Читать книгу Gott im Hotel - Platsch Anna - Страница 6
sri lanka mein heiliger anarchist
ОглавлениеDER PAZIFIK IST SEHR BLAU, SCHRIEB Thomas Merton, als im Oktober 1968 sein Flugzeug in San Franzisco Richtung Asien abhob. Der Pazifik ist sehr blau …
Und dass er bei dieser Reise ein tiefes Gefühl von Schicksal hätte, nach den langen Jahren des Wartens und Suchens endlich auf dem richtigen Weg sei und er nicht wiederkommen möge, ohne das großartige Anliegen vollbracht zu haben.
Er war einer der großen Mystiker des vorigen Jahrhunderts, und er hat mich hierhergeführt, in der Intensität, in der das Verborgene trägt und das Hotel gleich in seinem Geist atmet …
Unser Zimmer ist eine ‚einfache‘ Hütte auf Stelzen, den Cabañas, ins Land des Komfort gefallen. Aus regionalen Hölzern, mit Terrasse und warmem Wasser, sehr ästhetisch. Im reichgestalteten Dschungelgarten, Zuckerpalmen, Kokospalmen, Bananenbäume und Blick auf den Indischen Ozean. Ein Palmen-Paradies-Hotel.
Es war keine langgeplante Reise, Jakob und ich hatten noch zwei Wochen vor Weihnachten Zeit für eine wärmere Region der Welt. Und da wusste ich, wohin ich wollte.
Ich bin Thomas Merton schon vor vielen Jahren in seinen vielen Büchern begegnet und eines davon war sein ‚Asiati- sches Tagebuch‘.
Nach dem frühen Tod seiner Mutter und seines Vaters, Umzügen von Großvätern zu Paten und Internaten, landete er letztlich in New York, um dort nach seinem Studium als Poet, Schriftsteller, Journalist, Karikaturist ein wildes Bohemien-Leben zu führen. Bis etwas in ihm innerlich anstieß, drängte, rief – und er katholisch wurde. Mit fast dreißig Jahren trat er dann als Novize in das Trappistenkloster Gethsemani in Kentucky ein. In seinem ganzen Entwicklungsweg folgte er seiner inneren Wahrheit, immer mit einem Geschmack von Wildheit, auch in seinem weiteren Leben als Mönch.
Er lebte in diesem kontemplativen Orden nicht nur still und schweigend, sondern arbeitete weiter als Schriftsteller, und nachdem er – auf Geheiß seines damaligen Abts – auch seine Biografie schrieb, wurde er ein berühmter Mann. Das Buch wurde ein Bestseller. Eine weltweite Korrespondenz mit Persönlichkeiten seiner Zeit entstand daraus, er hielt Vorträge, wurde eingeladen, unterrichtete die Novizen, hatte einen Sekretär, und schrieb, las und schrieb …
Und suchte und suchte bis auf den Grund allen Seins und hatte ein brennendes Bedürfnis nach Einsamkeit – bis ihm nach zwanzig Jahren sein damaliger Abt erlaubte, sich eine Klause außerhalb des Klosters zu bauen. Ich sehe ihn, wie er morgens seine Hütte verlässt und nach draußen geht, im ersten Schimmer des heraufziehenden Tages, sich öffnend, äußeres Licht, inneres Licht sind eins. Er lauscht dem ersten Hirsch des Morgens, wie er sich langsam nähert, ganz scheu lauscht, dem Wald, der weiten Landschaft von Kentucky, so frisch wie eben erschaffen. Dieser eine Moment des Tages – die Morgendämmerung. Wenn die Welt still ist und das neue Licht ganz rein.
Nur – auch in seinem einfachen Häuschen am Waldrand, oberhalb des Konvents, lebte er die Einsamkeit nicht. Er hielt die umfangreiche Korrespondenz aufrecht, Besucher kamen und gingen nicht, der Nachbar schaute vorbei, es ist laut, er gibt Interviews.
Und doch gab es Raum, seine Gottesdienste nun allein zu feiern, er ging so wenig wie möglich nach unten in die Abtei, er hielt seine Gebete und Meditationen des Tages, die der Nacht und die nach seinem inneren Rhythmus und vor allem dem der Natur. Er las und schrieb unaufhörlich weiterhin Bücher – bis zu seinem Lebensende ungefähr siebzig –, schrieb fortlaufend Tagebuch, sowohl als Forscher, Mystiker und Weiser als auch über die Erfahrungen seines inneren Wegs. Und wenn niemand kam, wurde er still in der ersehnten Zeit der Einsamkeit, ging morgens vor Sonnenaufgang nach draußen an den Waldrand und wartete auf den ersten Hirsch …
Viel seines Lesens und Schreibens entsprang seiner brennenden Suche nach dem mystischen Kern auch in anderen Religionen. Er war durstig nach den uralten Quellen von Visionen und Erfahrungen, die er in seiner Korrespondenz mit den Wissenden und Weisen seiner Zeit teilte. Diese Offenheit allem gegenüber brachte ihn zu einem tiefen Eintauchen in die Essenz anderer Wege zum Göttlichen, dem Sufitum, dem Hinduismus und in den letzten Jahren in den Buddhismus und Zen.
So kam es, dass er – seit langem Bruder Louis – mitten in seine Eremitenklause hinein eine Einladung zu einer Konferenz nach Bangkok bekam – er war da schon dreiundfünfzig und weltbekannt –, um auf einem großen Kongress einen Vortrag zu halten. Sein Abt unterstützte ihn, und so plant er vor und nach der Konferenz in Asien herumzureisen, christliche Gemeinschaften und Klöster zu besuchen, Gelehrte, buddhistische Mönche und den Dalai Lama zu treffen; gerade das mönchischen Leben und den Weg der Verwirklichung in deren Praxis möchte er verstehen. Es ist ein sehr genau geplantes Programm mit vielen Stationen und Begegnungen.
