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Kapitel 4

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Ta ta da ta, ta ta daa. Ich falle fast aus dem Bett. Erschrocken sehe ich mich um. Es kommt nicht so oft vor, dass ich bei Michael schlafe und wenn, dann brauchen wir meist keinen Wecker. Diese Melodie kenne ich irgendwoher. Irgendein bekannter Film. Michael dreht sich zur Seite und drückt den Schlummerknopf. Ich falle wieder in die Kissen. »Guten Morgen, mein Schatz.« »Guten Morgen.« Gut wäre er, wenn ich liegenbleiben könnte, oder wenn es nicht erst halb sechs wäre. »Was war das für eine Melodie?« Ich bin noch im Halbschlaf und kann noch keinen klaren Gedanken fassen. Doch das lässt mir keine Ruhe. »Das musst du doch kennen«, meint Michael nur. »Ja natürlich kenne ich das, aber ich komm nicht drauf.« Er lächelt mich an, ohne mir eine Antwort zu geben. Ich befürchte, dass er mit dem Gedanken spielt, mich zappeln zu lassen, bis es mir von alleine einfällt. Er macht sich immer wieder darüber lustig, dass ich so ungeduldig bin.

Anscheinend ist er aber heute gnädig. »Indiana Jones.« JA, das ist es! Hätte ich wirklich drauf kommen können. »Magst du ihn?« »Wer mag den nicht?« So, wie er mich gerade ansieht, sieht er aus, wie ein großer Junge, der selbst gerne die Abenteuer von Indie erlebt hätte. Stattdessen muss er, in Anzug gekleidet, hübschen Damen hübsche Häuser schmackhaft machen. Und ich muss verzweifelten Mandanten Briefe schreiben, die ihr Familienleben wieder ein wenig glücklicher machen sollen. So kämpft jeder an seiner Front. Michael holt mich aus meinen Gedanken. »Wer geht zuerst ins Wasserloch zum Frischmachen?«, fragt er gespielt abenteuerlustig. Wie kann man so früh am Morgen schon gut gelaunt sein? »Du, dann kann ich noch fünf Minuten liegenbleiben.«

Mit der Aussicht auf den voll bepackten Tag ist die Entspannung schnell vorbei und ich bereite mich auf den Abschied vor. »Bleib mal ganz entspannt. Wir warten ab, was passiert und dann sehen wir weiter.« Er hat wahrscheinlich Recht. Tun können wir jetzt sowieso nichts. Doch der Gedanke an ein Baby ist so schnell nicht aus meinem Kopf zu bekommen. »Hast du schon überlegt, was mit Sam ist? Soll ich beim Tierheim anrufen und absagen?« Wumms, der Gedanke an eine Schwangerschaft ist schlagartig verdrängt durch diesen kleinen Mischlingshund. Michael hat Recht. Ich muss eine Entscheidung treffen.

»Nein, ich kümmere mich heute nach der Arbeit darum.« Sein Blick sieht etwas traurig aus. So wie der von Sam. Doch er nickt verständnisvoll. »Ich rufe dich heute Abend an«, schlage ich vor. Dann fällt mir sein Telefongespräch vom Vorabend ein. »Ach stimmt, du hast ja keine Zeit heute Abend. Dann lass uns nach deinem Termin telefonieren.« »Oh, das wird sicher spät. Dann will ich dich nicht mehr stören.« Unwillkürlich durchzuckt ein Grummeln meinen Magen. Scheint ja ein wichtiger Termin zu sein mit dieser Frau Friesinger. Michael sieht meinen Gesichtsausdruck und sein Griff wird fester. Gut, dass ich es nur gedacht und nicht gesagt habe. Warum bin ich denn so empfindlich? Die Hormone? NEIN, darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Ich gebe Michael einen Abschiedskuss und wir vereinbaren, dass wir uns einfach zwischendurch sprechen werden. So, wie es die Zeit zulässt.

Zu ungewohnt früher Stunde fahre ich in den Hof ein. Ich genieße die Stille, die am frühen Morgen über dem Anwesen liegt und atme die frische Luft tief ein. Wie friedlich hier alles ist. Da ich früh genug dran bin, nutze ich den Augenblick und schlendere eine kleine Runde durch den Hof. In meinem Vorgarten hat sich der Strauch mit den zarten, lilafarbenen Cosmea-Blüten prächtig entwickelt und die üppigen Dahlien blühen farbenfroh. Meine Kräuter duften köstlich und ich freue mich, wenn ich im August die Tomaten ernten kann, die ich mit den Kindern im Mai eingepflanzt habe.

