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Kapitel 3

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Sommer 1942

Grete tat das einzig Richtige. Sie durfte nicht egoistisch sein und musste an das Wohl ihrer kleinen Tochter denken. Einige Wochen noch genoss sie die Zweisamkeit mit ihrer kleinen Ilse und bereitete sich auf die Reise vor. Tatsächlich hatte sie sich bei Jakobsen durchgesetzt und bekam das ganze Wochenende frei und ihre kleine Aufwandsentschädigung für diesen Monat. Sogar eine Vorauszahlung für den nächsten Monat gab er ihr. Jakobsen wusste Grete gerne in seiner Schuld. Es war absehbar, dass die attraktive, junge Frau nun auch am Wochenende Zeit für ihre Dienste hatte und wenn er ehrlich war, erhoffte er sich schon seit längerer Zeit Dienste der ganz anderen Art von Grete.

Solange seine Frau und der Sohn im Haus waren, konnte er nicht riskieren, bei einer Annäherung erwischt zu werden. In den Ferien jedoch waren beide zur Familie an die Mecklemburgische Seenplatte gefahren. Unter dem Vorwand, das Geschäft in diesen Zeiten nicht schließen zu können, blieb er allein zu Hause. Er verabschiedete Grete, die sich mit ihrer Tochter auf den Weg zu den Eltern machte, ungewöhnlich verständnisvoll. »Wann bist du wieder zurück?« »Auf jeden Fall am Sonntagabend. Ich weiß noch nicht genau, wann der Zug ankommt, aber Sie brauchen nicht auf mich zu warten. Ich werde leise sein und direkt schlafen gehen, damit ich am Montag ausgeruht bin und Ihnen helfen kann.« Grete war überrascht angesichts seiner scheinbaren Anteilnahme. Doch sie war zu aufgewühlt, dem viel Bedeutung beizumessen.

Die zweistündige Zugfahrt verging wie im Flug. Während die malerische Landschaft rund um Bernstein mit den sieben Seen an ihr vorbeizog, wurde ihr wieder einmal bewusst, wie schön ihre Heimat eigentlich war. Heimat. War es das für sie? Sie wurde mit Ida hier geboren und verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit hier. Sie fühlte sich hier zuhause und Ilse würde es genau so gehen. Es war ein Gefühl von Ferien bei ihren Eltern. Das war ein sehr schönes Gefühl. Zwei Tage konnte sie mit ihrer ganzen Familie genießen, bevor sie dann den Gutshof vorerst allein verlassen musste.

Während der gesamten Fahrt hielt sie Ilse fest in ihrem Arm. Die Kleine schmiegte sich an sie und schien es zu genießen, ihrer Mutter so nahe zu sein. Mit wachen Augen sah sie ihre Mutter an. Und wie jedes Mal, wenn Ilse sie zu fragen schien, was gerade passierte, flüsterte Grete ihr zuversichtlich zu: »Alles wird gut.« Das Gesicht ihres kleinen, rot gelockten Mädchens strahlte Vertrauen aus. Grete glaubte fest daran, dass sie ihre Tochter nicht enttäuschen würde.

Gedanklich hatte sie sich schon auf einen Fußmarsch von einer guten Stunde vorbereitet, da der Gutshof etwas abseits des kleinen Bahnhofs lag. Zu ihrer Überraschung wurde sie jedoch von ihrem Vater empfangen. Er hatte sich den Wagen des Gutsbesitzers ausgeliehen. Drei von Maries Kindern waren mitgekommen und hüpften fröhlich winkend auf dem Bahnsteig herum, bis der Zug endlich zum Stillstand kam. In diesem Augenblick rannten sie zur Tür des Waggons, um sie zu öffnen. Grete stand mit der Kleinen auf dem Arm und einer großen Tasche in der anderen Hand darin und wartete. Doch die Kleinen hatten nicht die Kraft, die schwere Tür zu öffnen und mussten sich gedulden, bis ihr Großvater kam, um ihnen zu helfen.

