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6. APRIL 1945, TAG NULL, FREITAG

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Durch die Luke in der Holztür zwängte sich ein schmaler Streifen Licht in die Zelle und schenkte den Insassen Hoffnung. Die Nacht war vorbei. Ein neuer Tag hatte begonnen, und das bedeutete, dass sie den alten überstanden hatten.

Doch auch dieser Tag fand seinen Anfang in einem Schrei. Ein Schrei, der klang, als versuchte die Stimme, diesen gequälten Körper zu verlassen. Eine Flucht hinaus und weg von dem Ort der Schmerzen.

Und da kamen vom Hof noch andere Schreie: Die ukrainischen Wachen rülpsten sie aus ihren betrunkenen Kehlen. Es waren Hetzrufe, bissig wie scharfe Hunde, denen man die Kette abgenommen hatte. Sie bohrten sich in die Gehirne der Gefangenen.

Pino griff nach seiner Jacke und tastete sie vorsichtig ab. Es brauchte seine Zeit, bis sich ein leichter Widerstand unter dem Stoff gegen den sanften Druck seiner Finger stemmte. Sie würden es nicht finden, machte er sich Mut. Mit dem Anflug eines Lächelns streckte er sich auf der Pritsche aus. Vorsichtig, damit ihn die Prellungen nicht schmerzten.

Unter ihm regte sich Stipe. Der stöhnte, als er seinen Körper auf die Seite drehte. Auf ihn hatten es die Aufseher gestern besonders abgesehen. Er hatte die lauteste Stimme. Und die schönste.

Die abgestandene Luft in dem engen Kabuff roch sauer. Nach Schweiß und nach Urin. Es kam vor, dass man es nicht mehr halten konnte, wenn sie einen in eine Ohnmacht prügelten. Hier störte das keinen mehr und die freute es, wenn einer in seinen eigenen Exkrementen krepierte. Es war eng, so eng, dass man kaum atmen konnte, aber sie waren unter sich, und keiner von ihnen, die das Schicksal so boshaft zusammengeführt hatte, zählte mehr als fünfundzwanzig Jahre.

Vielleicht hätten sie ihn gehen lassen. Vielleicht würden sie ihn sogar jetzt noch gehen lassen. Er hatte Häuser bauen wollen. Groß und eindrucksvoll wie das Empire State Building in New York. Doch er würde New York nie sehen, nie würde sein Fuß amerikanischen Boden betreten. Feindesland jetzt. Dabei gab es dort die besten Architekten, Menschen, die bereits die Zukunft bauten. Und er lag in einem engen Bretterverschlag, der in die alte Fabrikshalle hineingezimmert worden war. Die Deutschen waren gute Planer, wenn es um die Architektur des Todes ging. Und wenn es darum ging, halb Europa die Zukunft zu nehmen. Perfektion der Vernichtung.

Draußen wurden weitere Stimmen laut. Ein herrisches Bellen – für nichts anderes hielt Pino die in der harten, fremden Sprache geschrienen Kommandos – hallte durch den Hof des Backsteinbaus, und das Poltern der Schaftstiefel über die Steine, wenn die Soldaten zum Morgenappell liefen, verstärkte die einsetzende Hektik.

»Sie kommen uns holen«, sagte Stipe von unten. Er streckte den Kopf vor und Pino konnte in seinem Gesicht die Angst vor dem Ungewissen ablesen. Kein Glanz in der Stimme und keiner in den Augen. Zwei tote Punkte in einem fahlen Gesicht, dessen Muskulatur schlaff, aber nicht entspannt war.

»Ich habe auch Angst«, sagte Pino, um dann nachzuschieben: »Aber bald ist es vorbei. Dann sind wir frei.« Er lächelte, und seine Lippen zitterten, als wehrten sie sich gegen diese Lüge. Sein Herz zitterte ebenso, als ahnte es den Preis der Freiheit. Draußen zitterten die Luft und auch der Boden, es zitterte einfach alles.

Die Nacht war Pino Robusti wach gelegen, hatte darüber nachgedacht, was er noch alles hätte sagen wollen, was er noch alles hätte tun wollen, was er Laura hätte sagen wollen, was er mit Laura hätte tun wollen. Er sah ihr Gesicht. Er dachte an ihren Geruch, ihre weiche Haut. Er hoffte, sie würde bald in ein neues Leben finden.