Bei Lotte ist alles friedlich. Sie scheint noch zu schlafen, daher bleibe ich nur an der Ecke zu ihrem Haus stehen, damit Brutus mich nicht bemerkt und sie mit ihrem Bellen weckt. Einen wunderschön bepflanzen Korb hat Lotte auf der Bank vor ihrer Haustür stehen. Und auch ihr kleines Beet hat sie nach unserem Urlaub schon auf Vordermann gebracht. Gladiolen und Taglilien ragen aus der Erde und scheinen Spalier zu stehen, wenn Lotte aus ihrer Haustüre tritt, um den Tag zu begrüßen. Es hat was, so früh auf den Beinen zu sein. Ich fühle mich voller Energie. Als ich zurück gehe, fällt mein Blick auf das Haus, in dem Lena gewohnt hat. Es sieht ziemlich verlassen aus. Und kalt. Ja, ich werde das jetzt in Angriff nehmen und schnellstmöglich dafür sorgen, dass hier etwas passiert. Sowohl was die Gestaltung des Gartens angeht, als auch die Vermietung. Es wird Zeit, dass hier wieder Leben hineinkommt.

Motiviert öffne ich die Bürotür und werde gleich von Frau Dr. Holst empfangen. »Hallo, Frau Sommer. Schön, dass Sie wieder da sind. Wie war denn Ihr Urlaub?« »Sehr schön. Wir haben uns wirklich gut erholt. Eigentlich sollte man hin und wieder einfach ein Wochenende wegfahren, um aufzutanken. Und wie war Ihre Woche?« »Hier war ziemlich viel los. Bevor ich nach Schweden fliege, muss ich noch eine ganze Reihe Akten bearbeiten und auch zwei Gerichtstermine verschieben, die genau in meine Urlaubszeit gelegt wurden.« »Soll ich mich gleich darum kümmern?«, schlage ich vor. »Ja bitte. Doch zuerst müssen Sie sich um einen wichtigen Schriftsatz kümmern. Wir haben da einen neuen, heftigen Fall von häuslicher Gewalt. Das Schreiben muss unbedingt heute raus. Fangen Sie damit bitte an.«

Schnell bin ich wieder im Alltag, doch das macht nichts, ich bin voller Elan und wüsste nicht, was mich heute so schnell aus den Socken hauen könnte. Mit einem heißen Kaffee setze ich mich an meinen überfüllten Schreibtisch und mache mich an die Arbeit. Das Diktatprogramm ist reichlich gefüllt und ich suche nach der Datei mit der höchsten Dringlichkeit. Dellmann gegen Kriener. Gut, es kann losgehen. Meine Finger flitzen über die Tastatur, da ich möglichst viel abarbeiten möchte. Nachdem der formelle Teil des Schriftsatzes erledigt ist, geht es ans Eingemachte. Es ist immer interessant, mit der Öffnung eines Diktates auch die Türe zur Wohnung und zum Leben der Mandanten zu öffnen. Oft ist es auch belastend, doch damit musste ich lernen, umzugehen.

Was ich aber heute höre, nimmt mir den Atem. Frau Dellmann wird von ihrem Lebensgefährten geschlagen. Sie hatte zu wenig Aufschnitt auf die Brötchen des Mannes gelegt. Ist klar. Die Wut steigt langsam in mir hoch. Bisher hatte er sie nur geschlagen, wenn ihre achtjährige Tochter nicht anwesend war. Beim letzten Mal musste die kleine Ella das mit ansehen. Als sie erschrocken nein gerufen hatte, drohte Herr Kriener damit, ihr die langen, blonden Haare abzuschneiden und auch sie zu schlagen. Frau Dellmann suchte nun Rat bei Frau Dr. Holst, um herauszufinden, was sie unternehmen könne. Sie wollte sich von ihrem Partner trennen und hatte in meinem Urlaub ein Beratungsgespräch bei meiner Chefin.

Wie auch immer, hat dieser Mann herausgefunden, dass seine Lebensgefährtin bei einer Anwältin war. Die Lage hat sich zugespitzt und was ich nun abhören muss, quetscht meinen Magen zusammen und lässt Übelkeit in mir aufsteigen. Als die Mandantin gestern erneut hier war, schilderte sie, wie dieser Mann ihr damit gedroht hat, Ellas geliebter kleiner Katze Söckchen etwas anzutun, falls sie sich wagen würde, abzuhauen. Auch das hat Ella mitbekommen und ist in Tränen ausgebrochen. Sie hat ihre Mutter angefleht, nicht zu gehen und zu gehorchen. Sie würden das schon irgendwie aushalten. Am selben Abend hat er Ella für ein umgestoßenes Glas Apfelschorle eine derart feste Ohrfeige gegeben, dass sie vom Stuhl gefallen ist.

