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Kapitel 2
Оглавление»Warte, ich brauche noch meine Spongebob-CD«, kreischt Tom, bevor er in Michaels BMW steigt. Schnell kommt er herübergelaufen und durchsucht das Handschuhfach. »Dann will ich meine Kopfhörer«, murrt Ben. Die Aussicht auf drei Stunden Schwammkopf-Alarm löst in ihm alles andere als Begeisterung aus.
»Hast du alles abgeschlossen?« »Ja«, seufzt Lotte, »ist alles gut verriegelt. Es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich wieder hierher komme.« Wehmütig steckt sie den Schlüssel in ihre Handtasche und wirft einen letzten Blick auf ihr Schmuckstück. Ich habe das Gefühl, dass die Erinnerungen an ihre kleine Emma gerade wieder in ihr hochkommen. Sie hat die Tage mit meinen Jungs hier sichtlich genossen, doch natürlich schweifen ihre Gedanken dann auch zu ihrer kleinen Tochter, mit der sie die kurze, kostbare Zeit auf Erden am liebsten hier verbracht hat. Gemeinsam mit ihrem ebenfalls schon verstorbenen, geliebten ersten Ehemann Werner.
Lotte versucht, sich nicht von der Melancholie beherrschen zu lassen und verabschiedet sich gefasst von Michael und Manfred. »Aber wir sehen uns doch noch, wenn wir irgendwo eine Pause machen, oder nicht?«, fragt Michael nach. »Wir müssen mal sehen. Falls Brutus eingeschlafen sein sollte, würde ich lieber in einem durchfahren.« »Lass uns einfach telefonieren«, schlage ich vor, »dann können wir das spontan entscheiden.« Damit steigen wir ein und machen uns auf den langen Heimweg.
Nachdem wir gut auf der Autobahn gelandet sind, und ich mich nicht mehr darauf konzentrieren muss, mich nicht zu verfahren, beginnt Lotte mit dem bereits angekündigten Gespräch. »Also, Annie, ich habe ja gestern schon gesagt, dass ich etwas mit dir besprechen möchte.« Froh darüber, dass sie mich endlich erlöst, nicke ich erwartungsvoll mit dem Kopf. »Es geht um den Hof.« Sie macht eine kleine Pause. »Erzähl!«, fordere ich sie sanft auf. »Nachdem Lenas Anwältin ja endlich dafür gesorgt hat, dass ihre Dinge abgeholt wurden und das Haus nun leer steht, stellt sich für mich die Frage, was ich damit tun soll. Eigentlich müsste ich es wieder vermieten. Aber ehrlich gesagt, fühle ich mich mit der Abwicklung ein wenig überfordert. Genauso wie mit den ganzen Verwaltungsdingen, die den Hof betreffen.«
Ich unterbreche Lotte nicht und warte geduldig auf ihre weiteren Ausführungen. »Auf der anderen Seite weiß ich, dass du am liebsten einen Nebenjob hättest, den du von zu Hause aus erledigen könntest.« Ich ahne, worauf sie hinaus möchte, weiß aber noch nicht, was ich davon halten soll. »Und da dachte ich«, fährt sie fort, »vielleicht hättest du Lust, die komplette Verwaltung des Hofes für mich zu erledigen und ich zahle dir ein Gehalt dafür.« Die Vorstellung, von Lotte Geld zu bekommen, damit ich ihr helfe, verursacht auf der Stelle ein Magendrücken bei mir. »Ich kann dir gerne bei diesen ganzen Dingen helfen, aber ich werde dafür kein Geld nehmen.«
Lotte schien darauf vorbereitet zu sein, denn auch sie antwortet sanft, aber entschieden. »Annie, lass mich bitte ausreden. Ich weiß, dass du das tun würdest. Aber da ich weiß, wie knapp deine Zeit ist, wenn du weiterhin zwei Jobs machst und auch genügend Zeit für deine beiden Jungs haben möchtest, würde ich dir das nicht zumuten. Ich werde so oder so jemanden einstellen, der mir das alles abnimmt, aber es wäre mir viel lieber, ich könnte dir diese Dinge anvertrauen, als jemandem, den ich nicht kenne. Und wenn du statt des Jobs im Restaurant zu Hause arbeiten kannst, haben wir doch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Du kannst dir die Zeit frei einteilen. Die Pflege des Hofes machst du sowieso schon fast alleine und das möchte ich auch nicht einfach so annehmen. So könnte ich dir die Aufgaben komplett übergeben und würde mich viel besser damit fühlen.«
»Aber ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich Geld von dir annehme.« Lotte lächelt. Auch diese Antwort hatte sie erwartet. »Kindchen, ich werde auf jeden Fall jemanden dafür bezahlen. Diese Entscheidung steht für mich fest.« Jetzt versucht sie eine andere Taktik, um mir die Entscheidung zu erleichtern. »Wenn ich jemanden einstelle, wäre er ständig auf dem Hof, um die Anlage in Ordnung zu halten, für Reparaturen zu sorgen, würde Wohnungsbesichtigungen für neue Mieter machen, meine privaten Unterlagen sehen wollen. Kannst du nicht verstehen, dass du mir damit einen großen Gefallen tun würdest?« Aha, jetzt sind wir an dem Punkt, wo sie an mein Gewissen appelliert, weil sie ahnt, dass sie nicht damit durchkommt, wenn sie mir etwas Gutes tun will. Doch ehrlich gesagt, wäre das für mich die perfekte Lösung. Von der Arbeit her wäre das völlig unproblematisch zu bewältigen und ich könnte mir alles selbst einteilen. Keine überraschenden Anrufe mehr mit der Frage: Können Sie am Samstag einspringen, eine Kellnerin ist krank geworden und wir haben eine große Geburtstagsfeier.