Und bevor er nach Thailand fliegt, für seinen Vortrag, macht er nach einigen anderen asiatischen Stationen eine Rundreise durch Sri Lanka, damals noch Ceylon. Er landet am 29. November in Colombo.
Ich lande ein paar Tage und fast fünfzig Jahre später am selben Flughafen. Nicht, um das zu erleben, was er hier erlebte, darum geht es mir nicht.
Ich vertrage das feuchtwarme Klima nicht. War schon erschöpft, als ich hier ankam, falle in die Dumpfheit hoher Luftfeuchtigkeit und sitze erst einmal auf der Veranda im reichgestalteten Dschungelgarten und Blick auf den Indischen Ozean, dessen Bewegung ich hinter den Palmen im leichten Wind wahrnehme, und falle in das Grün dieses wildgehaltenen Parks. DAS Licht, das grün wird im Scheinen durch die Kreatur …
DAS Grün.
Nach drei Tagen Mango-Lassi, Schwimmen, abendlichen Strandläufen und dem Testen Sri Lankesischen Essens bin ich angekommen und wir beginnen, die Gegend zu erforschen. Erst einmal mit einer Auto-Rikscha in den nächstgelegenen Ort. Es ist Sonntag, Markt und Farbenfülle. Alles intensiv. Vom Zentrum des Ortes aus streifen wir durch die verwinkelten, lauten Gassen zum Meer runter und da sehen wir’s – wir sind in einer Region, die heftig vom Tsunami betroffen war. Neben wiederaufgebauten Häusern stehen die eingefallenen, neben den Fischerbooten am Strand liegen die hochgeschleuderten, inzwischen verrotteten zwei Straßen hinter dem Strand. Jetzt weiß ich, was ich die ganze Zeit unterschwellig wahrgenommen habe – auch wenn es schon viele Jahre her ist, liegen der Schrecken noch in der Atmosphäre, Trauer und Trauma in den Augen vieler Menschen. Die Bewohner hier haben die Katastrophe erlebt, Angehörige verloren, ihren Besitz, viele Fischer ihre Arbeit. Zwischen den Stämmen zweier Palmen an der Uferstraße, neben einer kleinen Fischtaverne, hängt ein handgeschriebenes Schild mit allen Zahlen – wie viele Tote, Verletzte, Heimatlose, Vermisste, zerstörte Häuser, betroffene Familien.
Zurück in unserem Paradiesgarten frage ich den Eigentümer, ein Deutscher, ehemaliger Zahnarzt, der sich hier sein Paradies geschaffen hat, ob er auch betroffen war. Wegen der leicht erhöhten Lage des Hotels und dem Einfallwinkel der Welle war er verschont geblieben. Und er erzählt von der Hilfsbereitschaft der Welt und der vor Ort. In seinem Hotel waren alle Hüttchen und Bungalows Stationen der unterschiedlichsten NGOs, er versorgte deren Mitarbeiter in seinem Restaurant, stellte Verbindungen her, wo es notwendig war und gelang. Er erzählt leise, zurückgenommen. Ich spüre, wie froh er ist, dass er – der Nicht-Betroffene – immerhin helfen konnte.
Überall, wo Merton auf seiner Reise hinkam, stand er im Mittelpunkt. Nicht, weil er ein berühmter Mann war, sondern wegen seiner Einfach- und Offenheit allen gegenüber und weil auch er alles geben wollte, was er hatte. Und er hatte viel. Er wollte nachvollziehen können, welche und wie vor allem andere Wege in das tiefste EINE führen. Es war ihm wichtig, die Menschen in ihrer Religion zu verstehen. Aber viel wichtiger ist das Teilen der Erfahrung des göttlichen Lichts. Das war die Basis seiner Begegnungen.
Was auch natürlich hieß, dass nicht alle aus seinem katholischen Hintergrund damit einverstanden waren. Aber ich kann’s nicht mit Formalisten, ich bin denen fremd und sie mir. Für ihn gibt es auf einem mystischen Weg keine Norm, das eine schloss das andere per se aus. Der Weg hatte bei ihm etwas mit radikaler Freiheit zu tun und so lebte er ihn auch. Diesem Aspekt in ihm zu begegnen nährt mich bis in das tiefste Licht meiner Seele, diese Radikalität stößt immer wieder etwas so Tiefes, Süßes, Wahres, Urlebendiges in mir an.
Am nächsten Morgen fahren wir mit einem dieser stinkenden, wackligen Gefährte über abenteuerliche Windungen zu einem der abertausend Tempel Sri Lankas. Wir wurden vor den zweihundert Stufen und den vielen Leuten gewarnt. Die Stufen gehen leicht und die vielen Leute haben sich heute wohl in ihren Häusern versteckt. So haben wir den ganzen Tempel fast für uns alleine. An der Seite des weiten Vorplatzes, am Ende der Treppe, steht einer der riesig-gewachsenen Bodhi-Bäume. Auf Sri Lanka gibt es einen Ableger des Baumes in Bodhgaya, und von diesem wieder einen und vor jedem buddhistischen Tempel wieder einen. Ich kaufe ein paar Frangipaniblüten. Diesem Duft kann keine widerstehen. Beides, den Duft und die Blüten, lege ich dem goldenen Buddha in die offenen Hände. Einige junge Mönche sitzen auf dem Mäuerchen um die Terrasse oder kehren mit einem selbstgebundenen Strohbesen, der mit Leichtigkeit viel Staub aufwirbelt, den Platz vor dem Tempel.
