Читать книгу Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges - Pia Wunder - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеEine Weile schaffte ihre Mutter es, die Kinderschar so ruhig zu halten, dass Ida und Grete weiter schlafen konnten, nachdem ihr Vater schon in den Stallungen und Marie bei ihrer Arbeit im Gutshaus war. Doch das Gekicher der Kinder und ihre Neckereien sorgten bald dafür, dass Grete den Versuch aufgab, sich weiterhin schlafend zu stellen. Mit einem Überraschungsangriff schnappte sie sich Maries Sohn, als der sich wiederholt an ihren Haaren zu schaffen machte, um sich dann schnell zu verstecken. Diesmal hatte sie ihn erwischt, was ihm einen erschrockenen Schrei entlockte. Bald darauf waren alle Kinder mit in ihrem Bett und tobten mit ihren beiden Tanten. Sie machten sich einen Spaß daraus, dass die Kinder sie ebenfalls nicht unterscheiden konnten und ließen sie bis zuletzt im Dunkeln tappen.
Viel zu schnell rann die kostbare Zeit durch ihre Finger. Obwohl Sonntag war, mussten viele Arbeiten trotzdem erledigt werden. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter zur Hand gingen, kuschelten sie mit Ilse. Grete warf das fröhlich lachende Kind in die Luft, um es schließlich wieder aufzufangen und mit Küssen zu bedecken. Kitzelte sie, um sie zum Lachen zu bringen. Zog den weißen Kittel an und fütterte ihre Tochter. Legte sich auf das Bett und ihren Liebling auf ihren Bauch. Es sollten für lange Zeit die letzten, unbeschwerten Stunden mit ihrem Baby sein. Das wusste sie.
Den Mittagsschlaf nutzte sie, um mit Ida einen langen Spaziergang zu machen. Ida hakte sich bei ihrer 9 Minuten älteren Schwester unter und erzählte ihr, wie gerne sie sich öfter mit ihr treffen würde. »Ich vermisse dich so sehr«, gestand Ida ihr mit zerbrechlicher Stimme. Grete hielt ihren Arm noch fester. »Mir geht es genauso. Aber irgendwann werden wir wieder näher zusammen sein. Spätestens wenn der Krieg vorbei ist.«
Nachdem sie eine Weile schweigend weitergegangen waren, blieb Ida stehen und sah ihr in die Augen. »Ich habe Angst. Alle erzählen immer vom baldigen, endgültigen Sieg über die Russen, aber hinter vorgehaltener Hand hört man so viele Kommentare, die mir eine solche Angst einjagen. Denkst du wirklich, dass der Krieg bald vorbei ist?« Wenn Grete ehrlich zu sich selbst war, hatte auch ihre Hoffnung einige beträchtliche Kratzer erlitten. Aber sie musste Ida Mut machen. »Ludwig schreibt auch von wichtigen Siegen an der Front und hofft, bald zurückkommen zu können. Aber egal, was kommt, wir werden es zusammen durchstehen. Glaub mir!«
Sie konnte nicht einschätzen, ob Ida ihren Worten tatsächlich glaubte, doch sie sah ihrer Schwester fest in die Augen und lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir werden uns jede Woche schreiben und auf dem Laufenden halten. Und irgendwann werden wir wieder zusammen sein. Alle zusammen. Versprochen.«
Auch wenn es beiden schwer fiel, sich schließlich auf den Weg zum letzten Zug zu machen, verließ Grete den Hof mit einem guten Gefühl. Es war ein wunderbares Zuhause für ihre Tochter und es war die richtige Entscheidung. Nachdem sie die Fahrkarte gekauft hatte, gab sie ihrem Vater den Rest ihres Geldes. Sie selbst brauchte gar nichts, wenn sie wieder in Posen war. Sie kam mit dem zurecht, was ihr in Jakobsens Haus geboten wurde. Und sie würde jeden Pfennig, den sie entbehren konnte, beiseitelegen. »Wenn ihr etwas braucht, schreib mir bitte. Dann schicke ich euch etwas Geld.« Sie ahnte, dass ihr Vater viel zu stolz wäre, ihr Geld anzunehmen. Vielleicht würde sie hin und wieder etwas Geld an Marie schicken. Sie konnte es dann ihrer Mutter geben. Aber zuerst einmal musste sie sich etwas einfallen lassen, wie sie nebenbei zusätzliches Geld verdienen konnte. Sie hatte da schon die ein oder andere Idee.