Das war der Punkt, an dem Frau Dellmann beschlossen hatte, nicht mehr auszuhalten. Ich bin erleichtert, denn wie kann sie ihrer Tochter vorleben, sich so behandeln zu lassen? Doch wie soll sie ohne weiteren Schaden aus dieser Situation herauskommen? In der Theorie hört sich das oft einfach an. Ihr Plan ist, ohne großes Aufsehen schnell eine Wohnung zu finden und mit ihrer Tochter bei Nacht und Nebel zu verschwinden. Bis dahin versuchte sie, sich zu Hause so unauffällig wie möglich zu verhalten. Doch Herr Kriener schien etwas zu ahnen. Bevor er morgens zur Arbeit fuhr, warnte er seine Partnerin: »Pass gut auf, was du tust! Wenn du einen Fehler machst, wird das Folgen haben. Das ist nur eine Warnung.« Ella war schon in der Schule und hatte Gott sei Dank nichts mitbekommen. Damit verließ er das Haus. Frau Dellmann glaubte, ein ängstliches Miauen und dann ein Fauchen zu hören und voller Panik lief sie durch die Wohnung, um Söckchen zu suchen. Aufgeregt und mit böser Vorahnung schaute sie in jeder Ecke nach, rief immer wieder den Namen des Kätzchens. Nichts. Sie lief in den Garten. Nichts. Hoffentlich hatte er ihr nichts angetan.

Sie war sich nicht sicher, ob die Tatsache, dass sie Söckchen nicht verletzt oder sogar tot irgendwo aufgefunden hatte, sie beruhigen konnte. Vielleicht war sie nur aus Angst fortgelaufen. Ihr blieb nichts übrig, als abzuwarten, ob Söckchen wieder auftauchte. Noch ganz in Gedanken verrichtete sie ihren Haushalt. Als sie Ellas Bett machen wollte, erstarrte sie vor Schreck. Auf dem Kopfkissen ihrer Tochter lag eine Katzenpfote. Nach dem ersten Schock erkannte sie, dass es keine echte Katzenpfote war, sondern ein Schlüsselanhänger, der allerdings nicht aus Plüsch war, sondern aus einem künstlichen Fell, das täuschend echt aussah. Der Schrecken saß ihr tief in den Gliedern. Sie hatte die Botschaft verstanden. Am Abend kehrte Herr Kriener von der Arbeit heim und stellte den Katzenkorb, in dem er das arme Tier den ganzen Tag in seinem heißen Auto gelassen hatte, in der Küche ab. Wortlos, nur mit einem vielsagenden, eiskalten Blick.

Sofort reiße ich mir den Kopfhörer von den Ohren. Mir ist schlecht. Ich muss auf die Toilette gehen. Übelkeit, Wut und Hass überkommen mich. Es ist unfassbar für mich, wozu Menschen imstande sind. Meine Gedanken überschlagen sich. Wie gut kann ich verstehen, dass man ausrastet und so einen Menschen selbst bestraft. Doch damit würde die junge Mutter sich und ihrem Kind keinen Gefallen tun. Also ist sie gezwungen, den rechtlich abgesicherten Weg zu gehen. Sie kann diesen Mann wegen mehrfacher Körperverletzung anklagen. Und was Söckchen anbelangt: Bisher hat er dem Tier nichts getan. Doch sie könnte es einfach nicht verhindern, falls er es wirklich darauf anlegt. Sie muss dafür sorgen, mit ihrer kleinen Ella so schnell wie möglich dort rauszukommen.

Als ich wieder an meinem Schreibtisch sitze, versuche ich mich zusammenzureißen, um dieses Drama fertig auf Papier zu bringen. Da Frau Dellmanns Familie in Bayern lebt, hat sie so schnell keine Möglichkeit, bei ihr unterzutauchen. Also muss irgendwie eine Lösung gefunden werden, wo sie mit ihrer Tochter und dem Kätzchen unterschlüpfen kann, bis der Umzug nach Bayern organisiert ist. Ich versuche, den Schriftsatz schnell fertigzustellen und die Akte formell für heute zu schließen.