Einer lehnt an einer Säule und lächelt. Vielleicht ist es jenes Lächelns seiner Verwirklichung oder wenigstens seines Versuchs dazu. Das Lächeln des Weitergebens. Oder einfach eines der Freundlichkeit. Nach einem guten Eintrittsgeld verscheucht uns der Aufseher nicht aus unserer stillen Ecke für eine kurze Meditation.
Ich fühle mich in einer leisen Weise von Bruder Louis begleitet, bekomme, ohne dass ich darum bitte, einen Geschmack dieser Kühnheit, diese Erinnerung daran, dass ich, wenn ich bereit bin, nie zur Mystik von jemand anderem passe. Bin ich bereit? So abgrundtief der innersten Wahrheit und Freiheit zu folgen?
Es ist still und reich hier oben. Die Betenden vor uns haben ihre unsichtbaren Spuren hinterlassen.
Am Abend begegnen wir auf dem Hotelgelände Raji, dem Fahrer, der uns vom Flughafen abgeholt hat, und ich frage ihn, ob er uns mal einen Tag nach Polonnaruwa bringen könnte. Er schaut mich an, als hätte er mein Englisch nicht verstanden. »Polonnaruwa«, wiederhole ich. »That’s not possible.« Und ich Blauäugige ernte gerade die Früchte einer schnellen, schlecht vorbereiteten Reise. Mir war nicht bewusst, wie groß diese Insel ist und wie weit es von einem Ort zum anderen sein kann. Acht Stunden Fahrt, auf diesen Straßen, an einem Tag hin und zurück – das ist es nicht.
Wenn das nicht, was dann. Wir gehen erst einmal zum Abendessen und lassen die Information im etwas schumm- rigen Licht zwischen uns schweben. Offen für das, was kommt.
Und da kommt es schon. Wir haben noch nicht einmal aufgegessen, da setzt sich Raji zu uns und macht einen Vorschlag. Eine Viertagesreise mit ihm am Ende unseres Hierseins. Jeden Tag eine Annäherung an mein Ziel, er würde uns viel zeigen unterwegs, die Hotels besorgen und am vierten Tag würden wir rechtzeitig in Colombo landen für unseren Heimflug.
Ich freue mich über die neue, überraschende Variante, vor allem, dass es so aussieht, als würde mir das Ziel meiner Reise nicht verborgen bleiben. Zwischen Jakob und mir reicht ein Blick. Drei Dinge müssen wir noch klären – was es kostet, ob wir früher aus unserer Hotelbuchung herauskommen und ob Raji ein zuverlässiger Fahrer ist.
Es ist still auf unserer Veranda. Ich habe ein paar Blüten von der Straße mitgebracht und sie in einem Kreis um die Kerze herum auf den Tisch gelegt. Der Ozean scheint in der Nacht ferner. Ein Käuzchen ruft in den Kokospalmen. EINE Anwesenheit. Es ist verborgen und auch manifest.
Auch Bruder Louis ist anwesend. Seine große Kraft im kleinen Garten des großen, terrestrischen Dschungels. Vielleicht lauschst du mit mir dem Meer. Und wenn du sprichst, brichst du nicht die Stille, du lässt die Stille zu Wort kommen. Gott liebt es, in deiner Seele zu sein, meint er. Du erzählst vom Tief-Hinhorchen. Auf das zu horchen, was vor sich geht. Dann wird alles zum Gebet.
Gott im Hotel und er und ich mit offenem Herzen.
Du hast an so vielen Kirchenmauern gerüttelt, du warst politisch und sozial engagiert, gegen den Vietnamkrieg, für die Gleichberechtigung der Schwarzen und Sorge für die Armen, dass ein paar gute amerikanische Katholiken deine Bücher verbrannten und dich gottlos nannten. McCarthy hat auch schon mit den Füßen gescharrt. Für dich ist der Weg der Mystik überhaupt die Basis, aus der heraus das Handeln in der Welt erwachsen kann.
Du siehst auf deiner Reise all die Schönheit der hiesigen Frauen, die Waschenden am Fluss, die Teepflückerinnen, das Lächeln der Stewardess, wo sich deine theologischen Mitstreiter nur zur Seite drehen würden und kein Wort in ihren Texten erschiene. Du unerbittlich-liebender Visionär.
Die wirklich wichtigen Schritte schließen das Risiko des vollständigen Scheiterns ein.
Ich sehe dein Schmunzeln im Dunklen.
Der Anfang der Liebe ist Wahrheit.
Ich wache früh auf, sehr früh. Ich sehe die Hirsche nicht, aber vielleicht die Elefanten. Können wir sie noch besuchen, bevor wir zu unserer Rundreise aufbrechen? Es gibt so viele Naturreservate auf Sri Lanka, in denen noch der etwas kleinere Asiatische Elefant wohnt. In eines davon, schön und ausführlich im Reiseführer beschrieben, wollte ich fahren. Und – natürlich wieder eines, das viel zu weit entfernt ist. Aber unser Hotelbesitzer ist sehr hilfsbereit. Seine Frau hat im Lauf der vielen Jahre hier wohl diese Seite des Lebens verloren. Aber er scheint es gerne zu übernehmen. Also – alles perfekt.
Es gibt ein Reservat, das viel näher liegt, nicht so groß ist, was aber auch heißt, weniger überlaufen. Man kann da nicht einfach so hinfahren, man muss sich anmelden, vor Ort einen Führer haben, und jemanden – wahrscheinlich Raji –, der uns hinfährt, das geht nicht mit einer Rikscha. Im Handumdrehen hat er schon alles organisiert. Wie einfach.