Die Verabschiedung von ihrem Vater und auf halber Strecke von Ida fiel nicht minder traurig aus, als die Verabschiedung von ihrer Tochter. Grete hatte bewusst die Abfahrzeit so spät gewählt, dass sie bei ihrer Ankunft möglichst niemandem mehr begegnen würde. Sie hoffte, dass Jakobsen bereits schlief, denn ihr lag nichts an irgendwelchen Erzählungen ihres Wochenendes. Oder daran, dass er die Tränen in ihren Augen sah. Sie wollte nicht, dass er in ihre Seele sah. Das machte sie zu verletzlich. Sie wollte nicht verletzbar sein, sie wollte stark sein. Und das war sie.
Ihr Vater fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass seine Tochter mitten in der Nacht den weiten Weg vom Bahnhof bis zum Laden allein zu Fuß gehen musste. Doch es machte ihr nichts aus. Als sie Zuhause ankam, brannte noch ein kleines Licht im Hausflur. Ob Jakobsen es für sie angelassen hatte? So viel Rücksicht würde nicht zu ihm passen. Oder ob er selbst noch nicht schlafen gegangen war und auf sie wartete? Leise schloss sie die Tür auf und erschrak beim Quietschen der dicken Scharniere. Das war ihr bislang gar nicht aufgefallen. Erst jetzt, wo alles um sie herum totenstill war, glich es einem Schrei und sie erschrak.
Regungslos blieb sie in der halb geöffneten Tür stehen. Es war still im Haus. Grete traute sich kaum, die Tür wieder zu schließen, doch ihr blieb keine Wahl. Fest hielt sie die Türklinke in der Hand und mit einem schnellen Ruck schob sie die Tür wieder zu. Wieder verharrte sie einen Augenblick. Dann drückte sie die Türklinke hinab und verschloss die Tür. Immer noch war kein Ton zu hören. Sie beschloss, die Lampe im Flur zu löschen und im Dunkeln den Weg in ihr Zimmer zu suchen. Hoffentlich lag nichts auf der Treppe, über das sie stolpern könnte. Aber die Befürchtung, Jakobsen durch den Lichtschein zu wecken, war größer als die Angst, im Dunkeln in ihr Zimmer zu gehen. Zwei der unzählig erscheinenden Holzstufen knarrten erbarmungslos. Jedes Mal blieb sie stehen und hoffte inständig, dass sie bald ungesehen in ihr Bett fallen konnte. Wenige Minuten später hatte sie es geschafft. Sie verzichtete auf die Abendtoilette und verkroch sich in ihre Kissen, nachdem sie die Zimmertür verschlossen hatte.
***
Als Jakobsen sich ihr das erste Mal unsittlich von hinten näherte, ließ Grete vor Schreck den Porzellanteller aus der Hand fallen und stieß einen hellen Schrei aus. Diese Reaktion löste in ihm einen unvorhergesehenen Schock aus und da gleichzeitig die Klingel des Ladens ertönte, eilte er in sein Geschäft. Zu Gretes Glück kam noch am gleichen Tag seine Frau unverhofft aus dem Urlaub zurück. Ihre frühzeitige Ankunft passte Jakobsen gar nicht in seinen Plan. Darüber hinaus hatte sie Klaus bei Verwandten gelassen, damit dieser seine Ferien und sie selbst eine ungestörte Zeit mit ihrem Gatten verbringen konnte.
Es begann eine ruhelose Zeit für Grete, in der sie immer befürchten musste, dass Jakobsen sein Ziel weiter verfolgte. Sie vermied es möglichst, allein in einem Raum mit ihrem Chef zu sein, was oft sehr schwierig war. Ihre freie Zeit verbrachte sie wenn irgend möglich nicht zu Hause. Sie suchte sich für die Wochenenden, die früher für Ilse reserviert waren, eine Nebentätigkeit. Die Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs stellte die hübsche Frau gerne für die Bedienung der Gäste ein. Sie war fleißig und sehr freundlich. Das sicherte ihr zudem ein gutes Trinkgeld. Freiwillig blieb sie bis zum Schluss, half dabei, die Gläser zu spülen und den Boden zu wischen, obwohl es nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Sie tat alles, um Jakobsen möglichst nie allein zu begegnen.