Es fällt mir schwer, mich danach auf die üblichen Klagen auf Unterhalt oder Vermögensaufstellungen für eine Erbsache zu konzentrieren. Daher mache ich doch, entgegen meiner Planung, pünktlich Schluss. Eigentlich wollte ich noch einkaufen fürs Mittagessen, doch mir ist der Appetit vergangen und ich habe keine Lust auf Smalltalk an der Supermarktkasse. Soll ich sofort nach Hause fahren? Nein, erst habe ich noch etwas zu erledigen. Mir fällt dieser Schritt sowieso schwer, also bringe ich ihn sofort hinter mich. Schlechter als jetzt kann es mir dann auch nicht mehr gehen.

Auf dem Parkplatz des Tierheims ist nicht viel los. Die Mittagszeit hat begonnen, das ist keine übliche Besuchszeit. Um mein schlechtes Gewissen nicht noch mehr zu belasten, gehe ich schnurstracks auf das Büro des Tierheims zu, statt an den Zwingern vorbeizugehen. Es ist schon schlimm genug für mich, der Mitarbeiterin meinen Entschluss mitzuteilen. Da muss ich nicht auch noch in die Augen dieses knuffigen Kameraden sehen. Bevor ich an der Türe ankomme, biegt eine Mitarbeiterin um die Ecke und kommt geradewegs auf mich zu. »Hallo Frau Sommer. Ich wollte gerade mit Sam spazieren gehen. Haben Sie nicht Lust, das für mich zu übernehmen? Wir sind urlaubsbedingt personell sehr knapp dran.« Sie hält mir die rote Leine entgegen und unvermittelt stellt Sam sich auf die Hinterbeine, um seinen Kopf mit dem Schokofleck an mein Bein zu lehnen. Mein Körper versteift sich, ich will das nicht zulassen. Dann komme ich gar nicht mehr aus dieser Nummer heraus.

Nein, sagt mein Kopf. Mein Herz sagt etwas anderes. Ohne, dass mein Kopf es will, nimmt meine Hand die Leine und den daran befestigten Hund. Ich verdrehe die Augen und versuche, mich zu entwinden. »Eigentlich habe ich gar keine Zeit.« Sofort unterbricht mich die nette, junge Frau. Sie scheint zu ahnen, was mein Plan ist und entgegnet fröhlich: »Ach eine Viertelstunde würde schon reichen. Damit würden Sie mir und Sam einen Riesengefallen tun.« Dieser Blick, mit dem sie mich ansieht, ist bestimmt antrainiert. Ich wette, der ist Bedingung bei der Einstellung von Angestellten im Tierheim. Obwohl, die meisten arbeiten sowieso ehrenamtlich hier. Bevor ich noch irgendetwas entgegnen kann, dreht sie sich um und winkt mir im Weggehen fröhlich zu. »Danke. Bis gleich.« Dann ist sie verschwunden.

Wie bestellt und nicht abgeholt stehe ich da. Unschlüssig, ob und wohin ich gehen soll, trete ich von einem Fuß auf den anderen. Bis ich mich langsam und widerwillig in Bewegung setze. Das wäre jetzt ziemlich blöd von mir, ihn einfach wieder im Büro abzugeben. Eine Viertelstunde werde ich schon irgendwie rumkriegen. Also verlasse ich das Gelände und muss mich erst einmal orientieren, wo ich überhaupt spazieren gehen kann. Einmal quer über den Parkplatz des Discounters und dann bin ich schnell mitten im Grünen. Sam trabt brav neben mir her und wedelt freudig mit dem Schwanz.

Ich versuche, ihn nicht zu sehr zu beachten und einfach nur etwas durch die Natur zu gehen. Eben nur mit einer roten Leine in der Hand. Der Weg führt mich an die Agger, wo ich schnell eine Bank finde, auf die ich mich setze. Ein Blick auf die Uhr. Fünf Minuten sind erst vergangen. Völlig angespannt sitze ich dort und tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Ich schließe die Augen und versuche, Ruhe zu finden. Atme tief ein und lausche dem sachten Strom des Wassers. Höre das Vogelgezwitscher. Langsam habe ich das Gefühl, mein Puls beruhigt sich etwas. Mit einem Mal springt Sam auf die Bank und legt sich neben mich. Seinen Kopf platziert er gemütlich auf meinem Oberschenkel.

