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9. AUGUST 1916 (MINUS 10.467 TAGE), MITTWOCH
ОглавлениеWillkommen in der Hölle!
Links und rechts von Vittorio spritzten Erde und Steine durch die Luft. Es war Mittwoch und die Schlacht dauerte nun schon fünf Tage. Fünf Tage, in denen sie zum ersten Mal etwas vorrücken konnten. Doch dann mussten sie wieder in die Stellungen zurück. Vor, zurück. Etwas vor, weiter zurück. Ein bisschen vor. Ein Todesreigen. Und das Leichenorchester spielte auf. Dazu trommelten die Kanonen, sie gaben den Rhythmus des Sterbens vor.
Mit jeder neuen Detonation drückte Vittorio Robusti sich noch fester gegen den Erdwall. Mehr Schutz gab es nicht. Er umklammerte sein Gewehr. Es war das Einzige, woran er im Moment Halt finden konnte. Der Befehl zum Angriff war schon vor Stunden gekommen, doch sie saßen in der Falle, wie schon so oft. Wer es nicht wahrhaben wollte, wurde von den Maschinengewehrsalven niedergemäht. Die österreichisch-ungarischen Verteidiger auf der anderen Seite hatten sich eingegraben, und von beiden Seiten pfiffen die Kugeln über den Fluss. Die schweren Geschütze rissen Löcher in die Erde. Seit Tagen hingen sie fest. Die Luft war mittlerweile schwer von dem vielen Pulverdampf. Die Hitze machte einem das Atmen fast unerträglich. Hinzu kam der süßliche Verwesungsgeruch, der sich mit dem Pulver und dem Rauch der brennenden Bäume und Leichen vermischt hatte und wie zähflüssiges Bitumen die Lungen verstopfte. Abgesehen vom Donnern der Haubitzen waren die Schreie der Verwundeten und Sterbenden unerträglich. Der Piemonteser aus seiner Einheit schien es ausgestanden zu haben. Er hatte aufgehört zu wimmern. Er war einer der Ersten, der mit lautem Hurra aufgesprungen war und den gleich die erste Salve von drüben zu Fall gebracht hatte. Vittorio hatte den Kopf eingezogen und sich sofort hinfallen lassen, als mechanisches Knattern eingesetzt hatte. Der Piemonteser hatte die Augen weit aufgerissen und war der Länge nach in den Graben zurückgekippt, die Uniform überall rot gesprenkelt. Er hatte ihn für tot gehalten, doch nach gut zwei Stunden hatte er wieder zu stöhnen und zu klagen begonnen. Nur Sanitäter waren keine gekommen. Die kamen erst, wenn die Todesmelodie der Maschinengewehre verstummt war. Jetzt war es zu spät. Das zählte nichts in diesem Krieg. Niemand holte die Verletzten, niemand holte die Toten. Seit Tagen schon nicht.
Vittorio zuckte zusammen. Eine Granate war wenige Meter vor ihm eingeschlagen. Der Druck der Explosion versetzte ihm einen Schlag. Sand und Erdreich bedeckten seinen Körper. Er wischte sich den Staub aus dem Gesicht. Offenbar hatte es der feindliche Posten genau auf ihre Stellung abgesehen. Sie lagen seit dem Morgen unter Beschuss.
»Psst«, hörte er von rechts. Neben ihm robbte sich Jacopo an ihn heran. »Wir müssen hier weg. Bald ist das alles in Dampf aufgegangen«, sagte er. Als er Jacopo betrachtete, sah er, dass ihm eine Kugel oder vielleicht durch die Luft geschleudertes Gestein sein linkes Ohr zerfetzt hatte. Nur mehr ein kleiner Fetzen blutiges Fleisch war von der Muschel geblieben. Das Blut auf Hals und Uniformkragen war eingetrocknet. Jacopo fasste ihn an der Schulter und drückte ihn hinunter. Der Graben war voll von Leichen. Es würde kein Leichtes sein, über die Körper der Kameraden zu robben, um von hier zu fliehen. Es war ein Schwimmen in einem Meer aus Fleisch und Knochen.