Doch nicht immer ließ es sich vermeiden. Obwohl sie immer die stärkere der beiden Zwillinge gewesen war, wünschte sie sich in dieser Zeit, ihre Schwester würde ihr beistehen. Die Begegnungen waren oft eine Gratwanderung. Sie wollte sich nichts von ihrem Chef gefallen lassen, war aber andererseits unbedingt auf diese Stellung angewiesen. Wie sonst sollte sie das Geld, das sie in einer kleinen Schatulle auf dem Kleiderschrank aufbewahrte, verdienen. Die Zeiten waren nicht mehr so rosig. Die Gerüchte, dass die eigenen Männer an der östlichen Front die rote Armee nicht auf Dauer zurückhalten können, verdichteten sich. Niemand würde heute jemanden neu einstellen. Jeder musste sehen, wie er zurechtkam.
Jakobsens Annäherungsversuche wurden eindringlicher, so dass er sich eines Tages nicht mehr zurückhielt, obwohl seine Frau mit Klaus nur für einen Einkauf das Haus verlassen hatte. Unverhofft stand er plötzlich hinter ihr und fasste ihr mit schnellem Griff unter den Rock. Erschrocken versuchte Grete, sich herumzudrehen, doch der kräftige Mann hatte sie mit einer Hand fest im Griff und schob sie gegen den Küchentisch. Mit der anderen Hand schob er den langen Rock nach oben und machte sich schnell an seiner Gürtelschnalle zu schaffen. Grete wehrte sich mit aller Gewalt und schaffte es, eine gusseiserne Pfanne zu greifen. Obwohl diese ihr sonst immer so schwer erschien, schaffte sie es, damit hinter sich zu schlagen. Leider jedoch, ohne ihn zu treffen. Geschickt nahm er ihren Arm und schlug damit auf den Tisch, so dass sie die Pfanne vor Schmerz loslassen musste.
Diesen kurzen Augenblick der Ohnmacht nutzte Jakobsen, um hastig seinen Reißverschluss zu öffnen und seine Hose nur soweit wie nötig herunterzulassen. In ihrer ganzen Wut sammelte Grete noch einmal alle ihre Kräfte, um hinter sich zu schlagen. Bevor sie dazu kam, vernahm sie ein dumpfes Geräusch und spürte, wie der Mann hinter ihr zu Boden sank. Mit ihm fiel auch ihr Rock hinab. Sie wagte kaum, sich umzudrehen. Ihr Blick haftete noch immer auf dem Tisch. Langsam und voller Scham drehte sie den immer noch geneigten Kopf zur Seite und sah in das verbitterte Gesicht von Jakobsens Frau, die Grete wortlos mit einem Nicken aufforderte, sich zurückzuziehen.
Selbstverständlich wusste die Hausherrin, dass Grete keine Schuld an diesem Vorfall traf. Es war schon vorher deutlich zu spüren, dass ihr Mann nur auf eine Gelegenheit wartete, zu seinem – wie er meinte – Recht zu kommen. Nur dem Zufall, dass sie ihre Geldbörse vergessen hatte und Frau Jakobsens kräftiger Schlaghand war es zu verdanken, dass Grete unbeschadet aus dieser Situation entkommen konnte. Er war mit einer Platzwunde am Hinterkopf davongekommen. Vor allem aber war er sich der ständigen Beobachtung seiner Frau nun sicher. Die Gefahr für Grete war zwar nun nicht mehr allgegenwärtig, doch die Stimmung im Haus war in jeder Hinsicht vergiftet und oft nur schwer zu ertragen.
Es war ein Segen, dass Jakobsen in dieser Zeit einen Unfall hatte, bei dem er sich einen komplizierten Beckenbruch zuzog und eine ganze Weile im Krankenhaus bleiben musste. Grete war dankbar für dieses Geschenk des Himmels. Es machte ihr nichts aus, dass sie nun noch mehr Stunden arbeiten musste, da sie nun auch den Verkauf im Laden übernahm. Zu ihrer großen Freude kam in dieser Woche auch noch ein Paket aus Bernstein. Ihre Mutter hatte einen wunderschönen, warmen Pullover für die kalte Jahreszeit gestrickt. Obwohl die rote Wolle nicht sehr fein war, fühlte sich der Pulli wunderbar flauschig an. Doch richtig warm ums Herz wurde ihr erst, als sie den Brief ihrer Mutter öffnete, dem ein Foto ihrer kleinen Tochter beilag. Als sie die Zeilen las, konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen durchs Gesicht rannen.