Ohne, dass ich es will, wandert meine Hand an seinen Kopf und beginnt, die Stelle hinter den Ohren zu kraulen. Sein Fell ist an dieser Stelle besonders weich. Genüsslich schließt Sam die Augen. Als ich eine Pause mache, wandert seine Pfote geradewegs auf mein Knie. Ich merke, wie mir ein Lächeln durchs Gesicht huscht. Die Pfote mit dem braunen Schokoklecks auf meinem Knie sieht einfach zu knuffig aus. Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu entspannen. Söckchen geht mir wieder durch den Kopf. Urplötzlich durchzuckt mich ein Schmerz. Kein körperlicher Schmerz, nein. Ich muss an die Katzenpfote denken. Ein eisiger Schauer fährt durch meinen Körper. Unwillkürlich nehme ich Sams Pfote und halte sie fest. Sein Kopf hebt sich und sein Blick wandert geradewegs in meine Augen. Er scheint zu bemerken, dass mich etwas belastet. Die Pfote bleibt in meiner Hand und mein Daumen fährt immer wieder über den weichen, braunen Fleck. Ich kann immer noch nicht begreifen, wie jemand so gefühlskalt sein kann. Ella hatte dieses Kätzchen bekommen, als ihr Vater vor zwei Jahren nach einem Herzinfarkt plötzlich verstorben war. Es hatte ihr durch viele traurige Stunden geholfen und sie getröstet. Wie würde das kleine Mädchen es verkraften, wenn Söckchen nicht mehr da wäre? Was hat ihre Mutter ihr wohl erzählt, warum sich ihr Liebling so kraftlos und erschöpft an diesem Abend unter dem Bett verkrochen hatte?

Kopfschüttelnd sitze ich auf der Bank, immer noch Sams Pfote in der Hand und seinen Kopf auf meinem Bein. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Wolken und blendet mich. Ich schließe die Augen erneut und versuche, die ankommende Wärme zu genießen. Zuerst verspüre ich leichten Schwindel und fühle mich wackelig, obwohl ich sitze. Doch die die Wärme und das Licht der Sonne tun mir gut. Je länger ich dort sitze, umso wohler fühle ich mich. Es fühlt sich an, als würde mein Energiespeicher wieder aufgefüllt.

Plötzlich spüre ich einen Ruck. Sam ist aufgesprungen und knurrt. Als ich die Augen öffne, entdecke ich eine weitere Spaziergängerin mit zwei kleinen Yorkshire Terriern. Sie sieht freundlich aus, also tätschele ich Sam´s Kopf, um ihn zu beruhigen. »Alles gut, Kleiner.« Mit einem gut gelaunten Hallo spaziert die Dame an uns vorbei. Ihre kleinen Begleiter bellen furchtbar aufgeregt, doch das ignoriert sie einfach und geht weiter. Langsam wird mein Blick wieder klarer. Wie spät mag es sein? Meinem Rücken nach zu urteilen, habe ich schon viel zu lange auf der Bank gesessen. »Komm, Sam«, fordere ich ihn auf und sofort springt er von der Bank, um auf weitere Anweisungen zu warten. Da ich das Gefühl habe, dass mir etwas Bewegung gut tun würde, nehme ich nicht den direkten Weg zurück zum Tierheim, sondern laufe mit forschem Schritt ein gutes Stück durch den Wald, bevor ich wieder dort ankomme.

Bisher habe ich immer gesagt, dass mich der Zwang, bei Wind und Wetter immer raus zu müssen, davon abschreckt, mir einen Hund zuzulegen. Heute war es genau das, was ich gebraucht habe. Unter normalen Umständen wäre ich sicherlich jetzt nicht spazieren gegangen. Die Mitarbeiterin, die mir Sam kurzerhand mitgegeben hat, ist nun im Büro. Sie scheint zu hoffen, dass Sam seine Wirkung bei mir nicht verfehlt hat. »Wie war Ihr Spaziergang? Hat alles gut geklappt?« Ich möchte gar nicht lange Smalltalk halten. »Ja. Aber ich muss Ihnen etwas sagen. Eigentlich wollte ich Ihnen heute absagen. Ich werde das unter den Umständen bei mir zu Hause zurzeit nicht schaffen. Aber ich komme gerne hin und wieder, um mit Sam spazieren zu gehen.« Enttäuschung macht sich in ihrem Gesicht breit. Doch sie ist Profi genug, um zu merken, dass eine Diskussion sie nicht weiter bringen würde. »Also kann ich ihn zur weiteren Vermittlung freigeben?« Autsch, die Vorstellung tut weh. Ich schaffe es nicht, das auszusprechen und nicke nur mit dem Kopf. Schnell füge ich hinzu. »Aber morgen komme ich wieder, um mit ihm spazieren zu gehen.«