Die Vorstellung ist wirklich verlockend, doch der Gedanke, von Lotte bezahlt zu werden, hinterlässt nach wie vor einen schalen Beigeschmack. »Lass mich darüber nachdenken, ja? Das ist jetzt etwas überraschend für mich und ich muss mal darüber schlafen.« Zufrieden lächelt Lotte. Sieht aus, als rechne sie jetzt schon mit meiner Zusage. Ich sehe sie von der Seite an. Lotte erwidert meinen Blick und versucht vergeblich, nicht zu glücklich auszusehen. Aber sie kann sich nur schwer beherrschen. Irgendwann kann sie nicht mehr und lacht laut los. Als ich mit dem Kopf schüttele, erwidert sie nur: »Es würde mich einfach unglaublich glücklich machen. Und jetzt lassen wir es gut sein.«
Eine Weile fahren wir, ohne miteinander zu sprechen, sondern genießen die CD, die ich extra für Lotte ausgeliehen habe. Schlager der 60er und 70er Jahre. Meine Mutter hat diese Lieder früher immer zu Hause gehört, da war ich einfach nur genervt und wollte sie am liebsten knebeln. Nicht weil sie so eine schlimme Stimme hätte, nein, weil Texte wie Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit, Hojahojaho einfach nur abgenervt haben. Und jetzt? Ich glaube es selbst nicht. Jetzt sitze ich hier neben Lotte und wir grölen lauthals zusammen Beiß´ nicht gleich in jeden Ahapfel, er könnte sauer sein. Gut, dass uns keiner hören kann. Die Kinder hätten jetzt einen Schreikrampf bekommen. Denn auf rote Apfelbähäckchen fällt man leicht herein. Brutus beeindruckt das überhaupt nicht, er schlummert friedlich auf dem Rücksitz. Daher beschließen wir auch, als der erwartete McDonalds-Pausenanruf kommt, lieber weiterzufahren, und die Männer dann erst zu Hause wiederzusehen.
Obwohl ich noch keine Entscheidung getroffen habe, gehen mir Gedanken um Lenas Wohnung durch den Kopf. Irgendwann wird wieder jemand dort einziehen. Die exklusive, fast schon sterile Art, in der Lena sowohl Wohnung, als auch Garten gestaltet hat, würde mit Sicherheit einem ausgewählten Publikum gefallen. Wenn man mich fragen würde, passt dieser Teil des Hofes überhaupt nicht zu dem harmonisch und liebevoll gestalteten Rest des traumhaften Anwesens. Überall blühen zu jeder Jahreszeit Blumen oder Stauden, alte Kastanien- und Apfelbäume, die Obststräucher in den verschiedenen Nischen. Alles in allem gleicht das Anwesen einem farbenfrohen, wie zufällig arrangierten Paradies. Dagegen wirkt schon der Eingangsbereich des nun frei stehenden Häuschens mit seinen schwarzen und weißen Steinen und den genau ins Raster passenden harten Steingewächsen wie ein kalter Schlag ins Gesicht.
