ihn Kraeh zu.

Kraeh fischt ihn aus der Luft und bewegt Stimmbänder und Mund des Greises, der er ist. »Welchen Dienst lässt du mir angedeihen und was verlangst du?«

»Ich schenke dir, zu was du dich bereits entschieden hast. Ein zweites Leben, eine zweite Jugend und ich fordere dafür nicht mehr als Einlass zur rechten Zeit; Gastrecht, wenn du so willst.«

Es ist, als ob Forst, Stein und Tier den Atem anhalten. Alles harrt schweigend auf seine Erwiderung.

Er denkt an Heikhe, an den Kaiser, den er, als dieser noch ein kleiner Junge war, versagt hatte zu beschützen, an Sedain und den Spaß, den sie miteinander gehabt hatten, und schließlich an etwas, das er nicht zuordnen kann: eine Insel aus Fels und Stein. Nein, es ist nur anfangs eine Insel, doch das Eiland schwillt an, wächst immer mehr, bis es die Ausmaße eines ganzen Kontinents erreicht hat. Lachende Kinder wohnen dort, die sich in die Arme ihrer strahlenden Mütter fallen lassen. Eine freundliche Sonne umarmt sie liebevoll und beschützend. Es muss eine Ahnung sein, eine Vision dessen, was kommen würde, nähme er das Angebot an.

»Aye, das ist mein Wunsch«, sagt Kraeh schließlich und willigt in den Handel ein, indem er sich mit dem Dolch den Daumen ritzt.

Die Zeit steht still, der Tropfen Blut durchschneidet die kalte Luft. Beide sehen ihm nach, wie er fällt und schließlich zerplatzt und die winzige Stelle kristalliner Oberfläche sein Rot aufsaugt. Der gezogene Kreis beginnt zu knistern. Funken entstehen aus vermeintlichem Nichts. Aus den Funken werden Flammen und aus den Flammen eine Feuersbrunst, genährt von einem unsichtbaren Element. Überall um sie herum lodert es, die Flammen lecken nach ihren Körpern, doch ohne sie zu verletzen.

Das eine Auge des Wanderers neigt sich zum am Himmel prangenden Morgenstern, der in seinem Glanz, die anderen Sterne verblassen lässt. Er breitet die Arme aus und ruft etwas Unverständliches, führt sie über dem Kopf zusammen und dann herunter zur Brust. Kraeh sieht, wie er, flackernden Flammenschein im Gesicht, seine Flöte zückt und zu spielen beginnt.

Ein Donnerschlag untermalt den ersten Ton. Er spielt und singt. Kraeh fragt sich nicht, wie das gleichzeitig möglich ist.

Komm mit mir,

Tanz mit mir,

Dreh dich im Kreis,

Lache und springe,

Sei ein andermal leis’!

Jetzt fängt auch der Alte an, mit den Beinen zu scharren. Er hebt sie, wackelt mit dem Kopf, hüpft, wird mitgerissen von dem magischen Zwingtanz.

Komm und schrei,

Komm und tanz,

Hüpf auf einem Bein!

Immer zügelloser werden ihre Bewegungen. Sie drehen sich um die eigene Achse, entlang am Ring des Feuers, das um sie herum lodert. Schneeflocken fallen auf sie herab und wirbeln mit den Funken heiß und kalt an ihnen vorbei. Die Welt versinkt in tiefem Vergessen, engt sich ein auf den Schauplatz ihres Reigens. Der Nachthimmel wird zur Krone eines Baumes, dessen mächtiger Stamm in Feuer und Flamme wurzelt.

Komm mit mir,

Tanz mit mir,

Dreh dich im Kreis,

Lache und springe,

Sei ein andermal leis’!

Kraeh verliert sein Selbst, aber seine Glieder folgen weiter dem Takt, sausen und tosen rudernd durch die lodernde Luft. Bis er endlich strauchelt und lauthals lachend in den Schnee fällt.