Zwei Tage später steht Raji morgens um sechs bereit. Wir fahren eine Stunde in den sich nähernden Tag hinein. Man muss morgens bei den Tieren sein, wenn sie an den Wasserlöchern sind und nicht im Schatten versteckt. Und das Glück kommt schon wieder zu uns – wir sind die beiden einzigen im Jeep des Reservats zu dieser frühen Stunde und haben einen wunderbaren Führer, der nicht nur sein Wissen teilt und uns auf die gerade auftauchenden Tiere – da, ein Krokodil, da, ein Waran – hinweist, sondern – und das ist wunderbar –, wenn wir einem Tier nahe sind, dann macht er den Motor aus und bleibt stehen. Still ist es, für eine ganze Weile. Ich kann, trotz dieser absurden Situation, dass ich da mit dem Auto durch den Lebensraum eines Wesens fahre und es anstarre, diesen Raum spüren, seinen Atem. Dort, die Muntjaks, die asiatischen Hirsche. Doch Hirsche am frühen Morgen … Es ist eine teils trockene Landschaft, teils Dschungel, wieder Raum für die unterschiedlichsten Sträucher und große, alleinstehende Bäume, frisches Gras mit Blumen und Wasser.
Und ich bin in dieser Landschaft, als wäre ich allein mit allem. Allein mit jenen Elefanten. Ich kann ganz genau mit ihnen sein. Und dann nehme ich etwas wahr, was ich noch nie gesehen habe – sie haben Samtfüße. Ganz zart, bei jedem Schritt trifft auf den harten Boden ein weicher Fuß. Und er erweicht mein Herz so tief, dass ich eingetaucht bin, verbunden mit feinsten Elefantenwesen.
Wir bleiben bei unserer Runde noch bei einigen anderen Tieren stehen, bei kleinen Füchsen zum Beispiel mit staunenden Augen. Unser Ranger gibt uns sein Fernrohr für den Adler und kleine Pelztiere im Gebüsch, wir treffen die Wasserbüffel, nur ihre halbe Schnauze mit den beiden großen Nasenlöchern schaut raus, dann die großen, runden, dunklen Augen, die in tiefer, schwarzer Schönheit von ihrem Dasein und der grundsätzlichen Liebe des Lebewesens erzählen, und darüber die frei geschwungenen Hörner. Schweigend ziehen sie in einer großen Herde über den See.
Und ich freu mich über die nächste kleine Herde von Elefanten, ein paar Mütter, ein paar Junge unterschiedlichsten Alters. Und – Sensation, weil sehr selten gesehen, der Ton des Rangers wird ganz aufgeregt – ein einsamer Elefantenbulle. Sie sind allein, nachdem sie ihrer Natur gefolgt sind, die Familie geht ohne sie ihren Weg. Wir bleiben bei ihm stehen, hören ihn die Zweige brechen und die Weite, die ihn umgibt, in der er lebt.
Und noch eine kleine Herde, der Ranger kann es kaum fassen. All diese Mütter und Kinder. Wir bleiben eine Weile mit ihnen.
Das Wesen des Elefanten schenkt sich mir in seinen Füßen.
Ich sollte Ranger oder Elefant werden …
Bevor Merton von Indien hierher nach Sri Lanka kam, traf er in Dharamsala dreimal den Dalai Lama für einen sehr intensiven Austausch. Er wollte so brennend aus den tiefen Quellen anderer monastischer Visionen und Erfahrungen trinken, sie in sich erleben. Der Dalai Lama meinte später, er wäre noch nie in einer Begegnung mit einem Christen so tief von einem Gefühl von Spiritualität ergriffen gewesen. Es sei Merton gewesen, der ihn in die wirkliche Bedeutung des Wortes ‚Christ‘ eingeführt hätte.
Wir haben alles geklärt und verlassen vier Tage vor unserem Abflug das Palm Paradise. Gott hat jetzt einiges zu tun – jeden Tag ein neues Hotel. Für ihn ein Leichtes, für mich jetzt nicht so ganz.
Raji fährt uns schon früh morgens mit seinem ehrwürdigen Mercedes in Beigemetallic vorbei an Reisfeldern, gebückten Männern, einem auffliegenden Reiher, die Flügel in einem eleganten Schwung, gebückten Frauen, pickenden, staksenden Reihern und Obstständen am Rand der Landstraße. Obst ist das eine, Stände das andere, es sind ein paar zusammengenagelte Bretter zum Abgrund neben der Straße hin und dem Staub nach vorne zur Straße. Sie sind so gebaut, dass die Händler den ganzen Tag und die halbe Nacht dort wohnen können. An einem gibt es Jackfruits, die größte Frucht der Welt. So unwissend wie ich bin, hätte ich mir jetzt nicht unbedingt selber eine gekauft, also hält Raji vor einem Stand. Wir gehen zwei Stufen nach unten auf die schwebende Holzplattform und werden von einem älteren Paar herzlich, freundlich, liebenswürdig empfangen. Diese riesige Frucht birgt in sich lauter kleine Fruchtsegmente, in der Hand etwas glitschig – so etwa wie Litschis – und köstlich, süß und ganz leicht bitter in einem. Ich esse eines nach dem anderen und beherrsche mich vor noch mehr. Dann reicht mir die lachende Singalesin ein Stück Zeitungspapier. Ich schaue Raji fragend an – man kann dieses verbliebene Klebrige nicht abwaschen. Man muss es erst abreiben – mit Zeitungspapier und Kokosöl zum Beispiel – und danach im allgemeinen Wassereimer schrubben. Ich tu’s und halte meine Hände etwas künstlich von mir entfernt bis zum nächsten Waschbecken mit Seife.
Und das liegt hoch in den Bergen über den grandiosen Wasserfällen der natürlichen Schönheit einer gewaltigen Schlucht, an der das Städtchen Ella liegt. Es ist schon dämmrig, als wir dort im Panorama-Hotel ankommen. Gott liebt hier das Einfache und entfaltet sich in seiner ganzen Fülle als Tausende von zarten, länglichen Fliegen mit feinen, durchsichtigen Flügeln. Wir betreten das Zimmer, schalten das Licht an, und sie kommen aus jeder nur möglichen Ritze im Raum hervor. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt und es sind zu viele, um sie – bei ausgeschaltetem Licht – durch die Balkontüre zu treiben. Es bleibt nur eins.