Lotte holt mich aus meinen Gedanken. »Könntest du dir vorstellen, dass Michael dort einziehen würde?« Ein verlockender Gedanke. »Keine Ahnung. Über so etwas haben wir noch nie gesprochen. Falls wir mal zusammenziehen sollten, wäre mein kleines Häuschen nicht groß genug für uns alle. Dass wir in die Stadt ziehen, käme für mich nicht in Frage. Wenn ich so darüber nachdenke, wäre das schon eine schöne Vorstellung. Michael hätte sein eigenes Reich und weiterhin seinen Freiraum, und wir wären trotzdem nah beieinander.« »Dann frag ihn doch einfach«, schlägt Lotte vor. Jetzt bin ich verunsichert. »Eigentlich möchte ich das ungern tun. Wenn Michael mit uns zusammenziehen möchte, sollte das von ihm aus kommen. Ich hätte sonst immer das Gefühl, dass er sich verpflichtet fühlt.« »Aber das ist doch Quatsch. Er kann doch selbst entscheiden.« Da ich nicht antworte, fügt sie noch hinzu: »Wenn er nicht kommen möchte, muss er doch nicht.«
Ich weiß nicht, mein Bauch hat in diesem Fall einfach noch keine klare Meinung. Darauf habe ich bisher immer vertraut und bin damit bestens gefahren. Genau zu diesem Zeitpunkt schmettert Daliah Lavi lauthals aus dem CD-Player: Ohohohohoho, wann kommst du? Vielsagend blickt Lotte mich an und meint: »Siehst du? Das solltest du Michael fragen.« Sofort geht mir durch den Kopf, was meine beste Freundin Lissy dazu sagen würde. Sie hätte hundertprozentig wieder schlüpfrige Gedanken. »Bist du dir sicher? Es könnte missverstanden werden.« Als Lotte mein Grinsen im Gesicht sieht, kann sie sich nicht mehr ernst halten. »Auch gut.«
Ehe ich mich versehe, ist Bonn in Sichtweite und ich versuche, die Gedanken zu sortieren, was ich heute noch alles tun muss. Vor allem muss ich sehen, dass die Wäsche der Kinder morgen wieder gepackt im Koffer ist, wenn Paul sie abholen kommt. Ich hoffe, dass die leichte Entspannung, die in unserer Beziehung eingetreten ist, nun auch dauerhaft anhält. Wobei ich mich hin und wieder dabei ertappe, dass mir dieser Frieden verdächtig vorkommt. Was eigentlich gar nicht meine Art ist. Dann denke ich wieder: Wenn du das immer wieder vermutest, wird die schlechte Stimmung mit Sicherheit auch kommen. Also überrede ich meinen Bauch, darauf zu vertrauen und dankbar dafür zu sein, dass alles gut ist.
Es ist ein schönes Gefühl, in den Hof einzufahren. Der Blick geht direkt zur großen Kastanie in der Mitte des Hofes, unter der wir vor einem Jahr unsere Einweihungsparty gefeiert haben. Der große Holztisch darunter lädt förmlich dazu ein, sich in den Schatten zu setzen und mit einem Kaffee in Ruhe anzukommen. Erst dann geht mein Blick zu meiner Haustüre, an der ein riesiger pinkfarbener Luftballon hängt. Es gibt keinen Zweifel, von wem der ist. Meine allerliebste Freundin Lissy war hier und hat einen Willkommens- und Geburtstagsgruß hinterlassen. Wie gerne hätte ich sie zu meiner Feier mit nach Holland genommen. Doch das Ferienhaus platzte auch so schon aus allen Nähten und dazu kommt, dass Lissys Zeit seit kurzem noch viel kostbarer geworden ist, da sie jemanden kennengelernt hat, mit dem sich wohl etwas Festes anbahnt. Ich freue mich so sehr für sie.
»Warte Lotte, ich helfe dir, die Koffer rüberzubringen. Ich will nur schnell die Nachricht von Lissy lesen.« Ich nehme die Geschenktüte, die neben dem Luftballon an der Haustüre hängt und sehe hinein. Ein Pikkolo und eine Karte. Natürlich mit einem halbnackten Mann mit Sixpack darauf. Ruf mich an, wenn du etwas Luft hast, ich will dir unbedingt mein Geschenk vorbeibringen. Kuss, Lissy. Wie freue ich mich darauf, heute Abend mit ihr anzustoßen.
Da Michael erst seinen Vater nach Hause gebracht hat, gelingt es mir nicht nur, die erste Wäsche anzustellen, sondern auch den Tisch im Garten nett für einen kleinen Kaffeeklatsch zu decken. Ein paar Waffeln sind für so einen Fall immer im Haus und schnell habe ich einige Löwenmäulchen abgeschnitten und in einem blauen Tonkrug mit auf den Tisch gestellt. Lotte wollte sich etwas hinlegen und später dazukommen. Also nutze ich die Zeit, und schreibe Lissy wenigstens schon mal eine SMS. Vielen Dank für die tolle Überraschung. Melde mich später. Schon fährt Michaels BMW leise und elegant in den Hof.
Statt des erwarteten Wirbelsturms kommen aber nur 3 müde Männer aus dem Auto gekrochen. Anscheinend sind auch sie geschafft von der Fahrt. Ben und Tom verkriechen sich gleich nach drinnen, während Michael sich neben mir auf die Bank plumpsen lässt. »Geschafft?« »Mhmm.« Ich neige mich zu ihm hinüber und lege meinen Kopf auf seine Schulter. Nicht bequem, aber ich liebe es, die zarte Haut seines Halses zu spüren und sein Aftershave zu riechen. Schnell scheint Tom allerdings seine Energie wiedergefunden zu haben und steht aufgeregt neben uns. »Kann ich mich heut noch mit Maxi verabreden?« Oh, nein. So schnell wollte ich den Trubel gar nicht zurückkehren lassen.