Ilse hatte ihre ersten Schritte gemacht und entwickelte sich zu einem wahren Sonnenschein. Grete las von dem riesigen Appetit ihres Kindes, das trotzdem kaum an Gewicht zunahm und weiterhin zierlich blieb. Auch ihre helle Haut hatte trotz des Sommers keine Farbe angenommen. Sie konnte sich ihr zartes, hübsches Mädchen bildlich vorstellen und lächelte. Gleichzeitig war sie traurig, dass sie die Entwicklung ihres Mädchens nicht mit erleben durfte.
Diese Zerrissenheit begleitete Grete durch die folgenden Jahre. Nur einmal noch konnte sie ihren Eltern einen Besuch abstatten und ihre Tochter wiedersehen. Es war kurz nach ihrem zweiten Geburtstag. Grete konnte diese Gefühle kaum in Worte fassen. Obwohl das Kind seine Mutter so lange nicht gesehen hatte, lief Ilse ihr gleich auf dem Hof in die Arme. Grete ließ alles, was sie in der Hand hatte, auf der Stelle fallen, ging auf die Knie und hielt ihr Kind fest in den Armen. Für einen Augenblick löste sie die Umarmung, um ihrem Kind ins Gesicht zu sehen. Mit Sommersprossen auf der Nase und großen Augen lachte sie ihre Mutter an. Schnell drückte sie die Kleine wieder an sich und hätte sie am liebsten nicht mehr losgelassen. Das schönste Geschenk, das Ilse ihr an diesem Tag machte, war ein einziges Wort, das sie bislang noch nie aus dem Mund ihres geliebten Kindes gehört hatte: »Mami«. Ein Wunder, dass sie das überhaupt zu ihr sagte.
Umso schlimmer war wieder einmal der Abschied. Denn auch dieser Besuch verging viel zu schnell. Grete übergab ihrer Mutter vor der Abreise ein Kuvert mit dem ersparten Geld und bat sie, es gut für sie aufzuheben. Sie traute Jakobsen nicht über den Weg und wollte nicht riskieren, ihr hart erarbeitetes Geld zu verlieren.
Ida lebte und arbeitete immer noch in Stettin. Auch ihr schrieb Grete regelmäßig und sie tauschten sich vor allem über die bedrohliche Entwicklung an der Front aus. Mehr als einmal hatte Grete überlegt, ob sie zu ihren Eltern und vor allem zu ihrer Tochter ziehen sollte. Doch immer wieder machte ihre Mutter ihr klar, dass es unmöglich sei, für sie eine Stellung zu finden. Ihre Arbeit in der Ferne half ihrer Familie weitaus mehr. Also versuchte sie, so lange wie möglich in Posen auszuhalten.
Ludwig machte ihr Hoffnung. Immer wieder kamen Briefe. Doch die Abstände wurden größer. Im August 1944 erhielt sie einen unförmigen Briefumschlag. Man sah ihm an, dass er außer einem Brief noch etwas anderes beinhalten musste. Aufgeregt versteckte Grete ihn in ihrer Arbeitsschürze, um ihn in einem unbeobachteten Moment zu öffnen. Sie wusste selbst nicht recht, warum sie so misstrauisch war. Die Stimmung in der ganzen Stadt schien zu kippen. Niemand traute mehr dem Nächsten und jeder versuchte, für sich das Beste herauszuholen. Daher hatte sie auch die Schatulle mit ihren Ersparnissen vom Schrank geholt. Beim Nachzählen hatte sie das Gefühl, dass Geld fehlte, doch sie hatte nicht genau notiert, wie viel wirklich darin war. Auch dies bestärkte sie in ihrer ungewollten Stimmung des Misstrauens.
Nach Feierabend schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und öffnete den Briefumschlag. Noch bevor sie den Brief herauszog, fiel ihr ein weiches Papiertuch in die Hände. Darin eingewickelt fand sie eine wunderschöne Haarspange für ein Kind. Für ihre gemeinsame, kleine Tochter. Eine Libellenspange.