»Wie schön, dich zu sehen.« Ihr Vater umarmte sie und die Kleine behutsam. »Wie groß sie geworden ist.« Ilse lächelte ihren Großvater an. Ihr Blick ließ sein ohnehin großes Herz erweichen. Er konnte sich erst von seinem Enkelkind lösen, als ihre Cousinen und Cousins an Grete hochsprangen, um das rothaarige Baby zu sehen, von dem hier seit Wochen schon die Rede war. Dann nahm er ihr die schwere Tasche ab. Grete kniete sich nieder, damit die Kinder ihre Cousine endlich sehen konnten. Eins der Mädchen schob Ilses Mützchen etwas nach oben, um die Haare sehen zu können. Dabei schnürte das Band der Mütze den Hals ein, so dass Grete schnell eingreifen musste, damit die ungestümen Kinder sie nicht verletzten. »Kommt, lasst uns ins Auto gehen, dann kann ich ihr das Mützchen ausziehen. Hier draußen ist der Wind zu frisch.«

So schnell es ging, sprangen die Kinder ins Auto und stellten sich auf die Sitzbank, um einen besseren Blick erhaschen zu können. »Jetzt ist aber Schluss.« Grete erschrak bei den harten und lauten Worten ihres Vaters. »Wenn irgendetwas hier schmutzig wird, dann ziehe ich euch den Hosenboden lang.« So kannten die Kinder ihren Großvater nicht. Aber sie wussten, dass der Gutsherr sehr streng war und deshalb war in dieser Beziehung auch mit ihrem Opa nicht zu spaßen. Schnell nahmen sie auf dem Rücksitz Platz und warteten brav, bis Grete der Kleinen die Mütze abgenommen hatte. Sie hielt ihr Mädchen in die Höhe, so dass die Kinder es hinten gut sehen konnten. Ilse jauchzte vor Freude, als die Mutter sie hoch hob. Die Kinder waren so perplex, dass sie wie betäubt mit offenen Mündern sitzen blieben. Aber das Strahlen in den Augen des Babys war ansteckend und spiegelte sich in ihren eigenen Augen wider.

Aufgeregt glucksten und tuschelten die Kinder hinter ihr, während Grete ihre Kleine fest auf ihrem Schoß hielt, als ihr Vater losfuhr. Wie friedlich hier doch alles war. Sie vermisste die Geschäftigkeit der großen Stadt kein bisschen und genoss es, zuzuschauen, wie sich die Mittagssonne im See spiegelte. Wie zwei Schwäne mit ihren Jungen sanft über das Wasser glitten. Das satte Grün der Bäume. Sie konnte sich gar nicht satt sehen an der Schönheit der ursprünglichen Natur. Vielleicht könnte sie mit Ludwig zusammen hier für ihre kleine Familie ein Zuhause schaffen. Nahe bei ihrer Großfamilie, die sie so sehr liebte. Sie würde dieses Wochenende nutzen, um ihre Eltern um Rat zu fragen und möglicherweise bereits Pläne zu schmieden.

Bei der Ankunft auf dem Hof war sie allerdings erst einmal überrascht. Sie hatte das Anwesen viel größer in Erinnerung. In U-Form waren die Gebäude errichtet. An der Stirnseite das Haus des Gutsherren und seiner Familie. Auf der linken Seite war das Gebäude, in dem das Personal wohnte. Ihre Familie lebte in der Wohnung, die direkt an das Herrenhaus grenzte. Sie bestand aus einem geräumigen Wohnraum mit einem Ofen zum Kochen und Heizen, einer Sitzecke mit vielen Stühlen und einer Schlafgelegenheit in einer Ecke. Das zweite, relativ kleine Zimmer, war ein reiner Schlafraum. Wenn sie darüber nachdachte, dass sie hier mit ihren Eltern und drei Geschwistern geschlafen hatte, war es für sie kaum mehr vorstellbar. Noch weniger vorstellbar war, dass nun ihre große Schwester Marie ebenfalls mit ihren vier Kindern hier lebte. Nachvollziehbar, dass es unmöglich war, nun auch noch Grete mit ihrem Baby aufzunehmen. Umso dankbarer war sie, dass zumindest ihre kleine Ilse vorübergehend hier wohnen konnte. Das Babybett stand schon im Schlafraum neben dem großen Bett ihrer Eltern bereit.

So eng es auch war – als sie kurze Zeit später alle zusammen bei einer Brotzeit im Wohnraum versammelt waren, spürte Grete eine tiefe innere Ruhe einkehren. Ihr Kind würde hier wohl behütet und mit viel Liebe aufwachsen. Sie war schon jetzt der Mittelpunkt der Familie, der Alt und Jung ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Mit ihren leuchtend grünen Augen strahlte sie so eine Klarheit und Freude aus, dass sie im Nu die Herzen der ganzen Familie erobert hatte.

