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jerusalem dorf des friedens

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UND WIEDER SITZE ICH IN EINER LOBBY, der weiten Lobby eines Jerusalemer Pilgerhauses der französischen Assumptio- nisten, eines Männerordens, der den Regeln des Augustinus nachfolgt und dessen Anliegen heute ist, Christen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen zusammenzubringen. Sie haben dieses riesige Areal zu einem wunderbaren Hotel direkt vor dem New Gate zur Altstadt Jerusalems ausgebaut. Es ist der Königin des Friedens gewidmet. Mein Zimmer ist in einer Mischung aus venezianischen und altarabischen Möbeln eingerichtet, an zwei Seiten des Raums sind Rundbögen wie in der Kathedrale von Cordoba. Oben, auf der Dachterrasse mit Blick über die abendliche Altstadt, wirft sich ein leidenschaftlicher Koch in seinem Front-Cooking ins offene Feuer, und wenn man leichtsinnig ist, schaut man vorher besser nicht auf die Preise.

Es mischen sich die christlichen Pilger aus aller Welt, die natürlich um diese weihnachtliche Zeit fast das ganze Haus füllen, mit interessierten Besuchern Jerusalems und einer freien Pilgerin.

Hier in der Lobby, wie im christlichen Viertel der Stadt, übertreffen sich die Christbäume mit flackernden und blinkenden Lämpchen und Krippen. Hier im Haus legte sich das Kindlein erst während der heiligwerdenden Nacht in sein Stroh. Noch weilt sein Blick in einer anderen Welt. Aber es blinkt, umgeben von kleinen Lämpchen, wie Maria und die Schäfchen auf den Weiden.

Ich habe so eine grundlose Freude, hier zu sitzen mit den Menschen, die zur Tür hereinkommen, zögernd, flotten Schrittes, mit leeren Händen, vollbepackt, sich sammelnd, wieder hinausgehend – und irgendeine rennt immer …

Jeder, der mein Haus betritt, bringt Gott herein.

Eine eilige Japanerin mit dem unwiderstehlichen, offenen Lächeln dieser Frauen aus dem fernen Land läuft an mir vorbei und ruft »Merry Christmas.« Ich traf sie schon beim Frühstück, als wir mit den Sprachen und Hautfarben der Welt am Büfett standen, mit Nonnen aus China, Priestern aus Spanien, Chören aus den USA und dazwischen all die Einzelreisenden – auch aus aller Welt.

Gestern war Heiligabend.

Ganz früh am Morgen mache ich mich auf den Weg zur Klagemauer, zur Westmauer, wie die Israelis sagen. Das Tor direkt gegenüber meines Hotels führt mich ins Christliche Viertel der Stadt, von dort aus ins Aramäische und als die blinkenden Christbäume abrupt enden, lande ich im arabischen Teil und verlaufe mich heillos. Die Stadt ist noch leer, kaum ein Mensch ist auf der Straße, die Basarbuden sind mit hölzernen Läden verriegelt, in der Via Dolorosa, in der ich schließlich als Orientierungspunkt lande, hängen die großen Holzkreuze einsam an den Mauern. Sie sind zu kaufen. Von arabischen Handwerkern gehobelt.

Der Platz vor der uralten Mauer, ein Mauerteil, das dem Allerheiligsten des Tempels am nächsten liegt, ist weit und offen. Ich setze mich etwas oberhalb auf eine der breiten Steinstufen und schließe meine Augen, um erst einmal diesen Ort zu spüren. Der Wind ist eisig unter einem kristallenen Himmel.

Am Ende der Treppen zum Vorplatz hinunter muss ich wegen der Taschenkontrollen etwas warten, um mich ihr zu nähern. Trotz der Kontrolleure mit ihren scharfen, wachenden Blicken, die die Mauer umgeben, heißt sie alle willkommen, nicht nur Menschen bestimmten Glaubens. Wahrscheinlich ist sie zu alt dafür, um in so enge Grenzen zu fallen. Ich gehe nach rechts auf die Frauenseite und im Mich-Nähern ergreifen mich die Schwingungen dieses uralten Bodens im ganzen Körper.

Meine Hand trifft die von der ersten Sonne gewärmten Steine, vorsichtig und zärtlich. Es sind die Gebete seit Jahrtausenden, die in sie fallen und sie an ihre Heiligkeit erinnern.

Ich trete noch einen Schritt näher, lehne meinen Kopf an sie. Sie duftet süß, wie ein Neugeborenes. Ihr innerer Geist, gesammelt in all dieser Inbrunst, wie ich sie links und rechts von mir erlebe, fließt in mein offenes Herz und lässt es schwingen in der Erinnerung an das, wie ich gemeint bin.

Ich höre die Äonen der Evolution die Steine durchdringen, in jedem Impuls verborgenes Licht aus Essenz von Leben. Als wäre ich selbst die Mauer.