Aus meinem Mund kommen weitere Worte: »Können Sie solange mit der Freigabe warten?« Verständnisvoll nickt sie mit dem Kopf. Und sagt weiter nichts. Ich verabschiede mich von Sam und gehe erleichtert zum Auto. Jetzt, wo der Supermarkt gerade nebenan ist, gehe ich doch gleich einkaufen. Zucchini, Kartoffeln. Ja, ich werde mir eine leckere Gemüsepfanne machen, wenn ich nach Hause komme. Da ich nicht vorbereitet war, schlendere ich etwas planlos durch die Gänge und überlege, was ich noch einkaufen muss. Ach ja, Müllbeutel brauche ich. Also gehe ich zurück in den entsprechenden Gang. Zufälligerweise stehen die Leckerlies für unsere tierischen Freunde gleich daneben. Wenn ich morgen das letzte Mal zu Sam gehe, kann ich ihm wenigstens eine Kleinigkeit mitnehmen. Dental Sticks. Das hört sich gesund an. Am liebsten würde ich jetzt noch hingehen, und ihm etwas bringen. Aber ich weiß genau, welche Folgen das für mich hätte. Morgen werde ich hinfahren, um mich zu verabschieden. Dann wird es mir noch einmal schlecht gehen und es ist überstanden.

Es ist reichlich spät geworden, als ich zu Hause ankomme. Lotte hat das Wetter genutzt und hängt gerade ihre Bettwäsche ab, die sie zum Trocknen rausgehangen hatte. »Hallo Annie, wie war dein erster Arbeitstag?« Sie sieht immer noch braun gebrannt und erholt aus. »So, wie du aussiehst, war es wohl ein anstrengender Tag?« Ihr Blick wirkt besorgt, doch ich versuche gleich, sie zu beruhigen. »Ja, das war er wirklich. War ziemlich heftig heute. Ich muss dringend etwas essen. Hast du Lust, rüberzukommen? Ich mache eine Gemüsepfanne und erzähle dir, was passiert ist.« Sie überlegt. »Eigentlich wollte ich so spät nichts Warmes mehr essen, aber ich kann mich einfach so zu dir setzen und wir trinken ein Glas Wein zusammen.« »Ist gut, dann bis gleich.«

Vorsichtshalber habe ich einen zweiten Teller auf den Tisch gestellt. Lotte klopft an der offenen Haustüre und tritt gleichzeitig hinein. »Hier in der Küche«, rufe ich ihr zu und schenke ihr ein Glas Rotwein ein. »Mmhh, das duftet aber köstlich.« Sie nimmt auf der Bank Platz. »Greif zu, wenn du möchtest.« Völlig ausgehungert falle ich über meinen Teller her. Nach einigem Zögern nimmt sich auch Lotte eine kleine Portion auf ihren Teller und lächelt schuldbewusst. »Ach Lotte, warum genießt du es nicht einfach ohne schlechtes Gewissen. Sind doch nur ein paar Vitamine. Und du hast doch eine tolle Figur.« »Naja«, antwortet sie nur. »Meine Freundin aus Bennys Krabbelgruppe hat mir einmal gesagt: Wenn ich HEUTE Lust auf etwas habe, tue ich es. Ich weiß nicht, ob ich es MORGEN noch kann.« Lotte lässt den Spruch einen Augenblick auf sich wirken. »Recht hat sie.« Prompt landet eine große Kelle des bunten Gemüses auf ihrem Teller und sie nimmt einen kräftigen Schluck Rotwein.

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, zu erzählen. Am liebsten würde ich einfach drauflos sprudeln. Die mögliche Schwangerschaft werde ich vorerst für mich behalten. Lotte würde sich sicher unglaublich freuen und wäre anschließend enttäuscht, wenn es ein Fehlalarm war. Die Geschichte von Frau Dellmann darf ich ihr eigentlich gar nicht erzählen, weil die Mandantendaten natürlich vertraulich sind. Und wenn ich ihr sage, dass ich bei Sam war, um ihn morgen freizugeben, wird sie auch nicht begeistert sein. Spontan übergebe ich ihr den Ball. »Wie waren denn deine ersten Tage zu Hause? Ich habe gesehen, dass du deinen Garten schon fertig hast. Sieht wunderschön aus.«