Der Raum duftete nach frisch gebackenem Brot, reifem Käse und einem starken Kaffee. Die Kinder tranken Wasser oder Milch. Neben den eigenen Kindern kamen noch drei kleine Kinder der Arbeiter vom Hof dazu, deren Eltern beide um diese Tageszeit arbeiten mussten. Man half sich hier. Jeder war für den anderen da. Erst nachdem sie die gemeinsame Mahlzeit beendet hatten, kam auch Marie an der Tür herein und fiel ihrer kleinen Schwester in die Arme. Sie war zuständig für die Hauswirtschaftsarbeiten im Gutshaus. Im Wesentlichen musste sie kochen und die Kinder hüten, was ihrem von Grunde auf eher bequemen Wesen sehr entgegenkam. Für die härteren oder unangenehmen Arbeiten hatte sie die Unterstützung einer weiteren jungen Frau. Irgendwie hatte sie es mit ihrem Wesen geschafft, sich eine Art Vorarbeiterinnen-Status zu ergattern. Das kam auch ihrer Familie zugute, da sie hier und da schon mal etwas von den Vorräten mitbringen konnte. Heute war es eine Flasche Wein, die sie zur Feier des Tages mitnehmen durfte. Es hatte sich gelohnt, dass sie sich mit dem Essen besondere Mühe gegeben hatte. Heute Abend würden sie diesen köstlichen Tropfen gemeinsam genießen. Sie hatte noch eine Überraschung für ihre Schwester und konnte es kaum aushalten, bis zum Abend damit zu warten.

Gemütlich saßen sie bei einer Tasse Kaffee zusammen, ehe ihr Vater wieder an die Arbeit musste und die jungen Frauen ihrer Mutter in der Küche halfen. »Leg doch die Kleine etwas hin, sie scheint müde zu sein.« Ihre Mutter hatte Recht. Ilse rieb sich mit ihrer kleinen Faust die Augen und gähnte. Also nahm Grete die Tasche mit ins Schlafzimmer und zog den Reißverschluss auf. Ganz oben lag die Decke, die man ihr netterweise aus dem Waisenhaus mitgegeben hatte. Sie legte Ilse in das Bettchen, in dem vorher schon alle ihre Cousins und Cousinen gelegen hatten und rechnete damit, dass die Kleine augenblicklich einschlafen würde. Grete wollte die Zeit nutzen und die wenigen Kleidungsstücke, die sie für ihren Liebling hatte, in den Schrank räumen. Doch im Handumdrehen hatte Ilse sich von der Decke befreit und strampelte aufgeregt mit den Beinen. Obwohl sie die Augen kaum aufhalten konnte, fand sie nicht in den Schlaf.

»Ob sie Hunger hat?«, warf Marie ein, die im Türrahmen stand. »Ja, das könnte wirklich sein.« »Räum du nur weiter ein, ich mache ihr ein kleines Fläschchen fertig.« Grete nahm einige Stoffwindeln aus der Tasche und verstaute sie im Schrank. Dann kniete sie sich neben das Bettchen und streichelte Ilse sanft über den Bauch. »Hm, mein Liebling, gleich gibt es etwas für dich.« Schnell stand Marie mit der kleinen Flasche bereit und nahm Ilse wieder aus dem Bett. Sie machte es sich auf dem Bett ihrer Eltern gemütlich und bot Ilse die warme Milch an. Doch das Kind begann sofort lauthals zu schreien.

»Vielleicht war die Aufregung etwas zu viel für sie. Lass mich mal machen.« Grete nahm ihrer Schwester erst das Kind und dann die Flasche ab. Doch wieder drehte Ilse das Gesicht zur Seite und verweigerte schreiend die angebotene Mahlzeit. »Sie scheint keinen Hunger zu haben. Dann lege ich sie wieder hin und wir lassen sie erst einmal schlafen.« Es dauerte allerdings fast eine Stunde, bis Ilse endlich, nach langem Weinen, in den Schlaf gefunden hatte. »Sicherlich spürt sie die ganze Anspannung.« Ja, das dachte Gretes Mutter auch. Sie war froh, die Zeit der Ruhe zu nutzen, um sich mit Grete unterhalten zu können, als auch Marie nach draußen gegangen war, um die Horde von Kindern zu beschäftigen. Ganz entgegen ihrer Gewohnheit setzte sich ihre Mutter auf das Bett, das im Wohnraum stand. Sie hatte einen kleinen Teller mit 4 Plätzchen auf das Kopfkissen gestellt und klopfte auf den Platz neben sich, um ihre jüngste Tochter einzuladen, sich zu ihr zu setzen.

Gerne nahm Grete ihre Einladung an und kuschelte sich an die Seite ihrer Mutter. Die Decke, die am Fußende des Bettes lag, schlug sie beiden um die Schultern und stellte den Teller mit den Plätzchen auf den Schoß. Wortlos nahmen beide etwas vom Gebäck und saßen beieinander. Es war schön, den Duft ihrer Mutter einzuatmen und ihren warmen Arm zu spüren, der sie umschlang. Sie fühlte sich auf einmal selbst wie ein kleines Kind. Aber nicht hilflos, sondern behütet. Behütet im Schoß der Familie. Sicher. Geborgen.