Ein mühseliger Weg mit inneren Mordes-Schmerzen.
Wie ist das mit dem Frieden und dem Töten von Tieren.
Die Nacht ist schwül und stickig.
Raji hat uns hierhergebracht wegen des weiten Blicks über die Berge des Hochlands in seiner üppigen Vegetation, in die Schlucht hinunter, auf den Wasserfall und den Himmel über Sri Lanka. All diese Schönheit verbirgt sich heute. Fein sind nur die Wolken und der Dunst. Eine grandiose Terrasse zum einfachsten Frühstück und feuchte, grüne Bänke. Nur den Blick hält Gott heute in gräulich-zarten Grenzen. So what. Nicht ich bin der Mittelpunkt der Welt, sondern das Licht der Welt ist der Mittelpunkt in mir.
Danach fährt er uns zum blauen Zug, dem Observation Train. Merton saß auch schon auf einer dieser Bänke. Und ein paar Jugendliche trommeln und tanzen ein Abteil weiter. Zweieinhalb Stunden im Bergland reines Grün. Links der Abgrund, rechts die Teefelder, Pflückerinnen, die kleine Blättchen hinter sich werfen, in ihren Korb auf dem Rücken. Alles Grün, von einer Intensität, die jeden Menschen heilen könnte, wenn er wirklich hineinschaut. In dieses Grünsein. Und die Pflückerinnen? Unter der Sonne, mit weiten Wegen zur Arbeit, die sie nur haben, wenn wieder ein Feld reif ist – geheilt? Von der Armut?
Ruhiger die Teefelder, wilder der Dschungel, wieder eine Hochebene mit weitem Blick über die Berge bis zur höchstgelegenen Stadt des Landes – Nureliya, das so charmant sein soll wegen seines britischen Flairs. Ich erliege dem Zauber nicht; gerade vor ein paar Jahren endete auf dieser Insel ein zermürbender Krieg, dessen Schmerzen noch in der Luft liegen, wie ein Atemanhalten. Noch kein Frieden. Warum sich entzücken an den früheren kolonialen Einbrüchen westlicher Kultur? Wieso gehören diese Häuschen hierher? Ich fühle mich sehr unwohl, wir finden keinen Platz zum Essen, ich bin innen unruhig-offen, offen, dem Land zu begegnen und doch ein Ziel, nicht drängend, einfach leise in mir.
Das nächste ist erst einmal Kandy. Merton schaute auf seiner Asien-Rundreise hier auch vorbei. Im Kandy-Express auf dem Weg hierher hat er ein großes Gedicht geschrieben. Ich fand am Morgen neben wachen, leuchtenden Wahrnehmungen von Natur und Menschen fast so etwas wie ein Koan darin: Was geschieht, wenn die Gedanken sich zuspitzen, und die ‚Spitze‘ entfernt wird?
Er besuchte einige Eremiten in ihren Höhlen, traf sich mit zwei Bischöfen und hielt einen katholischen Gottesdienst, von dem er meinte, er hätte noch nie eine so überfüllte Kirche erlebt. Und – er besuchte den Zahntempel, auf dessen mahagonirotem Holzboden im Innenraum ich mich jetzt erst einmal setze und still bin. Auf den kraftvollen Boden eines zentralen buddhistischen Heiligtums – ein Zahn Buddhas vor mir, verborgen in einem Gold-Kerzen leuchtenden Schrein im Schrein im Schrein, ein schmaler, langer Tisch davor für die Opfergaben, duftender Jasmin. Die weißgekleideten Menschen werden mehr und mehr und die Mönche öffnen die Tabernakel im Tabernakel. Ich lege meine Lotusblüten ab und lasse mich in Trommeln, Ritualen, Gewändern und Demut verschwinden. Jedes Heiligtum in jedem Menschen. Heute ein grenzenloses Licht als unsichtbarer Zahn in mir.
Nur – sein äußerer Glanz schafft es im Dunklen nicht so ganz den Hügel eines Randgebiets hinter Kandy hinaus. Wir landen in einer Straße, die ich gewiss nicht freiwillig bei Nacht betreten hätte, und Raji hält vor einem am Hang liegenden Betongebäude, das aussieht wie eine zu groß geratene Garage, der Riverside Villa. Um die Ecke führt eine Treppe nach unten auf einen in hellem Violett beleuchteten Pool zu, links und rechts die beiden Hotelgebäude mit bunten Lämpchen verziert. Manchmal muss ich wirklich lachen, wie ES sich mir in seinen Hotels zu erkennen gibt. Ich denke, ich werde eine Menge Spaß haben, zum Beispiel an den zirpenden Zikaden – nur zwei! – im Zimmer, ich höre ihr Lied gerne. Oder am Erlauschen des dürren ‚River‘ im Dunklen auf der Terrasse des Restaurants oder dem gegrillten Hühnchen, dem einzigen vegetarischen Gericht, und einer heißen, schwülen Nacht.
Auf unseren teilweise längeren Strecken Autofahrt erzählt Raji von seinem Familiendrama. Irgendwie scheinen wir sein Vertrauen zu erwecken. Harte Familienstrukturen, die keinen Raum lassen, einem inneren Gefühl nachzugehen, das würde den Ausschluss aus jeder Art von Gemeinschaft bedeuten. Er weint, während er fährt. Jakob sitzt neben ihm und ist einfach da. Ich bin still im Hintergrund.
