Читать книгу Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges - Pia Wunder - Страница 8
ОглавлениеKapitel 2
Sie wusste, dass der Abschied schwer werden würde. Jakobsen hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie sich nicht wagen sollte, das Baby mit in sein Haus zu bringen. Solange Ludwig sich noch an der Front aufhielt, konnte er nicht für sie sorgen und sie nicht für ihr Baby. Grete konnte froh sein, dass das Waisenhaus direkt an das Krankenhaus angeschlossen war und ihren Säugling aufnahm. Aber ihr Kind schon nach drei Tagen allein zu lassen, zerriss ihr das Herz.
Sicher – die Schwestern würden sich gut um die Kinder kümmern. Hoffte sie. Wer konnte schon kontrollieren, was mit den Kindern hier wirklich geschah. Nachtschwester Alexe hatte sie bereits deutlich spüren lassen, was sie von fussigen Kindern hielt. Doch im Grunde blieb ihr nichts anderes übrig, als zu vertrauen und die Hoffnung nicht aufzugeben. Als sie die kleine Ilse in ihr Bettchen legte, um sich zu verabschieden, blickte ihre Tochter sie fragend an. »Ich bin bald wieder zurück, mein Engelchen. Mach dir keine Sorgen! Und sei brav!« Mit hängenden Schultern verließ sie den Schlafsaal mit den insgesamt wohl fast 25 Säuglingen. Die ohnehin mit ihren 155 cm sehr kleine Frau wirkte wie ein zerbrechliches Schulmädchen. Von nun an würde sie ihren kleinen Liebling nur noch an den Wochenenden sehen dürfen.
Auf dem Weg zu ihrem derzeitigen Zuhause lief sie beim Postamt vorbei, um einen Brief für ihre Eltern und Ida aufzugeben, und dann noch schnell zur Führerresidenz im Schloss, wo sie eine Nachricht für Ludwig aufgab. Erschöpft erreichte sie zur Mittagszeit den Fischladen. »Wird aber auch Zeit, dass du endlich kommst. Geh rein und mach schnell das Mittagessen! Es ist viel Arbeit liegen geblieben.« Nicht einmal ein Gruß. Eine Nachfrage, ob es ihr gut ginge. Oder ihrem Kind. Aber was hatte sie erwartet? Nichts. Genau das hatte sie erwartet. Gar nichts.
Der Arbeitsalltag hatte Grete schnell eingeholt. Die blutigen Spuren auf ihren Kleidungsstücken waren bald verblasst und die Strapazen der Geburt ebenso. Doch was nicht verblasste, war ihre Hoffnung, jeden Morgen wenn sie die Augen öffnete und ihr Blick auf das Hochzeitskleid fiel. Und jeden Sonntag, wenn sie für einige kostbare Stunden ihr Kind besuchen ging. Besuchen. Sie versuchte, dem Schmerz nicht zu viel Raum zu geben. Dem Schmerz darüber, dass sie ihr Kind nicht begleiten und versorgen, sondern nur besuchen konnte.
Am vierten Sonntag kamen ihre Eltern aus Mark Brandenburg zu Besuch, um ihr Enkelkind zu begrüßen und mit Grete zusammen eine kleine Tauffeier zu begehen. Zu gerne wäre auch Ida aus Stettin gekommen, doch ihr Chef ließ sie nicht gehen. Trotzdem freute Grete sich sehr, wenigstens ihre Eltern nach so langer Zeit wiederzusehen. Fast ebenso freute sie sich über die Leckereien, die sie mitbrachten. Köstlicher Streuselkuchen mit selbst eingemachten Sauerkirschen. Grete kostete diese kleinen Glücksmomente bis in jede Faser aus und versuchte, so viel wie möglich davon in ihrem Herzen festzuhalten. Für die bevorstehenden kalten und arbeitsreichen Tage. »Irgendwann kommen bessere Zeiten, mein Engel. Bald.« Zur Feier des Tages hatte sie das edle, kleine Spitzentuch, das sie eigentlich für Ludwig vorgesehen hatte, mitgebracht. Ein kleines, rotes Herz hatte sie in eine Ecke des Tuches gestickt, darin mit hellgrünem Garn den Buchstaben I. Grete hatte den Wunsch, dass die kleine Ilse dieses Tuch immer bei sich tragen sollte und damit das Gefühl, dass ihr Vater immer bei ihr ist. Schwester Hildegard, die zu Gretes erklärter Lieblingsschwester auserkoren war, versprach, ein Auge darauf zu haben.
Leider war viel zu schnell die Zeit gekommen, da ihre Eltern wieder abreisten und Grete fühlte sich einsamer als je zuvor.
