Читать книгу Ihr mich auch - Pia Herzog - Страница 6
Оглавление2
Nachdem meine Mutter ihren Tee ausgetrunken hatte, erzählte sie mir, wo die Kunzendorffs wohnten. Das Haus lag zwei Kilometer außerhalb unseres Örtchens, also gar nicht weit von hier. Komisch, dass wir die Familie nicht kannten.
„Heute Abend um halb neun bin ich mit ihm verabredet, um die Formalitäten zu erledigen und seine Tochter schon mal kennenzulernen.“
„Können wir mitkommen?“, fragte ich und berichtigte mich im selben Atemzug: „Kann ich mitkommen?“
Rhys zielte mit dem Zeigefinger auf mich und drückte ab. Ich verdrehte die Augen.
„Dich soll ich mitnehmen?“ Meine Mutter schnaubte.
Ich nickte kräftig. Einer musste schließlich aufpassen, dass sie es nicht vermasselte.
„Dich? Mit pinken Haaren?“ Entschieden schüttelte sie den Kopf.
„Dann warte ich eben draußen vorm Haus.“
„Du bist echt neugierig, weißt du das?“
Ich grinste nur.
„Außerdem wird es bestimmt spät. Und morgen ist Schule.“
„Egal. Ich hab in den ersten beiden Stunden frei.“
Meine Mutter seufzte. „Na schön, wenn’s unbedingt sein muss ...“ Sie goss sich Tee nach und verzog sich mit der Tasse in ihr Allerheiligstes. Ganz früher war das mal unser Wohnzimmer gewesen. Mittlerweile war es jedoch in ein Arbeits- und Schlafbüro mutiert. Überall lagen Papierstapel, lebenswichtige Notizen und jede Menge Bücher herum. Nichts davon durfte von Unwissenden berührt oder womöglich verändert werden.
Für das Vorstellungsgespräch am Abend zog meine Mutter ihre Stöckelschuhe an und schminkte sich sogar. Darüber lachte Rhys sich halb tot. „Meine Güte, sieht das affig aus!“
Leider musste ich ihm zustimmen. Umso wichtiger, dass wir mitkamen.
Im Gänsemarsch überquerten wir den Hof, um unsere Fahrräder aus dem Schuppen zu holen. Meins quietschte und eierte und die Gangschaltung war Schrott. Übertroffen wurde es bloß noch von dem Drahtesel meiner Mutter, auf dem sie hockte, als hätte sie einen Stock verschluckt. Ich konnte nur beten, dass ihr neuer Arbeitgeber nicht aus dem Fenster guckte und uns kommen sah.
Die Adresse war nicht schwer zu finden. Hinter dem Ortsausgangsschild ging es nur noch geradeaus die Landstraße entlang. Das riesige Grundstück lag mitten zwischen Feldern und Weiden. Es wurde von einer Mauer begrenzt, die gerade so hoch war, dass sich alles, was sich dahinter befand, neugierigen Blicken entzog.
Auf der Einfahrt stellte meine Mutter ihr Fahrrad neben einem angeberischen Audi ab. Sie zupfte ihre Klamotten zurecht und klingelte am Tor. Ich wünschte ihr viel Glück. Dankbar lächelte sie mich an.
Wenig später ertönte ein Türsummer und sie trat ein. Rhys und ich spähten durch den Eingang, konnten aber außer einem riesigen Garten nichts erkennen.
Als meine Mutter verschwunden war, versteckten wir unsere Drahtesel ein Stück abseits im Graben. Dann huschten wir die Mauer entlang, bis wir einmal herum waren. Nirgends befand sich eine Stelle, an der wir uns durch die Mauer hätten zwängen können. Deshalb beschlossen wir drüberzuklettern, und zwar an der Hinterseite. Dort konnte uns wenigstens niemand von der Straße aus beobachten.
Die Mauer war nicht gerade niedrig, doch Rhys gelang es, sich daran hochzuziehen und auf der anderen Seite wieder runtergleiten zu lassen.
„Siehst du was?“, flüsterte ich neugierig.
„Komm rüber, Lu“, flüsterte er zurück.