»Wir sind doch gerade erst angekommen. Und morgen werdet ihr schon von Papa geholt.« Als hätte ich ihm gerade die passenden Argumente geliefert, kommt prompt seine Antwort: »Genau, dann sehe ich Maxi den Rest der Ferien gar nicht mehr. Das geht nur heute.« Mein Bauch sträubt sich heftig, aber mein Herz wird schon wieder weich. Bis Michael überraschend einlenkt. »Ich habe doch noch eine Überraschung für Mama und da wollte ich Ben und dich gerne mitnehmen.« »Eine Überraschung?«, will Tom wissen. Stimmt, ich hatte es auch schon fast vergessen. Mein Geburtstagsgeschenk. »Das wird euch gefallen«, verspricht Michael. Jetzt bin ich noch neugieriger. MEIN Geburtstagsgeschenk wird den Kindern gefallen?
»Wo fahren wir denn hin?« Michael grinst verschmitzt. »Überraschung. Hab ich doch gesagt. Du sagst deinen Kindern immer, sie sollen Geduld lernen.« Da stimmt Tom ihm nur zu gerne zu. »Holst du Benny? Wir müssen gleich losfahren«, schickt er den Kleinen ins Haus. Na gut, dann eben doch keine Kaffeepause. Die restlichen Dinge der Kinder räumen wir ins Haus und schon sitzen wir wieder im Auto. Obwohl nun auch die Kinder ständig fragen, wohin es denn geht, lässt sich Michael nicht dazu überreden, auch nur einen kleinen Tipp abzugeben, wohin die Reise gehen soll. Als er jedoch an der Ausfahrt Troisdorf den Blinker setzt, kommt eine starke Ahnung in mir hoch. Ich weiß nicht, ob dieses Gefühl ein gutes Gefühl ist.
Was hat um diese Zeit geöffnet? Das Schwimmbad. Dazu haben wir keine Sachen eingepackt. Unser Lieblingsitaliener? Die Männer waren doch eben erst bei McDonalds. Ein Gedanke schleicht sich wieder und wieder in meinen Kopf, aber ich versuche, ihn zu verdrängen. Bis es nicht mehr möglich ist, weil Michael genau auf diesen Parkplatz abbiegt: Tierheim Troisdorf. »JA!« Die Kinder sind begeistert. »Dürfen wir uns einen Hund aussuchen? Oder eine Katze? Oder Kaninchen?« Michael lächelt mich an und ist verunsichert, weil ich sein Lächeln nicht erwidere. Ich versuche es zwar, aber es kommt doch nur sehr zurückhaltend, besser gesagt gequält, in mein Gesicht. Ich versuche, die Stimmung nicht zu verderben und steige erwartungsvoll aus.
Die Jungs sind schon vorausgelaufen. So nimmt Michael meine Hand und geht zielstrebig auf den Eingang zu und am Verwaltungsgebäude vorbei zu den Hundezwingern. Bei diesem schönen Wetter tummeln sich einige Besucher vor den Gittern und begutachten die kleinen und großen Hunde, die hier auf jemanden warten, der sie mit nach Hause nimmt. Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich schlecht. Vielleicht will er ja nur mal gucken. Vergeblich versuche ich, entspannt zu sein und den Nachmittag zu genießen. Michael scheint genau zu wissen, wohin er gehen will und ich folge ihm. Schließlich hält er an einem Zwinger an, vor dem ein junges Pärchen hockt. »Wie süß!«, höre ich das Mädel kreischen und sehe, dass es seine Hand durch die Gitterstäbe streckt, um das Tier zu streicheln. »Dem kann ich bestimmt so einen schicken rosa Strickpulli anziehen. Das sieht voll hip aus. Wie ein Mini-Shetland-Pony.« Oh, mein Gott. Was soll das denn für ein Tier sein? Und was mögen solche Menschen daraus machen? Das Tier tut mir schon leid, bevor ich es sehen kann. Die Mitarbeiterin, die daneben steht, rollt genervt mit den Augen und teilt ihnen mit: »Er ist leider schon reserviert.« Gott sei Dank, kann ich da nur sagen.
Enttäuscht stehen die beiden auf und sehen sich um, wo sie weiter nach einem Schmuckstück suchen können. »Wäre eh zu groß für meine Handtasche«, kontert sie beleidigt. Michael gibt einen grunzenden Laut von sich und nimmt mich wieder bei der Hand. »Wo sind denn Ben und Tom?« »Dort drüben bei dem großen Kangal. Ich hole sie gleich. Aber erst möchte ich dir jemanden vorstellen.« Zurückhaltend folge ich ihm bis an die Gitterstäbe. »Annie, das ist Sam. Sam, das ist Annie. Eine wunderbare Frau und wenn sie möchte, ab sofort auch DEIN Frauchen.« Er sieht mich glücklich und erwartungsvoll an. Ich hole einmal tief Luft und kann Michael nicht in die Augen sehen. Sicherlich erwartet er, dass ich überschäume vor Freude, weil ich ihm vor einiger Zeit einmal gesagt habe, dass ich irgendwann gerne einen Hund hätte. Aber das trifft mich jetzt völlig unvorbereitet.