Als ich nach Sri Lanka flog, schlecht vorbereitet, wie ich war, wusste ich nur von diesen aus Granit geschlagenen Buddhas und der Erfahrung Mertons mit ihnen. In dieser Begegnung erwachte im Mönch alles. Ungeahnt. Oder auch nicht – er wollte nicht wieder nach Hause kommen, ohne das großartige Anliegen vollbracht zu haben, schrieb er ja ins Tagebuch beim Abflug über den blauen Pazifik.
Ich bin nicht hier, um es Merton nachzuleben. Keinen Moment hatte ich diese Erwartung. Es war der Impuls, mich an diesem heiligen Ort in meine eigene, ureigenste Begegnung einzulassen.
Das Heiligtum liegt seit 800 Jahren in der Alten Stadt, der heute gesichtslosen Stadt Polonnaruwa. Einst voller Könige, Paläste, Tempel und Pagoden, blühend, zerstört, dann Hunderte von Jahren vom Dschungel überwachsen. Bis wieder Licht auf sie fiel und erstaunlich gut erhaltene Ruinen zum Vorschein kamen, teilweise wie unberührt vom Gram der Zeiten.
Ich wusste nicht, dass man weit laufen muss, um vom Eingang bis zum voll Spannung Erwarteten zu kommen. Raji fährt uns zum Haupteingang, zeigt uns die Stelle, wo er uns wieder erwartet, und leiht uns seinen Regenschirm. Der wird schnell nichts mehr nützen, denn der Weg zu Buddha ist weit. Bald sind die Pfützen so groß, dass ich meine Sandalen ausziehe und barfuß weiterlaufe. Auch wenn ich nicht jeden manchmal moosbewachsenen Tempel aus dunklem Mauerwerk, jede Stupa, jeden Königspalast mit Ornamenten voller Symbolik tiefer betrachte, dringt etwas der Größe dieses alten Geländes zu mir vor.
Eine Weile gehen wir zwischen Wiesen im grünen Licht des Regens, sind von einem Seerosenteich im Hintergrund, vom lichten Banyanbaum, von Oleandern und Rhododendren begleitet. Der sandige Weg neigt sich etwas nach unten und ein weiter, von Bäumen geschützter Platz eröffnet sich, Gal Vihara, der Felsentempel, aus einem einzigen Felsen herausgehauene vier Buddhas, seit ewigen Zeiten im Schutz der wenigen Bäume lebend. Das dazugehörige Kloster ist verschwunden. Die vier sind in hellem, fast ockerfarbenem Gestein aus dem großen Quarz-Felsen gemeißelt, sodass sie wirken, als wären sie nebeneinander in einer Höhle aufgereiht. Auf der gegenüberliegenden Seite des weiten Vorplatzes verläuft der dunkle Quarz wie ein Hügel in runden, abgeflachten Felssteinplatten.
Es hat aufgehört zu regnen, etwas zögernd kommt die Sonne durch, es sind nicht viele Menschen da, ich kann frei meinen Blick öffnen und barfuß den feuchten Sand unter meinen Füßen spüren. So ist es wohl angemessen – barfuß.
Auch Merton war im Dezember hier, auch bei ihm regnete es, auch er barfuß – zum Entsetzen eines ihn begleitenden Priors, der es sowieso als Blasphemie empfand, was Merton da machte, und bockig auf einem fernen Stein sitzen blieb.
Alles ist riesig und sanft hier, links, als erster, ein Sitzender, rechts von ihm ein kleinerer, vor dem ein schmaler Tisch mit Opfergaben steht, die die ihn verehrenden Einheimischen – die Knie beugend – ablegen und der Wärter mir in einem Englisch, das ich nicht verstehe, eine Information über eine Fußhaltung der Statue gibt. Weiter nach rechts der große Liegende, vierzehn Meter liegend und noch klein, direkt über seinem Scheitel ein weiterer. Lange hielt man den für Ananda, Buddhas Lieblingsschüler, aber die wissenden Forscher haben ihn des Namens beraubt und er blieb doch mit seinen verschränkten Armen ein Rätsel. Jung sieht er aus, ganz leicht.
Das Ganze überwältigt. Wie kann etwas so mächtig und so milde sein.
Bevor ich mich dem Liegenden zuwende, versenke ich mich in den Geist des Hüters zu Beginn. Ich tauche mit ihm ein in sein weites Land. Die Maserung, schräg über seinen Körper verlaufend, nur oben, über der Brust aufwärts, ist der Stein ruhig, sie vereint ihn mit dem hinter ihm liegenden Gestein der Höhle, mit den zarten Reliefs von Pagoden und Pflanzen. Es ist Stille selbst, meine nackten Füße verwurzeln sich tief in der Erde und sein Licht mich nach oben, wohin auch immer. Wie gibt es das – einen gemeißelten Bewusstseinszustand? Noch nie erlebt. Wie ist es möglich, dass ein Künstler das innere Wissen des Zeitlosen in die Form holt und mich gleich mitnimmt? Künstler auch, wegen der Vollkommenheit der Gestaltung, der Proportionen, der Einfügung in den Felsen, Einbeziehung der Maserung, nichts von der Härte des Gesteins bleibt im anmutigen Fluss der Gewänder. Er sitzt. Ich stehe. Seine Hände ruhen in seinem Schoß. Meine halten einen Regenschirm und ein Paar Schuhe. Unsere Begegnung ist ohne Ort.
Ich bin am Staunen. Nicht dem der äußeren Betrachtung. Dem Sein im blauen Staunen.
Der Boden unter meinen nackten Füßen lebt. Ich setze mich meditierend – wie viele der Einheimischen auch – auf den leicht hügeligen Granitfelsen dem großen, liegenden Buddha gegenüber. Das dunkle Gestein ist inzwischen fast warm und trocken, im Gegensatz zu meinem Kleid.