Die Freude über das schöne Geschenk wich schnell einer tiefen Angst. Ludwigs Zeilen waren nicht wie sonst unbeschwert und liebevoll. Besorgnis sprach aus seinen Worten. Er berichtete von russischen Truppen, die seine Einheit zurückdrängten. Offiziell sprach man in Posen davon, dass der Endsieg nicht mehr in weiter Ferne schien. Doch Ludwigs Brief sprach eine ganz andere Sprache. Auch wenn er versuchte, seine Worte nicht allzu beunruhigend klingen zu lassen, konnte sie seine Angst förmlich spüren. Wie sehr sie sich danach sehnte, in seinem Arm zu liegen.
Sein vorerst letzter Brief, der sie im Januar 1945 erreichte, war hingegen völlig klar. Für sie. Seine Worte waren für Außenstehende nicht deutlich. Er sprach davon, dass sie doch schon immer mal Urlaub in Bernstein bei ihren Eltern machen wollte. Und dass seine Tante Klara in Köln sehr gerne einmal ihr kleines Mädchen kennenlernen würde. Es gab keine Verwandtschaft in Köln. Grete erkannte die versteckte Botschaft sofort. Durch die Blume forderte er sie auf, Posen sofort zu verlassen, ihre Tochter in Bernstein abzuholen und mit dem ersten Zug, den sie bekommen konnte, in den Westen zu fahren. Auf der Stelle. Es waren unmissverständliche Zeilen, die ihr eine furchtbare Angst einflößten. Doch sie endeten, wie immer, mit seinem Versprechen, dass er bald bei ihnen wäre.
Schon am nächsten Tag war Grete ohne ein Wort aus dem Haus der Jakobsens verschwunden. Ihr schlechtes Gewissen war groß, doch nicht annähernd vergleichbar mit der Sorge um ihre Familie. Also hinterließ sie Frau Jakobsen einen Brief, in dem sie sich entschuldigte und ihre Lage erklärte. Im Laden war ohnehin kaum noch ein Käufer zu sehen, denn immer mehr Menschen packten ihr Hab und Gut, um die Stadt zu verlassen. Im letzten Monat schon hatte Grete nur einen Teil ihres Gehaltes ausgezahlt bekommen, weil die Geschäfte schlecht liefen. Ihre Ersparnisse hatte sie in der Nacht in den Bund des Pullovers und einen kleinen Teil in das Futter des Koffers eingenäht. Für Ilse hatte sie extra einen kleinen, roten Koffer gekauft. Am Bahnhof gab sie einen kurzen Brief für Ida auf, der sie über ihre Pläne informierte.
Der letzte Brief an ihre Eltern war bereits einige Wochen her und so würde sie unangemeldet dort auftauchen. Doch sie war sich sicher, dass ihre Eltern sich über ihren Besuch freuen. Zumindest so lange, bis sie den Grund ihres Kommens erfuhren. Mit ihrem schweren Koffer suchte sie verzweifelt nach einem letzten freien Platz im Zug. Eine kleine Lücke zwischen zwei kräftigen Männern ließ sie hoffen und so nahm sie allen Mut zusammen, die Männer um ihr Einverständnis zu bitten, Platz nehmen zu dürfen. Jeder im Abteil hielt sein Gepäckstück auf dem Schoß fest und beäugte den Nachbarn argwöhnisch. Da Grete überhaupt nur in die Lücke passte, weil sie so zierlich war, gab es keine Möglichkeit für sie, den großen, braunen Koffer hochzunehmen. Den kleinen, roten Koffer legte sie nach oben in die Gepäckablage. Mit einem unguten Bauchgefühl schob sie den schweren Koffer zwischen ihre Beine, die sie für diesen Zweck so weit öffnen musste, wie sie es sonst nie getan hätte. Es ziemte sich nicht. Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen.
Während der ganzen Fahrt presste sie die Beine fest gegen den Koffer, um sicherzustellen, dass er an Ort und Stelle blieb. Hin und wieder, wenn ihre Beine eingeschlafen waren, rückte sie mit der Hand den Koffer ein wenig vor oder zurück. Einmal legte sie die Beine auf den Koffer, um sie ausstrecken zu können, doch schnell stieg Unwohlsein in ihr auf und sie stellte ihre Füße zurück auf den Boden. Sie versuchte, ihren Blick entschlossen und selbstsicher erscheinen zu lassen. Alles, was sie besaß, war in diesen beiden Koffern verstaut. Die Fahrt kam ihr vor, wie eine Ewigkeit und sie war erleichtert, als sie zwei Stunden später den Zug verlassen konnte und ihre Füße heimatlichen Boden berührten, der mit einer leichten Schneeschicht bedeckt war.