Jacopos Familie stammte aus Padua. Vittorio und er kannten sich von der Universität. Beide hatten dort vor dem Krieg ein Studium der Rechte begonnen. Im Gegensatz zu Vittorio, der sich freiwillig gemeldet hatte, war Jacopo eingezogen worden. Gegen seinen Willen. Alles hatte er versucht, um dem Kriegsdienst zu entkommen, doch seine Familie hatte zu wenig Geld, um ihn freizukaufen, also musste er an die Front einrücken. Während im Regiment einige glühende Anhänger des Risorgimento mit ihrem Leben dafür kämpften, dass Italien als Staat wieder erstarkte und an die einstige Größe anschließen konnte, haderten diese Feiglinge mit ihrem Schicksal, das jetzt verlangte, dass sie sich für ihr Vaterland einsetzten. Doch der Feigling Jacopo hatte einen untrüglichen Überlebensinstinkt. An seiner Seite schien es tatsächlich, als ob eine unsichtbare Macht Kugeln und Schrapnelle fernhielt.
Er war ein Streber. Vittorio hatte zwei Vorlesungen mit ihm besucht. In der ersten Reihe sitzend hatte er oft den Arm gehoben, um auf sich aufmerksam zu machen und den Vortrag des Dozenten mit seinen Fragen zu unterbrechen. Für diese Fragerei erntete er ein Kopfschütteln der anderen Studenten, doch ein Professor hatte tatsächlich milde gelächelt, war sie doch Beweis dafür, dass nicht alle Hörer sanft entschlummert waren. Im letzten Jahr waren die Gedanken ohnehin woanders gewesen. Keiner dachte an den Codice Civile, wenn es um die nationale Frage des Landes ging. Die meisten Politiker hatten sich feige gegen den Kriegseintritt Italiens ausgesprochen, doch das Volk hatte sie gezwungen umzudenken. Dazu hatte es Vordenker wie Gabriele D’Annunzio gebraucht, der mit der Macht des Wortes die Macht des Volkes entfachte und dann hatte wirken lassen.
Sie zogen beide die Köpfe ein, als eine Granate hinter ihnen explodierte und einen Regen aus grober Erde niedergehen ließ. Das Licht war gedämpft von dem vielen Rauch und dem Staub, der in der Luft hing. Von hinten setzte die eigene Artillerie ein. Salve um Salve wurde in Richtung Hügel abgefeuert. Die Einschläge ließen die Erde zittern. Die Krater wuchsen immer schneller im Rhythmus des Trommelfeuers.
»Wir haben Gorizia eingenommen!«, hallte es durch die Reihen der Italiener. Tatsächlich wirkten der Bombenhagel und das Donnergrollen, als ob es sich um das Aufbäumen eines sterbenden Tieres handelte, das im Todeskampf seine letzten Kräfte mobilisierte.
Vittorio schloss die Augen und dankte dem Herrn, der nun endlich ein Einsehen mit der Sache der Angreifer zu haben schien. Er lag da in seiner Deckung im Dreck, seine Uniform staubig und ramponiert. Risse und Löcher wie auch Flecken hatten dem ehemals grünen Stoff zugesetzt, sodass er nun aschgrau aussah wie die Gesichter der vielen Leichen um ihn herum. Auch seines hatte die Farbe in den vielen zermürbenden Stunden der letzten Tage verloren. Es ging nicht um Bodengewinn, das Einzige, wonach die Überlebenden seines Korps trachteten, war, weiter am Leben zu bleiben. Nur überleben! Die große Übermacht der italienischen Angreifer ließ das Oberkommando leichtfertig mit den zur Verfügung stehenden Soldaten umgehen, munkelte man. Auch dass die Erfolge nicht annähernd so groß seien wie die Verluste an Männern oder Material. Die einfachen Soldaten hüteten sich natürlich, so etwas laut zu denken, darauf stand Kriegsgericht. Aber einige Zeitungen hatten es geschrieben und die Leute auf der Straße, genau diejenigen, die noch vor wenigen Monaten mit lautem Hurra-Gebrüll auf diesen Krieg mit Österreich-Ungarn gedrängt hatten, zweifelten jetzt daran und brachten auf ebensolche Weise ihren Unmut zur Geltung. Vittorio hatten diese bösen Rufe zuletzt ebenfalls zugesetzt. Doch hier und jetzt, in der Stunde des Sieges, war sich Vittorio sicher, konnte niemand mehr zweifeln. Die öffentliche Entrüstung über diese zersetzenden Gedanken würde diese Schmierblätter wegfegen wie die Bora den Staub. Mit einem Mal sah er wieder den Sinn darin, hier zu liegen. Im Dreck, umgeben von faulenden Körpern. Er konnte wieder atmen, die Luft schien reiner, weniger drückend, und die Hitze war erträglich geworden. Vergessen waren der Schmerz und der Hunger, ebenso wie der Sand zwischen den Zähnen. Und seine Uniform (wie stolz hatte er sie getragen, als er in den Zug gestiegen war, mit einem Schlag zum Mann geworden) hatte wieder etwas von ihrem ursprünglichen Glanz erhalten. Er klopfte sich den Staub von den Schultern und empfand in diesem Moment nur mehr Verachtung für Jacopo, der sich zusammengerollt in eine Mulde gekauert hatte wie ein Wurm. Was war das für ein Waschlappen!