Er liegt auf seiner rechten Seite, die Maserungen der Gewänder ziehen sich wie ein großer, anmutiger Fluss über seinen Körper. Er lächelt nicht wirklich, es ist eher ein Lächeln, ohne zu lächeln, noch hinter den Lippen, jetzt auf jeden Fall, bei diesem Sonnenstand. Die Augen leicht wie zarte Flügel geschlossen, eine Hand unter dem Kopf, der auf einer Kissenrolle liegt, der andere Arm längs an seine linke Körperhälfte bis zur Hüfte geschmiegt. Die Füße parallel, der obere ein kleines Stückchen zurückversetzt.
Und öffne mein Herz für den großen Liegenden. Den großen Liebenden. Gerade, gerade in diesem einen Moment des Übergangs, bleibt sein kosmisches Lächeln aus übermenschlicher Liebe. Etwas in mir, du Großer, verweilt in dir. So sieht also der geheimnisvolle Bruchteil des Lebens aus, wenn die Seele diesen Körper verlässt. Ich betrachte dich dabei, übe es, eine Stunde, dann werden es zwei. Die Sonne schafft es nicht, mein Baumwollkleid zu trocknen. Aber ein bisschen noch lass mich bei dir sein, in deinem grenzenlosen Mitgefühl für alle Wesen, der unendlichen Weisheit des Siddharta, dem Allwissenden aus einem unendlichen Grund ALL-EINER LIEBE. Ich weine, und du, Erhabener, du lächelst. Alles Befreit-Sein ist offensichtlich, nichts Verborgenes mehr, alles tragender Frieden, in reinster Majestät und Schönheit.
Frierend sitze ich da und weine in diesen Frieden hinein. Oder aus ihm heraus, was weiß ich.
Ich komme langsam zurück in die Welt und denke an den wartenden Raji. Zwischen Jakob und mir genügt ein Blick. Wir sprechen nicht. Auf halber Höhe nach oben auf dem Rückweg drehe ich mich noch einmal um, und da sehe ich ihn, wie er da steht, mein Bruder Louis, so, wie er oft in der ersten Morgendämmerung vor seiner Einsiedelei stand, wie er da steht und dem Geist des Buddha lauscht, barfuß, so wie ich, so still, in eine innige Klarheit und Helligkeit gerissen. Offensichtlichkeit, Alles-ist-Leere, alles ist Mitleiden. Hier an diesem heiligen, nichtchristlichen Ort hat er erkannt, wonach er dunkel gesucht hat. Hat unter die Oberfläche geschaut, habe mich hindurchgebohrt, und ich bin durch Dunkelheit und Verborgenheit hindurchgelangt.
Es ist nichts zu sagen. Doch, ich bin dir zutiefst dankbar, Bruder Louis, für dein wildes, mystisches Leben und den Weg, den du vor mir gegangen bist, hierher und überallhin sonst.
Vor mir liegt eine Sonne, die sich langsam zum Abend hin senkt. Jakob und ich gehen schweigend, immer noch barfuß, mit einem zusammengeklappten Regenschirm in der Hand, den Weg zurück zu Raji, der schon wieder einen Schleichweg weiß, sodass wir nicht mehr die ganze Strecke laufen müssen.
Ich sitze still im Fond des stolzen Mercedes und bekomme Schüttelfrost, so kalt ist mir, meine Kleidung ist immer noch feucht, und vor allem weiß ich – ich will jetzt nichts mehr sehen, keinen einzigen, winzigen Buddha, auch wenn er der schönste der Welt ist. Den habe ich gesehen.
Wir beraten. Jakob möchte noch, bevor geschlossen wird, die tanzenden Mädchen in ihrer Höhle von Sigirya erwischen. Ich will nichts mehr. Raji schlägt vor, dass er Jakob dort am Tempel aussetzt, mich in unser nächstes Hotel bringt und wieder zurückfährt. Entgegen aller Sitten streichle ich ihm von hinten über die Schulter – was für eine großzügige Lösung.
Es ist schon fast dunkel, als ich im Hotel für diese Nacht ankomme und Raji ist zu Recht sehr stolz, was er für uns vorbereitet hat – ein Baumhaus. Das Hochklettern ist auch bei schlechter Beleuchtung ein Kinderspiel – weil es zwar schmale, aber normale Stufen sind. Und es ist alles da – das Bett aus Bambushölzern, rundherum mit einem Moskitonetz aus feiner, rosa Gaze, passende Handtücher, als Schwäne gefaltet, seidene Zierkissen in einem dunklen, schimmernden Rot auf dem dünnen Baumwollüberwurf, Bad, Toilette – wunderschön. Nur – der Blick in die dichten Bäume der Nacht bleibt mir verwehrt. Und schlotternd, wie ich da stehe, bitte ich um eine Decke und schnell bringt mir einer der freundlichen Angestellten ein zweites Laken. Eine der dünnsten Erscheinungsformen einer Decke.
Als alle aus dem Lufthaus verschwunden sind, reiße ich mir die feuchten Kleider vom Leib und werfe mich unter die heiße Dusche. Ja, sie ist heiß. Und ich stehe da und stehe da und denke nicht über die Wasserverschwendung der Welt nach. Ich erwärme mich und es dauert, bis die Wärme bis in die Tiefe meiner Knochen vordringt. Unter der sogenannten Decke versuche ich, sie recht erfolglos zu halten. Bis Jakob kommt und mir liebevoll von seiner immerwährenden Wärme verschwenderisch abgibt … Er erzählt, wie er die strengen Aufseher bestochen hat und so ein verbotenes Foto von den Tanzenden heimbringt.
Der dunkle Weg zum Abendessen ist links und rechts immer mal wieder mit einem kleinen Lämpchen beleuchtet. Die nassen Blätter der Palmen und Bananenstauden glänzen im wenigen Licht. Mich an der Pracht dieses wilden Dschungelgartens zu erfreuen, muss ich auf morgen verschieben.
