Читать книгу Ihr mich auch - Pia Herzog - Страница 8

Оглавление

4

Nach ihrem Ausflug auf den Friedhof verbrachte Viola Kunzendorff zwei volle Tage in der Klinik. Am Abend vor ihrer Ent­­­lassung verbannten ihr Vater und meine Mutter sämtliche Schlüssel aus dem Kunzendorffschen Haushalt und sperrten sie in den Tresor.

Freitagmorgen stürzte sich meine Mutter mit frischem Elan in die neue Aufgabe.

Ich erklärte sie für durchgeknallt. „Und zwar total.“

„Du willst ja bloß nicht, dass ich Geld verdiene, weil du Angst davor hast, die pinke Farbe in der Drogerie bezahlen zu gehen.“

Darauf fiel mir nichts mehr ein. Beim besten Willen nicht.

Den Nachmittag verbrachten Rhys und ich damit, im Schuppen einen Sandsack zu bauen. Ich ahnte, dass ich ihn brauchen würde. Insgeheim warteten wir auf meine Mutter, doch die gab sich diesmal nicht die Blöße, frühzeitig zu Hause aufzutauchen.

Der Schuppen war das baufälligste Gebäude im ganzen Dorf. Er hatte ein Tor, das nur noch zur Hälfte aufging. Drinnen verstaubten Tonnen von Sperrmüll, angefangen bei einem kaputten Puppenwagen bis zum ausrangierten Moped.

Ich hatte ein paar alte Plastiktüten organisiert, mit denen ich von einer zweihundert Meter entfernten Baustelle den Sand besorgte. Für solche Unternehmungen war es reichlich unpraktisch, einen unsichtbaren Freund zu haben. Ich musste den ganzen Sand selbst schleppen. Zuversichtlich redete ich mir ein, dass das ein super Training sei, doch mein Rücken und meine Arme waren ziemlich bald anderer Meinung.

Stöhnend ließ ich mich auf einer mottenzerfressenen Matratze nieder und beobachtete Rhys dabei, wie er einarmige Liegestütze trainierte. Währenddessen dachte er angestrengt darüber nach, wie wir den Sandsack an der Schuppendecke befestigen sollten. Keine einfache Aufgabe, denn das Ding wurde garantiert höllenschwer.

Mit zwei leeren Plastiktüten bewaffnet marschierte ich erneut los und überließ ihm die Denkarbeit. Als ich zurückkam, hatte er einen Flaschenzug in den Staub gezeichnet und als ich von der nächsten Tour wiederkam, war er bereits dabei, die Räder von dem alten Puppenwagen abzumontieren. Ich ließ ihn machen und schleppte.

Den Sand schaufelte ich später in einen großen Plastiksack. Als der voll war, war er so schwer, dass ich ihn nicht mehr hochheben konnte.

Rhys drückte mir eine Wäscheleine in die Hand, die er in dem Gerümpel gefunden hatte. Damit sollte ich den Sack zubinden. Dann mussten wir nur noch das andere Ende der Leine über den Querbalken unter der Decke werfen und den Flaschenzug einbauen.

Wer schon mal versucht hat, ein steifes Tauende über einen Balken in dreieinhalb Meter Höhe zu werfen, weiß, wie unmöglich das ist. Nach meinem dritten Fehlversuch, bei dem mir nur jede Menge Dreck und Staub auf den Kopf rieselten, griff Rhys sich die Leine und band das Ende um einen halben Ziegelstein. Damit zielten wir nun abwechselnd, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg – von der laut klirrenden Fensterscheibe abgesehen.

Also musste ich hochklettern und die Wäscheleine per Hand über den Balken fädeln. Dazu stapelten Rhys und ich Schrott an der Wand auf. Zuunterst einen kaputten Röhrenfernseher, dann einen Stuhl, dem ein Bein fehlte, und oben drauf eine Schublade, hochkant, die wir aus einer kotzbraun gestrichenen Kommode zerrten. Obwohl die ganze Angelegenheit ziemlich wackelig war, schaffte ich es, bis oben auf die Schublade zu steigen. Von dort konnte ich nun die Schnur über den Balken schieben. Ich schob so viel nach, bis Rhys unten das Ende greifen konnte, wobei ich mich zum Glück an dem Balken festhielt.

Ich sage zum Glück, weil im nächsten Moment der Schrott­stapel unter mir zusammenbrach und ich in der Luft hing. Wenn ich jetzt losließ, würde ich nicht nur nicht auf dem Boden des Schuppens landen, sondern auch noch auf einem Fernseher, einem Stuhl und einer kotzbraunen Schublade. Das versprach Schmerzen, die ich ernsthaft gewillt war zu umgehen.

„Hangele dich rüber“, schlug Rhys vor, der selbst zu substanzlos war, um mich aufzufangen. Er zeigte auf die andere Seite des Schuppens, wo die mottenzerfressene Matratze lag.

„Können vor Lachen.“ Mit zusammengebissenen Zähnen begann ich zu hangeln. Meine Arme, die heute schon mehrere Tonnen Sand durch die Gegend geschleppt hatten, protestierten. Mein Kopf und vor allem mein Hintern, der bei einem Sturz die Hauptlast würde tragen müssen, befahlen ihnen, die Klappe zu halten.

Meine Hände fingen an zu schwitzen. In dem Holzbalken steckten tausend rostige Nägel und ich betete, dass mein Tetanus­­­schutz noch hielt. Mehr mit Willens- als mit Muskelkraft hangelte ich mich quer durch den Schuppen. Am anderen Ende des Balkens ließ ich mich fix und fertig auf die Matratze fallen.