»Weißt du noch, wie du und Ida versucht habt, mich reinzulegen, wenn einer von euch etwas angestellt hatte?« Grete musste lachen. »Ich weiß gar nicht, was du meinst«, antwortete sie mit unschuldigem Blick. Ja, sie und Ida waren sich wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten, so dass selbst ihre Eltern sie kaum auseinander halten konnten. Und erst Recht konnte es das Personal auf dem Hof nicht. Wenn eine von ihnen Mist gebaut hatte, so schworen beide, dass sie es gewesen seien. Manchmal wurden sie dann beide bestraft. Das war es ihnen wert. Aber oftmals war es den Erwachsenen einfach zu mühselig und sie ließen die ganze Sache im Sand verlaufen.

»Verrätst du mir heute, wer von euch beiden damals heimlich Papas Geburtstagskuchen angeknabbert hat?« Ihre Mutter sah sie prüfend von der Seite an. »Na, ICH natürlich«, erwiderte Grete lachend. »Ja, dasselbe hat Ida auch gesagt.« Lächelnd schüttelte ihre Mutter den Kopf. »Ich bin froh, dass ihr so zusammen haltet und ich wünsche mir, dass das immer so bleibt. Egal, was in eurem Leben noch passiert. Blut ist dicker als Wasser. Vergiss das nie!« Grete nickte und lehnte ihren Kopf an Mutters Schulter.

Nach einer Weile des Schweigens war Grete es, die das Wort ergriff. Sie berichtete ihrer Mutter von der Idee, in ihre Heimat zurückzukehren und sich eine Existenz aufzubauen. Diese wollte ihrer Tochter Mut machen, teilte ihr aber auch ihre Bedenken mit. Wie schwer es sein würde, etwas Geld anzusparen. Sie versprach jedoch, die Augen offen zu halten für eine Arbeit, die so gut bezahlt wäre, dass sie vorerst auch ohne Ludwig ihren Lebensunterhalt bestreiten könnte. Grete war bereit, hart dafür zu arbeiten, um sich etwas Geld beiseite zu legen. Sie war zuversichtlich und stark genug, dass sie einen Weg finden würde, um ihrer Familie nahe zu sein und selbst für ihre Tochter sorgen zu können.

Nicht einmal eine Stunde war vergangen, da hörten sie Ilse nebenan weinen. Grete nahm sie aus dem Bettchen und unternahm einen weiteren Versuch, ihr die Flasche zu geben. Vergeblich. Schreiend drehte Ilse den Kopf beiseite. Aber sie musste doch inzwischen hungrig sein. Warum nur nahm sie die Flasche nicht an? Kurzerhand packte sie die Kleine in einen Kinderwagen und spazierte eine ganze Stunde durch die Natur an diesem immer noch warmen Sommernachmittag. Einige der Kinder vom Hof waren ihr gefolgt und begleiteten sie. Dieses kleine, rothaarige Kind sorgte schon jetzt für Aufsehen. Tatsächlich ließ sie sich etwas beruhigen und reagierte aufmerksam auf die Spielchen und Fratzen der Kinder.

Zur Abendbrotzeit war sie zurück und Grete machte sich doch langsam Sorgen, da ihr Kind den ganzen Tag noch nichts getrunken hatte. Selbst Tee aus der Flasche lehnte Ilse schreiend ab. Bevor sie sich selbst an den Tisch setzte, machte sie einen erneuten Versuch. Da es mittlerweile frisch geworden war, zog sie eine Strickjacke ihrer Mutter über ihr Sommerkleid und nahm mit Ilse auf einem der Stühle Platz. Nichts. Unter lautem Geschrei verweigerte sie die Flasche. Grete überlegte, ob ihr vielleicht etwas weh tat und wechselte die Position. Wieder nur Schreien, das zwischenzeitlich aufgrund der schwindenden Kräfte in ein herzzerreißendes Wimmern überging.

Verzweifelt versuchte Grete es noch einmal im Schlafzimmer. Möglicherweise brauchte das Kind einfach Ruhe zum Trinken. Nichts. Marie steckte den Kopf zur Tür herein. Sie hatte den weißen Kittel an, da sie noch nicht mit der Küchenarbeit im Herrenhaus fertig war. Die kurze Pause, bis die Herrschaften gegessen hatten, wollte sie nutzen, um ihre Schwester daran zu erinnern, dass sie sich später mit der Flasche Wein im Heuschuppen trafen, um den gemeinsamen Abend zu feiern. Einige der Stallburschen und Arbeiterinnen des Hofes wollten sich zu ihnen gesellen.