Ich knie mich hin und sehe in den kleinen Zwinger, der notdürftig mit einer Decke ausgestattet ist. Bevor ich irgendetwas sagen kann, oder sein Gesicht sehe, drückt Sam seine Seite gegen die Gitterstäbe, damit ich ihn streicheln kann. Man kann gar nicht anders. Automatisch geht meine Hand in sein helles, weiches Fell und krault ihn. Noch fester drückt er sich gegen die Stäbe. »Sam«, sage ich nur und unverhofft dreht er sich zu mir und sieht genau in mein Gesicht. Nicht mit dunklen Augen, wie bei den meisten Hunden, die ich kenne. Nein, seine sind hellbraun, ganz warm und liebevoll. Und erwartungsvoll. Der schokobraune Fleck, der sein halbes Auge umhüllt, und sich lustig bis zu seinem Ohr durchs Gesicht zieht, lässt seinen Blick noch knuffiger wirken. Ebenso wie der Fleck auf seiner linken Pfote, der aussieht, als wäre ein großer Kleks Brownie-Teig darauf getropft. Mein Magen zieht sich zusammen. Dieser kniehohe, kleine Kerl sieht mich so herzzerreißend an, dass ich spüre, wie ich meine Tränen zurückhalten muss. Ich kann meine Hand nicht von seinem Kopf nehmen.
Gleichzeitig spüre ich, wie Michael seine Hand an meine Wange legt. Ich nehme sie und richte mich auf. »Was sagst du?« Er lächelt immer noch, mein Gesichtsausdruck verunsichert ihn aber zusehends. »Ach Michael, ich weiß, das ist lieb gemeint von dir, aber wenn ich ehrlich bin, geht mir das alles etwas zu schnell. Ich hatte zwar gesagt, dass ich irgendwann einen Hund möchte, aber dafür muss ich doch erst mal meinen zweiten Job los sein und mehr Zeit zu Hause haben.« »Aber das hast du doch jetzt.« Was meint er denn damit? »Wenn du jetzt für Lotte arbeitest, bist du doch öfter zu Hause und hast die nötige Zeit.«
Ach, daher weht der Wind. Michael ist schon eingeweiht. Das ist also alles schon beschlossene Sache? Langsam werde ich sauer. »Also erstens habe ich Lotte noch nicht zugesagt und außerdem würde ich den Zeitpunkt für solch eine Entscheidung gerne selbst bestimmen.« Enttäuschung macht sich in seinem Gesicht breit. »Wie du meinst, es war ja nur so eine Idee.« Genau in diesem Augenblick rauschen die Jungs heran. »Oh, ist der süß.« Benny schmeißt sich sofort auf die Knie und krault Sam hinter den Ohren. Tom ist noch ängstlich und beobachtet die beiden mit etwas Abstand. Doch bald hat Benny ihn angesteckt und fordert ihn auf, auch seine Fingerchen in sein weiches Fell zu graben. »Können wir den mitnehmen? Bitteeee.« Beide Jungs sehen mich erwartungsvoll an. Na super. »Nein Jungs, das ist noch zu früh«, rettet Michael mich, »wir wollten uns die Hunde nur einmal ansehen. Vielleicht irgendwann einmal.« »Und wieso hast du dann ein Hundekörbchen in deinem Kofferraum?« Die Frage trifft Michael völlig unerwartet. Er stockt kurz und dann schießt es aus ihm heraus: »Weil ich das dem Tierheim spenden wollte.« Ich bin ihm dankbar, dass er mich den Kindern gegenüber nicht in Erklärungsnot bringt.
»Aber sieh mal, wie lieb der ist. Der würde sich bestimmt freuen, wenn er bei uns wohnen könnte.« Ich knie mich zu den beiden Jungs und lege die Arme um sie. »Ich verstehe euch. Aber das ist keine leichte Entscheidung. So ein Tier kostet viel Zeit und Geld. Wir überlegen das mal in Ruhe und sehen dann weiter.« »Ich würde auch vor der Schule mit Sam spazieren gehen.« Ja, ausgerechnet mein Benny, der jeden Morgen zum Schulbus rennt, weil er nie aus dem Bett kommt. Ich glaube ihm sogar, dass er es versuchen würde, aber es gibt eine Macht, die oft stärker ist als sein guter Wille. Michael unterbricht unser Gespräch. »Wer kommt mit, das Körbchen holen? Wir fragen die Mitarbeiterin vom Tierheim, ob wir Sam das schenken und in seinen Zwinger stellen können.«
Beide Jungs laufen sofort mit ihm und ich hocke alleine mit Sam auf dem Boden. Ich kann nicht anders. Immer wieder wandert meine Hand an seinen Kopf und streichelt ihn. Was hat Michael sich denn vorgestellt? Dass wir diesen Hund sofort einpacken und mit nach Hause nehmen? Völlig aufgewühlt sehe ich in Sams traurige Augen. Er hebt seine helle Pfote mit dem braunen Fleck und legt sie in meine Hand. Wenn ich einen Hund mitnehmen würde, dann genau diesen. Aber ich muss vernünftig sein.