War klar, dass mir das nicht erspart blieb. Fluchend und mit Abstrichen in der B-Note zog ich mich ebenfalls an der Mauer hoch. Oben angekommen machte ich mich erst mal platt wie ein Schnitzel und orientierte mich.
Das Haus stand vielleicht zehn Meter von der Mauer entfernt. Ein moderner Bau mit vielen Fenstern, die bis zum Boden gingen. Im hinteren Bereich des Gartens wuchsen höhere Bäume und einige Büsche. Wie dafür gemacht, um sich dahinter zu verstecken und anzupirschen. Rhys hockte in einem Ginster und machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Also sprang ich von der Mauer und rannte geduckt zu dem Busch. Unter seiner Führung schlichen wir uns näher.
Es war noch hell genug, um ins Haus zu sehen. Die breite Fensterfront, auf die wir zusteuerten, gehörte offenbar zum Wohnzimmer. Davor lag eine Terrasse mit einigen zusammengeklappten Gartenmöbeln. Drinnen konnte ich eine Sitzgruppe erkennen. Weißes Leder. Der Boden war schwarz gefliest und glänzte wie in der Putzmittelwerbung.
Kunzendorff und meine Mutter waren tatsächlich hier. Von einem Mädchen war allerdings weit und breit nichts zu sehen.
Meine Mutter hockte auf einem der weißen Sessel, aber auf höchstens zwei ihrer vier Buchstaben. In der Hand hatte sie ein zerbrechlich wirkendes Sektglas, das schon halb leer war. Der Mann stand und redete. Meine Mutter nickte dazu. Hoffentlich erzählte er ihr nicht seine ganze Lebensgeschichte!
Er besaß ein ziemlich sympathisches Lächeln, wie ich zugeben musste. Ein Lächeln, dem man sofort Vertrauen schenken wollte. Trotzdem sah er irgendwie müde aus.
Ansonsten war er korrekt gekleidet, um nicht zu sagen: spießig. Er trug sogar Pantoffeln. Ich ahnte schon, dass seine Schweizer-Internats-Tochter nicht mit pinken Haaren und geerbten Jungen-Klamotten herumlief.
„Eins der Fenster steht auf Kipp. Wenn wir uns flach auf die Terrasse legen, können wir vielleicht hören, was sie sagen“, wisperte Rhys in mein Ohr. Es kitzelte und ich unterdrückte ein Kichern. Anstelle einer Antwort kroch ich los, er immer dicht hinter mir.
Im weiten Bogen bewegten wir uns auf die Terrasse zu und hielten in regelmäßigen Abständen an, um zu lauschen. Dabei blieb ich ständig an irgendwelchen Ästen oder Wurzeln hängen. Nicht selten war mein T-Shirt klüger als der Busch und gab nach. Ich hatte keine blasse Ahnung, wie ich meiner Mutter die ganzen Risse erklären sollte, geschweige denn auf welche Weise ich beim Warten vor dem Tor nur so schmutzig geworden sein konnte. Aber mit ein bisschen Glück war sie noch so aufgeregt von dem Gespräch, dass sie darüber hinwegsah.
Vor dem gekippten Fenster blieben wir liegen und schoben uns so nah wie möglich an die Hauswand. Jetzt fand ich es auf einmal gar nicht mehr so praktisch, dass die Scheibe bis zum Boden ging. Ich hoffte, dass keiner der beiden plötzlich auf die Idee käme, das Fenster ganz zu öffnen, um die Abendluft hineinzulassen.
Rhys, der sich genauso platt an die Wand drückte wie ich, legte seinen Finger auf die Lippen und zwinkerte mir zu. Sein Gesicht war schmutzverschmiert und die Haare waren total zerzaust. Ich boxte ihm gegen die Schulter, froh, dass er bei mir war.
„Ich geh sie mal holen“, hörte ich Kunzendorff drinnen sagen. Vermutlich meinte er seine Tochter. Er redete anders als die Leute von hier. Städtischer. Dennoch passte die Stimme zu seinem Lächeln.