Als Marie neben Grete auf dem Bett Platz nahm, hörte Ilse auf, zu weinen. Zur gleichen Zeit stand Elfriede im Türrahmen. »Darf ich die Kleine füttern?« »Besser nicht«, antwortete Grete, die froh war, dass sie wenigstens aufgehört hatte, zu weinen. Die Flasche nahm Ilse trotzdem nicht an. »Sie will nicht trinken und wir wissen nicht, warum.« Marie ging zu ihrer Tochter und Grete bot der Kleinen zur Demonstration abermals die Flasche an. Wieder reagierte Ilse mit Schreien. »Na, ist doch klar.« Elfriedes Worte machten sowohl Grete als auch Marie sprachlos. Amüsiert sah Elfriede von einer zu anderen und wartete, ob sie auf die Lösung kommen würden. Doch angesichts ihrer weinenden Cousine konnte sie es nicht lange aushalten.

»Gib mir deinen Kittel!», forderte sie ihre Mutter auf. Verwirrt blieb diese zuerst regungslos sitzen. Ilses Weinen brachte sie jedoch schnell wieder zurück in die Realität und so folgte sie der erneuten Aufforderung ihrer Tochter. Elfriede nahm den weißen Kittel, streifte sich ihn über und nahm neben Grete auf dem Bett Platz. Dann streckte sie die Arme aus mit der wortlosen Aufforderung an Grete, ihr das Baby in den Arm zu legen. Ratlos tat Grete wie erwartet und augenblicklich versiegten Ilses Tränen. Sie schluchzte noch einmal leise, wie sie es immer tat, wenn sie über einen längeren Zeitraum geweint hatte. Sobald Elfriede das Fläschchen in die Nähe des Mundes brachte, nahm die Kleine begierig den Nuckel auf und saugte kräftig an der Flasche. Das war des Rätsels Lösung: Die Schwestern im Waisenhaus trugen immer weiße Kittel und daran war Ilse gewöhnt. Nach der Aufregung des ganzen Tages und der spürbaren Unruhe ihrer Mutter brauchte die Kleine zumindest dieses Ritual. Zufrieden saß Elfriede mit der Kleinen auf dem Bett und genoss es, dass sie es war, die den Grund für Ilses Weinen herausgefunden hatte und bei der das Baby sich nun geborgen fühlte.

Grete war sehr dankbar für diese überraschende Wendung. Sie hätte nicht in Ruhe zurück nach Posen fahren können, wenn Ilse weiterhin die Flasche verweigerte. Nachdem die Kleine satt und frisch gewickelt war, schlief sie auf der Stelle ein. Inzwischen hatte auch Marie ihre Arbeit beendet. Sie goß ihren Eltern einen Schluck des Weins in die einfachen Wassergläser und stellte sie auf den Tisch draußen neben der Haustür. Die restlichen Gläser nahm sie mit in die Scheune. Johann, den Grete noch aus ihrer Kindheit hier auf dem Hof kannte, und Hans hatten bereits eine grüne Decke auf den Heuballen ausgebreitet und warteten auf die jungen Frauen.

Kaum hatten sie sich begrüßt und mit einem Schluck Wein angestoßen, wurde erneut die Scheunentür geöffnet. Im Lichtschein konnte Grete nur den Schatten einer jungen Frau erahnen, aber ihr untrügliches Bauchgefühl wusste sofort, wer dort in der Tür stand. Mit einem Freudenschrei stürzte sie auf ihre Zwillingsschwester zu und schloss Ida unter Tränen in die Arme. So lange hatten die beiden sich nicht gesehen. Marie hätte ihr an diesem Abend keine größere Freude machen können. Die Zwillinge waren wie Seelenverwandte und stets irgendwie in Kontakt, doch in diesen Zeiten wurde es schwerer und schwerer. Sich zeitgleich bei der Familie auf dem Hof zu treffen war nahezu unmöglich. Grete fühlte sich wie im siebten Himmel. Sie war wieder komplett.

Ihre Eltern saßen auf der Bank neben der Haustür und hörten ihre Mädchen lachen. Musik erklang aus der Scheune und beide freuten sich über den unbeschwerten Abend. Lange saßen sie draußen und lauschten den fröhlichen Liedern der jungen Leute. Schade, dass es nicht immer so sein konnte.

Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges

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