Wie glücklich sie war, als sie nur wenige Tage später einen kostbaren Brief in Händen hielt. Grete konnte nicht warten. Schnell zog sie sich in ihre Kammer zurück und öffnete mit zittrigen Händen den Umschlag. Ihr Herz sprang über vor Freude. Ein Foto mit einer Widmung lag darin und sie verschlang die liebevollen Zeilen, die er ihr geschrieben hatte: »Meine kleine Gredel…« Sie konnte förmlich hören, wie er die Worte zu ihr sprach. Niemand nannte sie so. Mit diesem weichen, fast zärtlichen d in der Mitte ihres Namens. Seine liebevolle Stimme klang in ihren Ohren. Grete spürte in seinen Worten, wie glücklich ihn die Geburt ihrer niedlichen Tochter machte. Er versprach, so schnell es ging nach Hause zu kommen und für sie zu sorgen. Seine Zeilen stärkten ihre Zuversicht, selbst als es Monate dauerte, bevor sie den nächsten Brief ihres geliebten Ludwig erhielt.
In seiner fröhlichen Art versuchte er immer wieder, sie zu beruhigen, dass alles auf einen Sieg an der östlichen Front und ein baldiges Kriegsende hindeutete. Doch Grete spürte diese ständige Unruhe in sich. Er war nun schon über ein Jahr fort und ihre kleine Tochter bereits ein halbes Jahr alt. Ludwig fragte nach, wie die kleine Ilse sich entwickelte und ob ihre Haare immer noch so schön leuchteten. Er hatte sich so sehr über die Nachricht gefreut, dass seine Tochter die Farbe seiner Haare geerbt hatte. Wenn Grete doch nur im Zeichnen so viel Geschick hätte, wie im Nähen. Dann würde sie ein Bild von Ilse zeichnen und zu ihm schicken. Sie wusste, dass sie es gar nicht erst versuchen brauchte. Es würde aussehen wie ein beliebiges Baby. Niemals könnte sie den einzigartigen Gesichtsausdruck ihrer Tochter gebührend einfangen.
Aber eine andere Idee setzte sich in ihren Kopf. Und einmal dort festgesetzt, ließ sie sie nicht mehr los. Bei ihrem nächsten Besuch im Waisenhaus sah sie nach dem Spitzentüchlein. Ihr Kind hatte sie und sie hatte ihr Kind. Wenn auch nur wenige kostbare Stunden. Aber Ludwig war ganz allein dort draußen. Ilse hatte das Tuch wochenlang an ihrem Körper getragen und den einzigartigen Babyduft hinterlassen. Sie würde ihm dieses Tuch schicken. Dann konnte er seine Nase darin vergraben und tief den Duft dieses neuen Lebens einatmen. Ja, genau das würde sie tun. Und in dieses Tuch würde sie eine kleine Locke ihrer roten Haare wickeln, mit einem dünnen Seidenband zusammengebunden.
Nachdem Grete das Tuch an sich genommen hatte, befreite sie Ilse von der weißen, leichten Baumwollmütze. In aller Pracht entfalteten sich die weichen Locken ihres Mädchens. Es fiel gar nicht auf, dass sie ihr mit der kleinen Schere zwei Locken abschnitt. Als sie ihrer Tochter anschließend liebevoll durch die Haare wuschelte, gluckste und lachte die Kleine lauthals. Ihre Augen sahen so glücklich aus, dass es ansteckend war. Ilse konnte sich kaum beruhigen. Weil es Grete mit so großer Wärme erfüllte, konnte sie nicht anders, als immer wieder durch die Haare zu wuscheln, immer wieder mit demselben Effekt. Irgendwann nahm sie die Kleine hoch, so dass Ilses Kopf auf ihrer Schulter lag und sofort vergrub das Mädchen sein Gesicht in der weichen Haut von Gretes Hals. Heute fiel es ihr besonders schwer, ihre Tochter zu verlassen. Noch am selben Abend schrieb sie Ludwig einen langen Brief und legte das wertvolle Tuch und die Locke mit in den braunen Umschlag. Schade, dass sie sein Gesicht nicht sehen konnte, wenn er es bekam.
Schon im nächsten Monat kamen Gretes Eltern wieder zu Besuch. Diesmal kamen sie nicht allein. Marie und deren 12jährige Tochter Elfriede begleiteten sie. Welche Wiedersehensfreude das am Bahnhof war. Familie war so wichtig. Egal, wie lange sie sich nicht gesehen hatten, sobald man wieder vereint war, war alles gut. Zusammen konnte man eben alles schaffen. Besonders aufgeregt war Elfriede, die es gar nicht erwarten konnte, ihre kleine Cousine kennenzulernen. Umso überraschter war Grete, als ihre Nichte immer schweigsamer wurde, je näher sie dem Zimmer kamen. Sie versuchte, Elfriede aufzumuntern und erzählte von den Grimassen, die Ilse schnitt, wenn man ihr zwischendurch die Flasche wegnahm, weil sie zu gierig getrunken hatte. Nichts. Elfriede wirkte zunehmend bedrückt. Na, es wird sich schon legen, wenn sie das Baby erst einmal im Arm hatte, dachte Grete.