Nachdem die Jungs das Körbchen zu Sam gebracht haben und bei dieser Gelegenheit noch mit ihm geschmust haben, machen wir uns mit ziemlich gedrückter Stimmung auf den Heimweg. Ich warte, bis die Kinder außer Hörweite sind und nehme Michael in den Arm. »Tut mir leid, wenn du jetzt enttäuscht bist, Michael, aber ich fühle mich etwas überfahren. So eine Entscheidung möchte ich nicht aus einer spontanen Stimmung heraus treffen. Das ist schließlich ein Lebewesen. Und wird damit zum Familienmitglied. Gib mir einfach etwas Zeit, darüber nachzudenken.« Er versucht, mir das schlechte Gewissen zu nehmen. »Kein Problem. Die Mitarbeiterin sagte, sie würde ihn noch ein paar Tage für uns freihalten. Und wenn du dich entschieden hast, sag mir Bescheid.« Doch in seinen Augen kann ich seine Enttäuschung sehen. So hatte ich mir das Ende unseres Urlaubs nicht vorgestellt.
Ich bin erleichtert, dass Lissy sich für den Abend angekündigt hat. Ihr wird es sicher schnell gelingen, mich auf andere Gedanken zu bringen. Vorher hole ich mir allerdings noch einen Stich ins Herz ab, als ich die Jungs zu Bett bringe und der kleine Tom nur traurig anmerkt: »Sam tut mir so leid. Er muss jetzt alleine da in dem kalten Kasten sitzen.« Ich kann Sam förmlich sehen, wie er sich verzweifelt gegen die Gitterstäbe drückt, in der Hoffnung, dass ihm jemand ein Zuhause gibt. Tom hat Tränen in den Augen und es ist das erste Mal, dass ich mit meinen Argumenten nicht wirklich an ihn herankomme. Ich verstehe ihn nur zu gut. »Es ist ja noch nichts entschieden. Wenn ihr aus den Ferien mit Papa zurückkommt, sage ich euch, was ich mir überlegt habe. Versprochen.« Ich bin erleichtert, dass er sich von mir in den Arm nehmen und trösten lässt.
Ben ist da schon eine härtere Nuss. Er kann schon so gut argumentieren, dass ich wirklich Mühe habe, ihm etwas entgegenzusetzen. Als er dann sogar anbietet, auf sein Taschengeld zu verzichten, um davon Hundefutter zu kaufen, bin ich ziemlich verzweifelt. Zumal Sam sich sofort auch in mein Herz geschlichen hat. »Benny, wir tun Sam keinen Gefallen, wenn wir ihn überstürzt zu uns holen und dann feststellen, dass es nicht funktioniert. Es wäre für ihn viel schlimmer, dann wieder zurück ins Tierheim zu müssen, als noch ein paar Tage dort zu bleiben, bis ich eine Entscheidung treffen kann.« Da Benny nicht antwortet, starte ich einen weiteren, verzweifelten Versuch. »Es geht ihm dort nicht schlecht und außerdem hat er jetzt schon ein neues Körbchen.« Mein Großer sieht mich mit einem Gesichtsausdruck an, der mich fragt: Ist das dein Ernst?
»Und wenn du dich gegen ihn entscheidest?«, fragt er jetzt ganz offen. Es fällt mir schwer, das zu sagen. »Dann wird er mit Sicherheit eine andere, wunderbare Familie finden.« Benny dreht mir den Rücken zu und will damit das Gespräch beenden. »Gute Nacht.« So barsch hat er mich noch nie beim Zubettgehen verabschiedet. Um ihn nicht zu bedrängen, streiche ich nur sanft durch seine Locken und wünsche ihm eine gute Nacht. Ich kann nicht anders, und muss ihm wenigstens noch einen sanften Kuss auf die Schläfe geben, bevor ich gehe.
Wie schön, dass Lissy schon in einer halben Stunde da sein wird. Schnell die letzte Wäsche aufgehängt und die Gläser aus dem Schrank geholt. Schon klingelt es Sturm. Lissy – immer noch der gleiche Wirbelsturm. Und wie schon erwartet, hält sie eine Flasche Asti in der Hand und begrüßt mich stürmisch. »Happy Birthday, alte Socke.« Ich habe das Gefühl, ihre blonde Lockenpracht ist noch fülliger geworden. Hm, wenn ich mich nicht täusche, nicht nur ihre Locken. Ihre sonst so zierliche Taille scheint auch etwas üppiger geworden zu sein. Also, sie ist immer noch schön schlank, doch irgendwie hat sie sich verändert.