Rhys war sofort bei mir und tastete mich von oben bis unten ab, um festzustellen, ob womöglich irgendwelche Knochen gebrochen waren. Wenn ich ehrlich sein soll, tat mir alles weh, doch das sagte ich ihm nicht. Stattdessen lehnte ich mich auf der Matratze zurück und behauptete, ich würde ihm von hier mit Genuss beim Bauen des Flaschenzugs zusehen.

Ich musste eingenickt sein, denn als ich das nächste Mal hochsah, war der Flaschenzug fertig.

„Tä-däää!“

Ich sprang auf und betrachtete das Kunstwerk. Zugegeben, es sah ziemlich instabil aus, aber Hauptsache, es funktionierte. Rhys und ich packten das lose Ende der Wäscheleine und zogen probehalber. Mit dem Erfolg, dass die Leine vom zugebundenen Ende des Plastiksackes abrutschte und in die Höhe schnellte.

Wir fingen sie wieder ein und befestigten sie mit allen See­mannsknoten, die unsere Fantasie hergab.

Erneut begannen wir zu ziehen. Diesmal hielt die Leine. Lang­sam richtete sich der Sandsack aus seiner liegenden Position auf, mit jedem Ruck ein bisschen mehr. Von der Anstrengung brannten meine Arme wie Desinfektionsmittel auf einer Schürfwunde. Ich presste die Lippen fest aufeinander und atmete nur noch stoßweise.

„Hau-ruck! Hau-ruck!“, trieb Rhys uns an.

Ich zog. Und er zog. Inzwischen stand der Sack aufrecht. Ich schwitzte am ganzen Körper. Die Wäscheleine schnitt in meine Finger. Ich schlang sie mir einmal um die Hand, damit ich nicht abrutschten konnte. Nachdem ich meine Kraft gesammelt hatte, zogen wir weiter.

Der Sandsack hob sich vom Boden. Die Leine hielt. Wie im Rausch packten wir erneut zu. Doch im nächsten Moment platzte der Plastiksack von dem Gewicht seines Inhalts und der ganze Sand klatschte auf den Boden. Gleichzeitig landeten Rhys und ich auf unseren vier Buchstaben, von wo wir einen erstklassigen Ausblick auf die Bescherung hatten.

Der kaputte Müllsack und die Wäscheleine lagen auf einem Sandhaufen mitten im Schuppen. Die Kinderwagenräder rollten in alle Himmelsrichtungen davon.

„Scheiße!“

Rhys legte mir seinen Arm um die Schulter. „Mach dir nichts draus, Lu.“

Ich schüttelte ihn ab. Fast hätte ich geheult.

Nur weil er dabei war, riss ich mich zusammen.

Stattdessen rappelte ich mich auf, griff nach der geplatzten Plastiktüte, wickelte die Wäscheleine drum und stürmte aus dem Schuppen.

Draußen pfefferte ich die unzuverlässigen Utensilien in eine Mülltonne. Der Sandhügel konnte bleiben. Im Laufe der Zeit würde er sich platttreten. Ich hatte jedenfalls keine Lust, ihn wegzuräumen.

Jetzt gab es nur eine Sache, die ich tun wollte, die ich immer tat, wenn ich mit meinen Gedanken allein sein musste. Ich kletterte auf den Kastanienbaum. Obwohl meine Arme sich beschwerten, kletterte ich so hoch ich konnte und setzte mich oben in eine Astgabel. Zuerst zögerte Rhys, doch dann folgte er mir und hockte sich irgendwo gegenüber hin. Durch das dichte Blätterwerk konnte ich ihn kaum sehen, was ganz gut war. Wir schwiegen lange.

Mir kam etwas in den Sinn. Ein Zitat von Henry Ford, einem Amerikaner, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt und eine Fabrik gegründet hatte, in der die ersten Autos am Fließband hergestellt wurden. Der Mann hatte einmal gesagt, es gäbe mehr Leute, die aufgaben, als solche, die scheiterten.

Gerade hatten wir, Rhys und ich, in der Sandsack-Sache aufgegeben und das ärgerte mich maßlos. Ich nahm mir vor, nie mehr so leicht zu kapitulieren. Nie mehr.

„Aber wo hört aufgeben auf?“, gab Rhys zu bedenken.

Manchmal ließ ich ihn meine Gedanken erraten. Das war das Privileg eines unsichtbaren Freundes. Dennoch runzelte ich die Stirn. Was meinte er?

„Naja, wo hört aufgeben auf und wo fängt scheitern an? Bei zehn Fehlversuchen? Bei hundert? Bei tausend?“

Hm. Berechtigte Frage: Wie oft musste man etwas versuchen, bis man definitiv gescheitert war?

Ich fand keine Antwort darauf und Rhys auch nicht. Außer der Erkenntnis, dass Lebensweisheiten, die auf den ersten Blick wirklich clever klangen, einer näheren Betrachtung nicht unbedingt standhielten.

Wir blieben so lange da oben, bis in den meisten Wohn­zimmern die Fernseher angingen. Als Rhys und ich die Treppe ins Dachgeschoss hochtrampelten, war meine Mutter längst zu Hause. Ich fragte sie nicht, wie es heute mit Prinzessin Viola gelaufen war. Ihrem Gesicht konnte ich ansehen, dass sie mich sowieso nur anlügen würde. Das – plus meine noch immer schwelende Sandsack-Frustration – und ich beschloss, heute lieber ohne Abendbrot ins Bett zu gehen.

Ihr mich auch

Подняться наверх