Und tatsächlich. Schnell hatte Elfriede das richtige Bettchen gefunden und wartete darauf, dass man ihr das kleine Mädchen in den Arm legte. Die Schwester gab ihr einen weißen Kittel und bat sie, diesen überzuziehen. Gretes Mutter, die noch einige Zentimeter kleiner als sie selbst war, durfte Ilse aus dem Bettchen holen und herzte sie erst einmal ausgiebig. Ihr Vater hielt sich zurück und deutete auf seine große Enkeltochter. Er wollte ihr nicht zumuten, noch länger zu warten. Und endlich durfte Elfriede auf einem Sessel Platz und die Kleine auf ihren Arm nehmen. Eine Träne lief ihr augenblicklich die Wange hinab. Grete war sich nicht sicher, ob es eine Freudenträne war und fühlte sich zunehmend aufgewühlt. Natürlich war sie immer aufgewühlt, wenn die Familie zu Besuch war. Es war immer ein Tag voller Freude und voller Schmerz, wenn der Abschied nahte. Doch ihr untrügliches Bauchgefühl verriet ihr, dass dies mehr war als eine Freudenträne über das neue Familienmitglied.
Heute durften sie Ilse in einen Kinderwagen packen und mit ihr spazieren gehen. So schön dieser August-Nachmittag war, ihr Gefühl ließ sie nicht los. Während der ganzen Zeit durfte nur Elfriede den Wagen schieben und immer wieder streckte sie eine Hand in den Wagen, um nach den Fingerchen zu greifen oder Ilse über die Wange zu streichen. Bevor sie sich auf den Rückweg machten, setzten sie sich auf eine Bank im nahegelegenen Park. Es war dieser Park, in dem das junge Leben an einem romantischen Sommertag entstanden war. Völlig unvorbereitet platzte es aus Elfriede heraus: »Dieses Waisenhaus ist so schrecklich. Da kann die Kleine doch nicht bleiben.« Da niemand sonst das Wort ergriff, versuchte Grete, es ihr zu erklären. Ihr etwas zu erklären, das für sie selbst kaum erklärbar war. Ihr Kind wuchs in einem Waisenhaus auf, obwohl es Vater und Mutter und eine große Familie hatte.
Grete sah ihre eigene Mutter flehend an. Doch diese konnte ihr nicht helfen. Nach einigen Minuten des Schweigens, in denen Elfriede hemmungslos schluchzte angesichts der Vorstellung, ihre Cousine gleich wieder in diesem kalten Haus abzugeben, ergriff ihre Mutter vorsichtig das Wort. »Wir haben uns auch Gedanken gemacht, liebe Grete. Ein Kind braucht Familie. Und ein Kind braucht seine Mutter.« Wahre Worte. Schweigen. »Beides hat es und hat es eigentlich nicht.« Grete wusste genau, was ihre Mutter sagen wollte. Und eigentlich sprach sie ihr aus dem Herzen. Sie wünschte sich so sehr für Ilse, dass sie mehr von ihr und von ihrer Familie hätte. Doch wie sollte das gehen?
Ihr Bauchgefühl wurde stärker und schmerzlicher, während sie den Worten ihres Vaters lauschte, der bis dahin geschwiegen hatte. Der große, schlanke Mann nahm seine zierliche Tochter in den Arm und versuchte, ihr den Gedanken näher zu bringen, das Kind in die Hände der Familie in Mark Brandenburg zu geben. So sehr, wie er seine eigene Tochter vermisste, ahnte er, welchen Schmerz es für sie bedeutete, ihr Kind so weit weg zu wissen und noch viel seltener sehen zu können. Denn, eins war klar: Grete konnte zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit auf das Gut. Für sie gab es dort keine Arbeit und kein Brot. Außerdem war sie noch in der Verpflichtung gegenüber Jakobsen.
»Ich danke euch für euer Angebot. Und ich weiß, dass es ihr gut gehen würde. Aber lasst mich bitte darüber nachdenken. Ich kann nicht hier und heute entscheiden. Bitte, versteht das!« Natürlich hatten sie Verständnis für Gretes Verzweiflung, aber sie waren auch sicher, dass sie die richtige Entscheidung treffen würde. Es wäre ja nur ein vorübergehender Abschied. An diesem Abend gingen alle mit Tränen gefüllten Augen ins Bett. Es waren bittere Tränen des Abschieds und der Verzweiflung.