Meine Mutter murmelte irgendwas Zustimmendes. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten. Es dauerte einen Augenblick, bis ich von weiter weg ein Klopfen vernahm. „Viola? Viola, komm bitte. Die Sigrid möchte dich kennenlernen.“
Viola? Ach du heilige Schande! Auf diese Prinzessin war ich jetzt echt gespannt!
Mutig hob ich den Kopf und linste durch die Scheibe. Genau diesen Moment suchte sich meine Mutter aus, um aufzustehen und mit ihrem Sektglas in der Hand ans Fenster zu treten. Blitzschnell drückte Rhys meine Nase zurück in den Dreck. Ich presste mich an die Hauswand, kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Zu hören war nur das Scharren der Stöckelschuhe meiner Mutter. Keinen halben Meter neben meinem Ohr.
Jahrzehnte später kam der Hausherr zurück. Seine Tochter sei unpässlich und könne ihr Zimmer nicht verlassen.
Unpässlich? Was sollte das denn heißen? Hier war doch etwas oberfaul! Aber die Schritte meiner Mutter entfernten sich vom Fenster und endlich traute ich mich wieder zu atmen.
„Wie schade. Was hat sie denn?“
„Das ist nur der posttraumatische Stress.“
„Ach so.“ Meine Mutter klang, als wisse sie genau, worum es ging.
„Tja ...“
„Tja ...“
„Dann sehen wir uns also morgen früh um halb acht?“
Ich zuckte zusammen. Kamen die etwa so schnell schon zum Ende?
Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Nichts wie weg. Hektisch kroch ich rückwärts. Sobald ich den ersten dickeren Busch erreicht hatte, wagte ich, mich aufzurichten. Rhys war nicht mehr hinter mir, sondern schlich ums Haus und guckte neugierig durch die anderen Fenster hinein. Vielleicht, um einen Blick auf Prinzessin Viola die Unpässliche zu werfen.
„Rhys!“, zischte ich.
Er hörte mich nicht. Aber auf ihn konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Ich schaute mich um, ob ich irgendetwas fand, was mir beim Klettern half. Da sprangen mir die Mülltonnen ins Auge, die in einem Verschlag direkt neben der Mauer standen. Gebückt rannte ich quer über das Grundstück.
Als ich bei dem Verschlag ankam, traten meine Mutter und Kunzendorff aus der Haustür. Gerade noch rechtzeitig duckte ich mich in den Schatten eines Baumes. Die Erwachsenen schlenderten Richtung Tor und plauderten. Ich nutzte die Gelegenheit und hievte mich auf eine der Tonnen. Von dort wälzte ich mich über die Mauer. Zu schwungvoll, wie sich herausstellte. Auf der einen Seite fiel die Tonne, von der ich mich abgestoßen hatte, mit Getöse um und auf der anderen Seite plumpste ich mit nicht viel weniger Getöse in ein Gebüsch.
Obwohl mir nach dem Sturz alles wehtat, rappelte ich mich auf und rannte los. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Kunzendorff eine Mülltonne, die scheinbar grundlos umgefallen war, nicht überprüfen würde. Dieses unbeabsichtigte Ablenkungsmanöver verschaffte mir jedoch so viel Zeit, dass ich es bis zur Straße schaffte. Sogar meine Rostlaube konnte ich noch aus dem Graben ziehen, bevor meine Mutter in der Einfahrt auftauchte. Damit sie nicht merkte, dass ich vom Rennen noch ganz außer Atem war, hustete ich übertrieben.
„Lu!“, rief sie erschrocken. „Was ist denn mit dir passiert?“
„Hast du den Lastwagen nicht gehört?“, krächzte ich. „Der ist mit 180 Sachen so dicht an mir vorbeigerast, dass ich samt Fahrrad im Graben gelandet bin!“
Meine Mutter sah die Landstraße entlang, auf der sich weit und breit kein Auto blicken ließ. Dann betrachtete sie mich noch einmal von oben bis unten. Sie glaubte mir nicht, das war klar. Doch sie hatte viel zu wenig Fantasie, um sich auszumalen, was wirklich geschehen war. Kopfschüttelnd stieg sie auf ihren Drahtesel und fuhr nach Hause.