Er dachte an seine Eltern. Für sie würde es keinen Trost geben. Ihr restliches Leben lang würden sie die Trauer mit sich schleppen müssen. Er fühlte sich schuldig, weil er es hatte so weit kommen lassen, weil er nicht versucht hatte einzulenken, sich zu retten. Weil es ihn mit Stolz erfüllt hatte, dass er ein politischer Häftling war, einer, der sich gegen dieses Regime gestemmt hatte, der mit dem Einsatz seines Lebens gegen die Deutschen gekämpft hatte. So wie sie alle hier auch. Wenn er nur nicht diese Scheißangst hätte …

Der Junge in der Zelle nebenan – Pino schätzte ihn auf vielleicht sechzehn Jahre – hatte die ganze Nacht über gewimmert. Wiederholt hatte er nach den Eltern gerufen. Er verstand zwar nur schlecht Slowenisch, aber jeder hätte mitbekommen, wem dieses weinerliche Flehen gegolten hatte. Die anderen hatten versucht ihn zu trösten, hatten ihm mit rauen Stimmen ruhig zugeredet und so getan, als hätten sie alles das schon einmal hinter sich gebracht. Als wäre der Schrecken geringer, wenn man Erfahrung damit hat.

Die Tür flog auf. Mit einem Knallen wurde eine Holztür nach der anderen aufgerissen. Sie traten nacheinander hinaus, so wie sie es die letzten Tage schon gemacht hatten. Und das schon seit Wochen. Wochen, die den Übergang in ein neues Leben bedeuteten, nachdem Pino so brutal aus dem alten gerissen worden war. Egal wie geordnet sie standen, aufgefädelt wie die Zinnsoldaten, die Wärter prügelten mit ihren Stöcken auf sie ein und befahlen, gerade zu stehen, in Reih und Glied. Sie schimpften und pöbelten sie an. Man musste dazu kein Deutsch verstehen, der Tonfall war Beleidigung genug. »Saubande! Elendes Pack, verfluchtes!«

Pinos Hintermann, dem einer der Wächter einen Stoß in den Rücken gegeben hatte, rempelte ihn an der Schulter und Pino musste einen Schritt zur Seite machen, was ihm selbst wieder einen Schlag von einem anderen Wachmann einbrachte. Schnell reihte er sich wieder ein. Wieder blitzte kurz die Idee in ihm auf, sich zu wehren, sich dem Zwang zu widersetzen. Sich vor den SSler zu stellen und ihn direkt anzublicken. Mit einem Leuchten in den Augen würde er lächelnd sagen: »No!«

Doch dann würden sie ihn aus der Reihe zerren und wieder so lange verprügeln, bis ihm die Sinne schwanden, und es wäre wieder nicht ausgestanden. Abermals würde er in der Zelle warten müssen.

Der Zug aus Gefangenen bog vom Gang in den großen Hof. Das Licht blendete die Männer nach den langen Stunden in der Dunkelheit. Einige hielten sich schützend die Hände vor die Augen. Auch Pino blinzelte. Er sog die Luft ein, die nach Frühling roch. Er dachte an die ersten gelben Blüten auf dem steinigen Karstboden, an den Duft von Salbei, der vom Wind in die nahen Dörfer getragen wurde. Sie sahen die Wand, die voll von Einschusslöchern war. Instinktiv rückten die Männer zusammen wie eine Herde, die eng aneinandergedrückt ein drohendes Unwetter zu überstehen hofft.

Die Sonne entflammte die roten Ziegel der ehemaligen Fabrik, und in den blinden Fenstern, da, wo es noch Glas gab, brach sie sich. Die Henker hatten ein anderes Feuer entzündet. Seit Tagen schon stieg Rauch aus dem Schlot in den Himmel. Dann rief einer der Schergen: »Marsch, marsch, ihr Banditen, in Zweierreihen antreten!«

Das Empire State Building war das höchste Gebäude der Welt. Dreihunderteinundachtzig Meter ragte es in den Himmel, mit Antenne kratzte es sogar mit vierhundertdreiundvierzig Metern an den Wolken. Nichts auf der Welt, von Menschen geschaffen, war so hoch. Diese Höhe konnte es nur erreichen, weil man einen speziell mit Eisen verstärkten Beton für den Bau verwendet hatte. Es war im Stil des Art déco und in der Rekordzeit von nicht einmal zwei Jahren errichtet worden, geplant vom Architekturbüro Shreve, Lamb und Harmon. Er sagte sich diese Daten vor, als würde er eben geprüft werden. Dabei würde er vermutlich das Bauwerk niemals sehen, und auch niemals darüber geprüft werden. Das schien sich nun mit einer heimtückischen Gewissheit abzuzeichnen.

Das Tor wurde aufgerissen. Das Tor, das den Weg in die Freiheit oder den Weg in die Gefangenschaft bedeutete. Je nachdem, von welcher Seite man es betrachtete und in welche Richtung man ging. Ein grau lackierter Mannschaftswagen fuhr in den Hof. Pino atmete durch. Vielleicht machten sie wieder einen Ausflug.

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