Ich kann sie gar nicht mehr loslassen. Sie ist genau das, was ich heute Abend brauche. »Wie schön, dass du da bist. Ich habe dich vermisst.« »Hallo? Du warst mit deiner Familie und deinem Lover in einem Ferienhaus in Holland und vermisst MICH?« Sie sieht mich verständnislos an. »Müssen wir reden?« Sie erblickt die Sorgenfalten auf meiner Stirn und streift sich sofort ihre Schuhe von den Füßen, um es sich auf meiner großen, roten Couch gemütlich zu machen. Die Stofftasche, die sie mitgebracht hat, rollt sie zusammen und legt sie ans Ende der Couch. »Aber zuerst stoßen wir auf dich an.« Ich leere das Glas in einem Zug und Lissy sieht mich verwundert an. »Jetzt aber raus mit der Sprache. Wie war dein Urlaub?«
»Ach, der Urlaub war eigentlich traumhaft.« Mein Blick scheint sie nicht zu überzeugen. »Aber? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.« »Naja, nach Michaels Aktion heute ist das irgendwie völlig in den Hintergrund geraten.« Während ich ihr die ganze Hundegeschichte erzähle, merke ich, dass ich ziemlich sauer auf Michael bin, der dafür gesorgt hat, dass ich jetzt die Arschkarte habe. Das ist normalerweise nicht mein Wortschatz, aber genau so fühle ich mich jetzt den Kindern, und vor allem Sam gegenüber. Dann nehme ich ihn wieder in Schutz. »Er hat es ja nur gut gemeint.« Doch Lissy kann meine Laune bestens verstehen. »Gut gemeint ist das Gegenteil von gut. Also ich wäre richtig stinkig, wenn er das einfach über meinen Kopf hinweg organisiert und so vor den Kindern präsentiert, dass du eigentlich gar nicht mehr aus dieser Nummer herauskommst, ohne Schuld daran zu sein, dass dieser Hund im Tierheim bleiben muss.« Ja, genau so fühle ich mich. Schuldig.
»Wie kommt er denn darauf? Du kriegst doch jetzt schon zeitlich manchmal gar nicht mehr die Kurve.« Also erfährt Lissy auch von Lottes Vorschlag und wie dann für die beiden alles schön zusammen gepasst hat. »Was hindert dich daran, einfach nein zu sagen?« »Oh Lissy, geh doch mal nach oben und sieh dir die Gesichter der Kinder an. Dabei habe ich noch gar nicht nein gesagt, sondern nur um Bedenkzeit gebeten.« »Annie, du weißt, ich liebe deine Kinder, aber das musst du ganz alleine entscheiden.« »Das weiß ich doch. Eigentlich ist es gut, dass sie morgen von Paul abgeholt werden und wir alle etwas Abstand haben. Dann kann ich mir in Ruhe Gedanken machen.«
»Genau so machst du es. Und jetzt: ZEIT FÜR GESCHENKE«, kreischt Lissy unvermittelt und nimmt ihre Stofftasche zur Hand. Heraus holt sie ein Päckchen, liebevoll eingehüllt in schwarzes Geschenkpapier. Wieder sehe ich halbnackte Männer. »Du wirst doch nicht?«, mir fehlen die Worte, denn ich befürchte, dass Lissy ihre Drohung vom Midsommarfest wahr gemacht hat und mir tatsächlich einen Vibrator gekauft hat. Alleine bei der Vorstellung werde ich schon rot. Sie weiß sofort, was ich denke. »Ach was, du hast doch jetzt einen richtigen Mann, was sollst du denn mit so einem elektronischen Kram. Außerdem ist das nur halb so lustig, wenn gar kein Besuch beim Auspacken anwesend ist.« Puh, ich bin beruhigt.
Aufgeregt, aber sehr vorsichtig, öffne ich das schöne Papier und enthülle mein Geschenk. Ich glaube es nicht. Sie hat nur die halbe Wahrheit gesagt, denn sie konnte es nicht lassen, mir etwas Handfestes zu schenken und hat kurzerhand das beste Stück des Mannes besorgt, in einer stattlichen Größe und aus glänzender Zartbitterschokolade. Zur Krönung befindet sich auf der Spitze ein Kleks weißer Schokolade. Lissy schlägt mit der Hand auf die Couch und lacht sich kringelig bei meinem Anblick. Ich kann es nicht fassen, dass ich kichernd mit einem Schokopenis in der Hand in meinem Wohnzimmer sitze.
»Probier doch mal!«, fordert sie mich auf und bekommt einen weiteren Lachanfall. »Der ist doch viel zu schade, den kann man doch nicht einfach aufessen.« »Okay, dann stell ihn erst ein paar Tage zur Dekoration auf deine Anrichte«, schlägt sie vor. »Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Ich stelle mir gerade vor, wie Paul die Kinder morgen abholt und an meiner Anrichte vorbeigeht. Oder die Kinder ihn sehen. Oder Michael. Oder Oma Lotte. »Den muss ich wirklich gut verstecken. Dann fällt mir ein, dass ich schon des Öfteren Süßigkeiten versteckt habe – sei es meine geliebten Meeresfrüchte oder Weihnachtssüßigkeiten für die Kinder – und sie dann nicht mehr wiedergefunden habe. Aber die Kinder dann irgendwann. Was für eine Horrorvorstellung.