Erst am nächsten Tag sahen Rhys und ich uns wieder. Da er nicht auf meine Schule ging, mussten wir bis nach dem Unterricht warten, bis wir uns treffen konnten. Heute trug er zur Abwechslung ein pinkes T-Shirt mit der Aufschrift YES, I’M REAL. Zusammen schlenderten wir durch die Fußgängerzone. Ich strich mir die pinken Strähnen aus dem Gesicht und wollte von ihm wissen, ob er am vorigen Abend noch irgendwas Interessantes hatte herausfinden können.
„Prinzessin Viola habe ich nicht gesehen, falls du das meinst“, sagte er. „Nur ihren Vater, der geflucht hat wie ein Fußballtrainer, dessen Team in der Nachspielzeit den Ausgleich kassiert. Und das bloß, weil er die Mülltonne wieder einräumen musste, die irgendwelche Randalierer umgeworfen haben.“
Ich musste lachen. Doch schnell wurde ich wieder ernst. „Was hältst du von der ganzen Angelegenheit?“
Rhys zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Aber so ganz koscher sind die nicht.“
„Nein. Die Sache stinkt zum Himmel.“
Wir gingen weiter und überlegten, was wir tun konnten. Ich war dafür, meiner Mutter den neuen Job so schnell wie möglich auszureden. Bestimmt hatte sie mit Kunzendorff eine Art Probezeit vereinbart. Wenn sie heute Abend kündigte, war das hoffentlich noch nicht zu spät.
Rhys dagegen fand, wir sollten erst einmal die nächsten Tage abwarten und gucken, wie sich alles entwickelte. Vielleicht gab es für das Verhalten der Kunzendorffs eine ganz simple Erklärung. Ich zeigte ihm einen Vogel. Das glaubte er doch wohl selbst nicht!
„Hey, Pinky!“ Drei Jungs aus der Parallelklasse drängelten sich an uns vorbei. Einer der Spinner blieb stehen und zog an meinen Haaren.
„Geile Farbe, Alter!“, tönte er. Seine Kumpels lachten.
Ich fuhr herum und wäre ihm fast ins Gesicht gesprungen. Da schob Rhys sich vor mich und nahm den Idioten ins Visier. Seine Augen sprühten Funken. „Lass Lu in Ruhe!“
Mann, war ich in dem Moment stolz auf ihn!
Der Parallelo wich zurück. „Man wird doch wohl mal testen dürfen, ob die Löckchen echt sind.“
„Verpiss dich“, zischte ich und das tat er dann auch. Finster starrte ich ihm und seinen Kumpanen hinterher, während Rhys beschwichtigend den Arm um meine Schultern legte. Erst als sie verschwunden waren, hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich weitergehen konnte. Gemeinsam beschlossen wir, zu mir nach Hause zu fahren, um dort auf meine Mutter zu warten.
Diese kam bedeutend früher heim, als wir gedacht hätten. Rhys und ich saßen gerade rittlings auf dem Dachgiebel unseres Hauses und versuchten, mit den Vorjahreskastanien in den Schornstein des Nachbarhauses zu werfen. In dem Augenblick, als ich meinen dritten Treffer landete, sah Rhys sie auf ihrem Fahrrad um die Ecke biegen.
Meine Mutter wirkte aufgelöst. Siebzig Prozent der Haarsträhnen waren aus ihrem Zopf gerutscht. So wagte sie sich normalerweise nicht unter Leute. Irgendetwas musste passiert sein und ich ahnte, dass sich ihre Laune nicht bessern würde, wenn sie Rhys und mich auf dem Dach erwischte. In Windeseile rutschten wir runter und landeten in meinem Zimmer.
„Hier“, sagte Rhys und drückte mir eine krumpelige Kastanie in die Hand. Danach hauchte er mir ein Küsschen auf die Wange und verschwand in den Flur. Zuerst war ich wie vom Donner gerührt, aber dann lächelte ich und ließ die Kastanie in meine Hosentasche gleiten.