Lotte berichtet von ihren Einkäufen im Pflanzenparadies und dem Kaffeeklatsch mit ihrer Freundin aus Hennef. Sie haben dort eine kleines, süßes Café entdeckt, in dem man gemütlich auf dem Sofa Kaffee trinken kann. Wie bei Oma im Wohnzimmer. Liebevoll sind alte, kleine Tische und Stühle arrangiert und einige, genauso alte und sehr stilvolle Tassen und Teller auf den Tischen oder dekorativ im Buffet untergebracht. Dort möchte sie unbedingt einmal mit mir hinfahren. Nach einer Weile fragt Lotte erneut nach. »Und bei dir? Hast du Michael gefragt, ob er mit auf den Hof ziehen möchte?« Ich lache. »Nein, so schnell schießen die Preußen nicht. Das hat sich noch nicht ergeben. Aber ich möchte relativ kurzfristig damit beginnen, den Umbau zu planen. Die Vorstellung eines eigenen Büros gefällt mir sehr gut. Das ist ja völlig unabhängig davon, wer dort später wohnt.«

Wir planen ein wenig, wie man das Haus umbauen könnte, wen wir mit den Arbeiten beauftragen könnten und wie schön wir den Garten gestalten würden. Doch die eigentlich bei diesem Thema erwartete Euphorie mag nicht so wirklich aufkommen. Plötzlich habe ich ein Bild im Kopf. In Gedanken sehe ich Ella. Wie sie mit Tommy auf unserem Trampolin hüpft. Es ist wie ein Geistesblitz. Warum habe ich daran noch nicht gedacht? Meine Augen hellen sich ein wenig auf. »Willst du mir nicht erzählen, was los ist?« Ich liebe Lotte mit ihrer Art, Raum zu geben, bis man bereit dazu ist, aber auch zu erspüren, wenn jemand den letzten Anstupser braucht.

Schweren Herzens erzähle ich ihr von unserer Mandantin, natürlich ohne einen Namen zu nennen. Von ihrer Not, einen Unterschlupf für sich, ihre Tochter und ihr Kätzchen zu finden, bis sie in Ruhe den Umzug organisiert haben. Lotte ist genau so geschockt wie ich, als sie von der Gefahr für alle Beteiligten hört. Wenn ich diesen Menschen in die Finger bekommen sollte. Das erweckt einen anderen Gedanken in mir. Meine spontane Idee, die kleine Familie für ein paar Wochen aufzunehmen, bekommt einen bitteren und vielleicht sogar gefährlichen Beigeschmack. Was, wenn Herr Kriener sie hier findet? Würde er davor zurückschrecken, auch uns etwas anzutun? Lotte spricht genau das aus. »Ja, dieser Gedanke kam mir auch gerade. Aber können wir zusehen, wie die junge Frau und das Mädchen ihm weiter ausgeliefert sind, nur weil wir uns vor diesem Mann fürchten? Erst einmal müsste er herausbekommen, wo sie sind. Wir müssen eben sehr vorsichtig sein. Und dann überlegen wir, wie wir uns schützen können.« »Edgar hat ein altes Luftgewehr auf dem Speicher liegen lassen.« Ich stelle mir gerade Oma Lotte vor, eine feine, zierliche, alte Dame, die mit dem Gewehr in der Hand ihren Hof verteidigt. »Pfefferspray sollte fürs erste genügen und im Zweifelsfall rufen wir die Polizei. Frau Dr. Holst hat im Eilverfahren eine Einstweilige Verfügung beantragt, wonach er 50 Meter Abstand zu Frau Dellmann halten muss. Wenn das vom Gericht genehmigt wird und er dagegen verstößt, können wir sofort die Polizei holen.«

Je mehr wir darüber reden, umso lösbarer scheint uns diese Aufgabe zu sein und umso motivierter sind wir, Frau Dellmann zu helfen. Das Haus könnte sofort bezogen werden. Der Umbau für das Büro müsste erst geplant werden, aber die Gestaltung des Gartens könnte ebenfalls beginnen und wäre vielleicht für die beiden eine willkommene Abwechslung. »Ich werde gleich morgen früh mit meiner Chefin darüber sprechen, ob ich Frau Dellmann diese Lösung anbieten darf.«

Wir leeren wir die Gemüsepfanne und hängen beide unseren Gedanken nach. Bis Lotte meine Dental Sticks auf der Arbeitsplatte der Küche entdeckt. »Für wen sind die denn?« Einen Moment lang kaue ich weiter auf einer bissfesten Paprika herum. Lotte legt ihr Besteck beiseite und sieht mich erwartungsvoll an. Schweren Herzens antworte ich: »Mein Abschiedsgeschenk für Sam.« Sie holt einmal tief Luft und schweigt. Ich habe das Gefühl, dass ich mich verteidigen müsste. »Wenn ich arbeiten bin, wäre der Kleine stundenlang alleine, und überhaupt habe ich so wenig…« Ich zögere, weil ich nicht weiß, was genau ich antworten soll. Es gibt einiges, was ich zu wenig habe: Geld, Zeit, Geduld. »Zeit«, ergänze ich nur.