»Ssst!«, zischte dieser in Vittorios Richtung, doch das Mörserfeuer übertönte in dem Moment jegliches andere Geräusch. Jacopo drückte jeden Zentimeter seines Körpers tief in die Erde, während es Vittorio juckte, endlich aufzuspringen und mit einem »Viva l’Italia« loszustürmen, die feindlichen Reihen zu durchbrechen. Er sah sich mit gezücktem Säbel einen Österreicher nach dem anderen niederhauen. Doch diese Kriegsromantik, dieser Traum vom Kampf Mann gegen Mann, war hier und jetzt vorbei. Hier siegte der, der am Ende noch Soldaten hatte, um das Artilleriefeuer länger am Lodern zu halten. Vittorio holte tief Luft, hinter einem Stein richtete er sich langsam auf, kam auf dem einen Knie zu ruhen, während der Fuß bereit war, seinen Körper hochschnellen zu lassen.
»Ssst!« Jacopos Zischen drang endlich an sein Ohr. Der hatte sich zu ihm hingedreht und sah ihn aus geweiteten Augen an. Es war plötzlich still geworden. Die Granaten schwiegen. Entfernt hörte man den Wind durch die Bäume streichen und ganz leise das sterbende Wimmern der Verwundeten. Mit der Hand bedeutete er Vittorio beinahe zornig, sich wieder hinzulegen. Er blickte sich zu seinen Kameraden um. Sie hatten ihre Deckung verlassen und schritten vorsichtig, die Waffe im Anschlag, vorwärts. Links und rechts von ihm, etwas vor und auch hinter ihm gingen sie langsam auf die Stellung der Verteidiger zu. Nur das Rauschen der Blätter auf den Bäumen am nahen Ufer war zu hören, sogar das Wehklagen der Verwundeten schien aufgehört zu haben. Vittorio erhob sich ebenfalls und ging los. Da setzte das Pfeifen eines Lufttorpedos ein und das Blitzen des Sperrfeuers baute sich vor den Angreifern auf wie eine tödliche Wand, durch die keiner gelangen konnte. Der schwarze Rauch der Ekrasitgranaten stieg in Säulen in den Himmel. Es brodelte wie in einem Hexenkessel, der Gestank kam direkt aus der Hölle, und bald war das Schlachtfeld zu einem Inferno geworden. Ein Italiener nach dem anderen wurde umgemäht. Wer konnte, suchte Schutz in den Kratern, die die Geschosse in den steinigen Boden gerissen hatten.
Als sich von hinten der Hufschlag eines Pferdes näherte, hörte Vittorio noch, wie der Melder sagte: »Die Österreicher haben sich zum Bahnhof zurückgezogen, wir müssen weiter zum Bahnhof!«, dann waren ein Schlag gegen seinen Körper und eine verzehrende Hitze der letzte Eindruck, den er für Sekunden wahrnehmen konnte, bevor er in ein dunkles Loch fiel.
Die Wärme war die Umgebung, die ihn beschützte und zugleich erdrückte. Zwei große schwarze Augen, so dunkel wie die Nacht, starrten ihn an, dann begann er zu schweben.