Im nächsten Moment erschien meine Mutter im Flur. Nicht nur ihre Frisur war wirr, sondern auch ihr Blick.
„Was ist los, Mama?“
Sie ignorierte mich, lief in die Küche und riss erst einmal alle Schränke auf. Verständnislos guckten Rhys und ich uns an.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“
Daraufhin brach sie zusammen. Sie ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken, verbarg das Gesicht in beiden Händen und fing an zu heulen. Dabei stammelte sie völlig unzusammenhängendes Zeug. „Polizei“, „blutüberströmt“ und „alles vermasselt“. Ihr Gestammel trug nicht dazu bei, dass ich ruhiger wurde. Im Gegenteil.
Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Mama! Jetzt erzähl endlich, was passiert ist!“ Fast klang meine Stimme genauso hysterisch wie ihre.
Rhys legte mir seine Hand auf den Arm. „Bleib locker, Lu.“
Er hatte recht. Deshalb ließ ich mich ebenfalls auf einem Küchenstuhl nieder, atmete dreimal tief durch und zählte bis dreiundfünfzig. Danach erhob ich mich und setzte Wasser auf.
Viele Tassen Tee und einen Gang zum Klo später hatten wir sie endlich so weit, dass sie uns die ganze Geschichte erzählen konnte.
Viola Kunzendorff schien etwa in meinem Alter zu sein und hatte sich von Anfang an als Albtraum eines jeden Babysitters geoutet. Von der Kunzendorffschen Haushälterin, die sich klugerweise aus allen Erziehungsfragen raushielt, hatte meine Mutter erfahren, dass sie bereits die neunte Gouvernante im Hause Kunzendorff sei. Und zwar innerhalb der letzten vier Wochen.
„Krass. Das macht einen Verschleiß von gut einem Drittel Kindermädchen pro Tag“, rechnete Rhys aus. Kein Wunder, dass der Vater inzwischen verzweifelt genug war, eine Studentin anzuheuern und ihr auch noch 120 Euro am Tag für den Job zu bieten!
Viola habe sich von Anfang an allem verweigert, berichtete meine Mutter weiter. Das Mädchen wollte weder Frühstück noch Mittagessen und ließ sich auch nicht für Gesellschaftsspiele oder einen Spaziergang begeistern. Stattdessen habe sie sich im Badezimmer eingeschlossen. Als sie nach über einer Stunde noch immer da drin hockte, brachen meine Mutter und die Haushälterin die Tür auf. Weit und breit keine Viola. Dafür ein sperrangelweit offenes Fenster.
In Panik rannte meine Mutter einmal ums ganze Haus. Nichts. Von Viola fehlte jede Spur. Sie durchkämmten die nähere Umgebung, guckten unter jeden Busch – ohne Erfolg. In dem Augenblick, als meine Mutter sich völlig aufgelöst dazu durchgerungen hatte, Kunzendorff anzurufen, klingelte es am Tor. Draußen standen zwei Polizisten mit Viola am Schlafittchen. Violas Gesicht war blutüberströmt. Meine Mutter bekam fast einen Herzinfarkt.
Das Mädchen sei dabei aufgegriffen worden, auf dem Friedhof randaliert und einen Grabstein umgeworfen zu haben, erfuhr sie. Und im Übrigen sähe die Platzwunde an der Stirn, wo sie den Stein gerammt hatte, so aus, als müsse sie dringend genäht werden. Mit diesen Worten tippten die Polizisten sich an die Mütze und verschwanden.
Ich explodierte. „Mit dem Kopf einen Grabstein umgeworfen? Die hat doch ’ne Vollmeise!“
„Du musst sie verstehen. Sie hat einen schweren Unfall hinter sich.“
„Na, toll! Und da haben sie ihr gleich das Hirn amputiert oder was?“
„Nein, aber –“
„Du hast hoffentlich gleich gekündigt!“
Das schlechte Gewissen stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Ich hab erst mal den Krankenwagen gerufen.“
Und der war auch sofort angerauscht. Ohne großes Tamtam hatten die Sanitäter die tobende Viola eingesammelt und abtransportiert.
Danach war meine Mutter geflohen.