Sei ein ander,

Sei ein ander,

Sei ein andrer!

* * *

Raum und Zeit hatten sie übertanzt, nun erinnerte die Sonne sie mit ihren ersten Strahlen wieder an ihren Rhythmus. Und zusammen mit der Ordnung der Dinge kehrte auch der Schmerz zurück in Kraehs Bewusstsein. Das Gefühl bahnte sich seinen Weg mit solcher Wucht zurück in seinen Körper, dass ihn beinahe ein zweiter Wahn übermannt hätte. Nur noch Pein, nur noch Qual, und er merkte, wie der Tod laut und deutlich an die Pforte seines Geistes klopfte.

Der Wanderer ließ sich auf die Knie neben ihm nieder, umfasste mit den beringten Fingern seine pochenden Schläfen und drückte fest die Daumen dagegen. Ohne den Druck zu verringern, ließ er sie kreisen.

»Was du spürst, ist nicht das Ende. Es ist der Anfang.«

»Jede Geburt bedeutet Schmerz.« Waren das seine Worte oder die seiner einäugigen Amme gewesen? Die Schwärze der Ohnmacht senkte sich über ihn und verschlang ihn gänzlich, ehe er diesen letzten Gedanken zu Ende verfolgen konnte.

* * *

Wieder war es die Sonne, die Kraeh aufweckte. Diesmal jedoch stand sie hoch und ihre wärmende Umarmung drang zu seinem Empfinden durch. Geblendet richtete er sich auf, was nicht leichtfiel, da er in eine schwere Decke gehüllt war, welche ihm nicht mehr Bewegungsfreiheit zugestand als die einengende Haut einer Raupe. Er befand sich am selben Platz, wo er zu Boden gegangen war, nur war das Feuer aus. Keine Asche oder sonstigen Verbrennungsreste zeugten von dem Stattgefundenen. Die Schneedecke hatte ihr Antlitz verändert. Nicht allein, dass sie in der Mittagssonne schmolz, sie erschien Kraeh generell wirklicher und nicht mehr beseelt und zauberhaft wie vor seinem Schlaf.

Von irgendeinem Unten vernahm er Stimmen. Dann sah er den Wanderer in Begleitung des Lockenkopfes einen schmalen Pfad zu seiner einsamen Höhe heraufflanieren. Beide grinsten, als er sich aus seinem Gefängnis wühlte.

»Können wir?«, fragte sein Tanzpartner leichthin.

Er antwortete nicht, wollte erst das Chaos in seinem Kopf sortieren, ehe er sich auf die Wirklichkeit einließ. Seinen Körper betastend stellte er fest, dass keine nennenswerte Veränderung mit ihm vonstattengegangen war. Obwohl … Sein Rücken fühlte sich ein wenig gerader an und das beständige Ziehen in seinem Schultergelenk, an das er sich mittlerweile so gewöhnt hatte, dass es ihm in den letzten Jahren kaum noch aufgefallen war, schien etwas besser.

»Schau nicht so ungläubig«, tadelte ihn der Wanderer. »Ich lüge nie. Alle Veränderung braucht ihre Zeit.« Er deutete auf ein Bündel an Kraehs Seite, das halb unter der Decke verborgen war. Schnell fuhr seine Hand an das Heft Lidunggrimms. Und da war es. Das alte Frohlocken, wenn seine Finger die Todesbringerin umschlossen. Er kam auf die Beine; der Schwindel verflog schnell. Instinkthaft zog er die Klinge aus ihrer Scheide. Licht spiegelte sich auf ihrem kalten Stahl und blendete seine Augen. Eine Träne rann seine linke Wange herab. Er fand keine angemessenen Worte des Dankes, so schwieg er die Männer vor sich an. Zu Leid aber sagte er stumm, auf die Weise, wie nur Krieger mit ihren Klingen sprechen: Wir sind wieder im Spiel.

Krähentanz

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