Also lasse ich ihn vorerst auf dem Tisch stehen, obwohl mich dieser Anblick doch ein wenig irritiert. Und dann ist endlich Lissy an der Reihe. Ich bin so neugierig, wie sich das mit ihrem neuen Liebhaber entwickelt hat. Zu meinem Erstaunen ist aus dem neuen Lover – Leon – tatsächlich etwas Ernstes geworden. »Weißt du, Annie, mit ihm könnte ich mir sogar vorstellen, zusammen zu leben.« Jetzt ist sie es, die ins Schwärmen kommt. So kenne ich Lissy gar nicht. Es hat sie echt erwischt. »Ist das nicht ein bisschen früh?« Lissy rudert etwas zurück. »Naja, nicht sofort. Aber wir verbringen jede freie Minute miteinander, er ist ein wunderbarer Koch….« Aha, ich hatte also doch nicht unrecht mit meiner Vermutung, was Lissys Taillenumfang angeht. »… und erst der Sex!« Jetzt muss ich lachen. Doch noch die Alte.
»Mensch, Lissy, ich freue mich so für dich.« Dann fallen mir Lissys Worte ein, die mich damals völlig verunsichert haben, als ich Michael kennenlernte. Im Grunde würde ich ihr jetzt gerne die gleiche Frage stellen: Wo ist der Haken? Aber da ich mich nur zu gut erinnere, welche Gefühle und Zweifel ihre Worte damals in mir ausgelöst haben, entscheide ich, dies nicht zu tun. »Und ihr habt euch noch nie gestritten? Oder unterschiedliche Meinungen gehabt?«, ist alles, was ich bereit bin, zu fragen. »Nö, es passt einfach perfekt.« »Darauf trinken wir jetzt.« Da Lissy noch fahren muss, ist sie zwischenzeitlich auf Cola umgestiegen, aber ich genieße ein weiteres Glas meiner Köstlichkeit.
Apropos Köstlichkeit. Ob ich will oder nicht, mein Blick schweift immer wieder zu diesem peinlichen Schokoteil. Ich kann sowieso nicht die Finger von Schokolade lassen. Und jetzt steht sie genau vor meiner Nase so verlockend und ruft mich förmlich. Gestern hat mir eine Freundin eine WhatsApp geschickt, die ich nur zu gut nachfühlen konnte: Wenn ich Schokolade sehe, höre ich zwei Stimmen in mir. Die eine sagt: Los, iss mich! Die andere sagt: Hast du nicht gehört, du sollst mich essen. Genau so fühle ich mich gerade. Ich kann ihn ja mal auspacken und daran schnuppern. Ich liebe den Geruch von Schokolade. Als meine Hand zu meinem Geschenk wandert, sehe ich Lissys verschmitztes Gesicht. Sie macht es mir leicht und sagt: »Wenn wir ihn jetzt essen, musst du ihn nicht mehr verstecken und brauchst keine Angst zu haben, dass ihn jemand entdeckt.«
Das ist ein gutes Argument. Die Vorstellung, dass Lissy mit isst, gefällt mir und nimmt mir den letzten Zweifel. Entschlossen öffne ich die Packung und nehme das harte, glänzende Teil heraus. »Willst du zuerst?« Ich halte ihr das Schokoteil vor die Nase. »Nein. Ladies first«, wehrt sie ab. Ohne darüber nachzudenken, schnuppere ich kurz daran, um dann herzhaft die Spitze abzubeißen. »Aua«, brüllt Lissy, lacht schallend und gleichzeitig werde ich von einem hellen Licht geblendet. Hat sie jetzt etwa ein Foto gemacht? Ich sehe nach oben, den Mund voller Schokolade und das gute Teil noch in der Hand, und sie hält tatsächlich ihr Smartphone in der Hand. Und macht direkt noch einen Schnappschuss hinterher.
»Lissy, hör sofort auf damit. Das löschst du auf der Stelle wieder, hast du mich verstanden?« Blitzartig hüpfe ich zu ihr auf die Couch und versuche, ihr das Telefon wegzunehmen. »Schon gut, schon gut, ich lösche es.« Das beruhigt mich. »Aber erst will ich es sehen.« Jetzt bin ich neugierig. Lissy tippt auf ihrem Display herum und zeigt mir das Foto. »Ach du Scheiße. Wenn das in die falschen Hände käme.« »Soll ich Facebook?«, fragt sie allen Ernstes und hält sich den Bauch vor Lachen. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hat, beißt auch sie ein großes Stück ab. Wenn ich ehrlich bin, schmeckt die Schokolade gar nicht so gut wie sie aussieht. Lissy ist ganz meiner Meinung. »Das war leider ´ne Mogelpackung. Hält nicht das, was sie verspricht. Wie so oft im Leben.«
Am Ende dieses ausgelassenen Abends sind wir uns allerdings einig, dass es uns beiden gerade so gut geht, wie lange nicht. Lissy hat es tatsächlich geschafft, dass sogar Sam sich für den Rest des Tages komplett aus meinen Gedanken verflüchtigt hat. Leider schleicht er sich jedoch bereits beim Zähneputzen wieder in meinen Kopf. Prompt spüre ich heftiges Magendrücken. Immer wieder sehe ich dieses flehende, traurige Gesicht vor mir. Das lässt mich lange nicht in den Schlaf finden.