Das Restaurant ist ein offener, mit Bananenblättern gedeckter Raum. Außer ein paar scheuen Jugendlichen, die zum Haus gehören, ist niemand da. Wir fragen einen von ihnen, was es zu essen gibt, und einer der Jungen bringt uns die Karte, die wir eingehend studieren und dann unsere Bestellung aufgeben wollen. Wir deuten auf ein paar Gerichte, eins nach dem anderen, das ist aber heute nicht da. Letztlich – keines ist da. Was ist da? Reis.
Also zwei Teller Reis mit jeweils drei Erbsen. Alles ist in Ordnung. Es zieht in diesem offenen Gebäude aus Bambusstreben und Palmendach. Normalerweise ist es ja heiß hier. Ich friere schon wieder.
Und in der Nacht ist es dann tatsächlich heiß und schwül. Ich huste unaufhörlich.
Die Stimmen der Tiere ziehen durch die Nacht. Ein ferner Elefant grüßt mit seinen sanften Füßen.
Am Morgen beim Frühstück storniere ich mit meinem kleinen Gerätchen unser einfaches Hotel in Flughafennähe und miete uns in ein edles Hotel am Strand nördlich von Colombo am Indischen Ozean inklusive Flughafentransfer ein. So kurzfristig gebucht, rattern die Sonderangebote nur so übers Display. Moderne Zeiten.
Bevor Raji uns dorthin bringt, hat er noch einen letzten Programm-Höhepunkt, den Höhlentempel von Dambulla. Ich bin noch gar nicht wieder aufnahmefähig, bin noch so erfüllt und durchsichtig, möchte noch mit den Eindrücken und Erfahrungen von gestern in ihrer Reinheit und ihrem Licht schwingen.
Und – ich halte mich offen, für das, was geschieht. Der Weg ist nicht weit bis zu den dunklen Höhlen mit Blumen der Betenden in den Händen, vor den Füßen der unzähligen stehenden, liegenden, sitzenden Buddhas in Räumen voller Wandmalereien an Decken und Wänden.
In mir bleibt eine gewisse leere Distanz, und das liegt gewiss nicht am Tempel.
Munter werde ich wieder, als mir ein junger, Robe tragender, schelmischer Mönch erzählt, dass Ende der neunziger Jahre ein Mönch hier in eine fünfzehnhundert Jahre währende Geschichte einbrach und zweiundzwanzig Frauen zu Nonnen weihte, obwohl der Buddhismus in Sri Lanka keine Frauenordination vorsieht. Bis ein Mutiger kommt und es sich anders einfallen lässt …
Auf dem offenen Vorplatz vor den kreuzgangähnlichen Eingängen zu den einzelnen Höhlen sitze ich noch eine Weile auf einem Mäuerchen im Duft von Jasmin, dessen Blüten hier den Göttern gereicht werden, und bin still im weiten, letzten Blick über die Ebene Sri Lankas.
Raji schenkt uns zum Abschied noch eine Tüte mit vier Mangos – im genau richtigen Reifegrad, um sie gleich zu essen, meint er.
Thomas Merton stand in einer heißen Nacht in Colombo am Strand, warme Wellen vor ihm leuchten unter dem Mond, und er erlebt ein neues, fremdartiges Gefühl hier draußen – nach Westen nichts bis Afrika. Und dort, nach Süden, nichts bis zur Antarktis. Wenn er hier war, ging er abends manchmal ins Galle-Face-Hotel und nahm einen Drink – ich trank Rum, der hier hergestellt wird, nicht ohne ein tiefes Gefühl von ‚Respekt vor dem Hotel‘ zu haben. Ein paar Tage später setzte er seine Asienreise fort und eine Woche später hielt er, schon in Bangkok, auf jenem großen Kongress, seinen Vortrag Marxismus und Perspektiven des Mönchtums. Neben dem politischen Aspekt teilt er – mehr oder weniger direkt – auch Aspekte seines Klosterlebens und meint, es ginge nicht um die Regeln, sondern um etwas Tieferes, die völlige innere Umgestaltung, die Offenheit für die schmerzliche Mühsal des inneren Sich-Wandelns. Wie immer spricht er ruhig, im offenen Geist und humorvoll. Er weiß, aus welcher Quelle Freude entspringt.
Es ist das einzige Mal, dass eine Rede von ihm gefilmt wurde. Er beendete sein Sprechen am Pult mit Ich verschwinde jetzt.
Geht in sein Zimmer, duscht und stirbt an einem Stromschlag. Eine Woche nach seiner Erfahrung in Polonnaruva.
Großer, tiefer Frieden stand in seinem Gesicht.
Das Galle-Face-Hotel muss so etwas wie unseres jetzt gewesen sein, nur viel größer und damals noch mit dem verblichenen Charme der Kolonialzeit. Wir sind in einem moderneren gelandet, das uns zwei Heruntergekommenen mit elegantem Glanz aus Spiegeln und Marmor empfängt.
Mir fällt der Künstler ein, den Merton in Kalkutta getroffen hatte und der meinte, jeder, der mein Haus betritt, bringt Gott herein.
So abgerissen, müde und hungrig wie ich bin, so unbewusst und ohne Liebe wie ich oft bin – bringe ich in diesen Luxustempel auch Gott herein? Daran habe ich noch nie gedacht. Ich sitze in vielen Foyers und sehe Gott hereinkommen, in unzählbarer, ungetrennter Vielfalt aus dem Meer unendlicher Möglichkeiten.
Ein Philosophieprofessor in Neu-Delhi hat einmal in einem Gespräch mit Merton einen alten, weisen Sufi zitiert: Zu sagen, ich sei Gott, ist nicht Stolz, sondern vollendete Bescheidenheit.