»Das kannst nur du selbst entscheiden. Doch wenn es lediglich an der Zeit scheitern sollte – Sam könnte in den Zeiten, wo du arbeiten bist, bei mir und Brutus bleiben.« »Ach Lotte, ich würde ja auch gerne, aber der Zeitpunkt ist einfach nicht so gut.« Lotte vermeidet jegliches weitere Wort, das mir ein schlechtes Gewissen machen könnte, und beendet ihren Besuch mit den Worten: »Du weißt schon, was du tust, Annie. Alles wird gut.«

Jetzt muss ich sehen, dass ich auf andere Gedanken komme. Ich muss unbedingt Lissy anrufen. Ihr kann ich es nicht verheimlichen, dass ich vielleicht noch einmal schwanger bin. Meine beiden Schwangerschaften waren für mich die schönsten Monate meines Lebens. Ich habe diese Zeit so sehr genossen. Aber am Telefon möchte ich ihr das nicht erzählen, also verabreden wir uns für den nächsten Abend zum Kino mit der Ankündigung einer Neuigkeit. »Du hast einen Hund? Du heiratest? Paul will wieder zurück zu dir? Du hast im Lotto gewonnen?« »Lissy, hör auf! Ich werde es dir sowieso jetzt nicht verraten.« Schmollend legt sie auf und ich versuche, Michael anzurufen.

»Ja?« Seine Stimme klingt förmlich. Dann fällt mir ein, dass er bei seinem Geschäftstermin ist. »Ist irgendetwas passiert? Oder können wir später telefonieren?« Obwohl er es höflich gesagt hat, klingt es wie eine Abfuhr. Ja, ja, ich weiß. Er wird nicht gerne bei seinen Geschäftsessen gestört. Aber er hätte etwas netter sein können. Dann schimpfe ich mit mir selber. Er kann ja schlecht mit mir flirten, wenn er in Verhandlungen für so ein teures Objekt ist, wie diese Kundin es erwerben will. Da muss er voll und ganz für sie da sein. Schmeckt mir trotzdem nicht. »Nein, nichts passiert. Dann ruf mich nachher an.«

Schon hat er aufgelegt. Den ganzen Abend warte ich darauf, dass er zurückruft. Mit jeder Stunde wird meine Stimmung schlechter. Jetzt werden sie beim Nachtisch sein. Wieder eine Stunde später. Ich würde gerne ins Bett fallen. Aber ich möchte nicht mit so einem blöden Bauchgefühl schlafen gehen. Wahrscheinlich haben sie noch eine Flasche Sekt bestellt, um auf die gute Zusammenarbeit anzustoßen. Ob ich es noch einmal versuchen soll? Nein, auf keinen Fall. Ich riskiere nicht, wie eine nervige, kleine Freundin zu wirken, die ihn kontrollieren will. Wenn er zu Hause ist, wird er sich schon melden. Eine weitere Stunde später habe ich keine Lust mehr, zu warten. Erst, als ich schon im Halbschlaf bin, klingelt das Telefon. Verschlafen gehe ich ran.

»Hallo Süße. Alles okay bei dir?« Seine extreme Fröhlichkeit prallt auf meine Schläfrigkeit. Ohne, dass ich es will, hat er plötzlich ein schlechtes Gewissen. Da ich die Augen kaum noch aufhalten kann, lade ich ihn für den nächsten Tag ein, um gemeinsam mit Lissy und vielleicht ihrem Leon einen schönen Abend zu machen. »Ach nein, macht ihr doch mal einen Mädelsabend, da will ich nicht stören.« Er meint es wahrscheinlich nur gut, doch ich merke, dass ich schon wieder enttäuscht bin. Warum bin ich denn nur so empfindlich in diesen Tagen? Um ihm nicht die Laune zu verderben, verabschiede ich mich bald und versuche, schnell wieder einzuschlafen.

Herzrasen & Himmelsgeschenke

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