Ohne mich umzudrehen, wie es Sitte ist, trete ich zurück mit zitternden Knien und stolpere über einen dieser weißen, weltweiten Plastikstühle, falle förmlich in ihn und sehe nur noch die Mauer. Und nehme von außen wahr. Die Farbe und den Glanz der Steine, all die Zettel zwischen den Ritzen, die Suche danach, noch eine Rille für sie zu finden, was nicht immer gelingt, weshalb der Boden vor dem alten Wall aus Steinen davon übersät ist. Und alle treten auf diese geschriebenen Wünsche an Gott. Mögen sie schon erfüllt sein. Zweimal im Jahr werden die Papierchen in mühseliger Arbeit aus den Ritzen gekratzt – mit im Ritualbad gereinigten Stöcken. Ich schiebe achtsam die heruntergefallenen Gebete unter meinen Füßen auf dem uralten Boden zur Seite und sitze in meinem wackligen Plastikstuhl, gelehnt an das Zusammentreffen der größten Träume der Menschen. Mohammed hat auf seinem siebenstufigen Weg auf der Jakobsleiter in die ferne Kultstätte Himmel zusammen mit Moses und Jesus gebetet. Alle, die hier waren und ins Licht traten, hatten diesen einzigartigen Traum, ihr mystisches Feuer mit uns zu teilen. Irgendwie haben wir bis jetzt nicht so genau hingehört.

Ich sitze in diesem großen Strom und lausche.

Mit weichen Knien steige ich die Stufen wieder nach oben in die nun wuselige Stadt, reif für einen Kaffee in der Sonne, eingewickelt in meinen warmen Mantel, mit jungen, alten Menschen, Juden, Christen, alle Nationen, alle Schönheit, alles hat Platz. Und ich habe das Gefühl, dass durch die ständige Bedrohung in diesem Land die Schwingung des Lebens ständig vibriert.

Heiligabend ist vielleicht nicht ganz der rechte Tag, um die Grabeskirche zu besuchen, doch ich stelle jetzt keine großen Betrachtungen über das Einssein von Leben und Tod, oder dass es gar keinen Tod gibt oder Ähnliches an. Sie liegt einfach in der Nähe, und ich habe auch noch nicht ganz herausgefunden, wie ich nach Bethlehem komme. Ich weiß nur, dass es mit einem Mietwagen mit hiesiger Nummer zu gefährlich wäre.

Also schlängle ich mich von meinem Café aus ein Stück durch die jetzt menschenreichste Straße der Welt, die Via Dolorosa, kleine Läden aneinander, über- und untereinander gereiht, mit Dingen, die man nicht braucht. Ich kaufe ein paar Gebetsketten für meine Freundinnen – kann man immer brauchen – und eine Keramikschüssel – »you can put it in machine« – für mich selbst. Mein Widerstand gegenüber Gebet und Keramik ist sehr gering, muss ich eben meine Tasche achtsam tragen. Hat ja auch was, sowohl für die Wachheit an sich als auch den Taschendieben gegenüber.

Der Vorteil des ‚falschen‘ Feiertags für die Grabeskirche gegenüber Ostern ist, dass sich heute keine Priester und Mönche in wahrhaft christlichem Frieden um die ihnen gebührende Ecke des Gebäudes prügeln. Ich kann also dieses dunkle, vielgeteilte Schiff ohne Geschubse und Gestoße betreten und mich erst mal gleich einreihen in die Knieenden vor dem ölglänzenden Salbungsstein.

Mit meiner öligen Hand streiche ich mir einmal durchs Haar und suche dann meinen Weg im Durcheinander dieser dunklen Hallen über dem heiligsten Platz der Christenheit, Golgatha, und dem Heiligen Grab, aufgeteilt in dreißig Kapellen von sieben christlichen Religionsgemeinschaften.

Ich besuche nicht alle, blicke auf den Golgatha-Felsen hinter Glas, reihe mich in die jeweils sieben Wartenden vor der Grabeskappelle ein und die drei vor der Grabeskammer. Alles bestens organisiert. Langsam komme ich an diesem alten, gesegneten Ort an, aus dem eine Kraft machtvoll durch die Füße in mein Herz aufsteigt, kurz unter der Oberfläche eine leichte Unruhe bergend. Und doch tut sich unendlicher Friede auf, auch trotz der ganzen Streitereien um des Meisters willen an diesem Ort. Eingefasst in ein Meer von Kerzenampeln in den Verzierungen der sieben Kulturen. So schön, so dunkel.

Ich finde eine Bank in einem weniger verzierten Seitenraum, um mich einmal zu setzen und meine Augen zu schließen. In meinem Rücken hinter einer geschlossenen Tür singen leicht gedämpft Mönche leise gregorianische Chöre. Ich werde still und erfasse erst in der Stille die Größe und – ja – Heiligkeit dieses Ortes. In wessen Armen liege ich?

Am Abend hat Gott echt gute Laune. Im Restaurant meiner edlen Herberge gibt es ein großes Büfett, die Bedienungen sind bunte Engel mit rot-weißen Zipfelmützen, die in guter Laune zwischen diesen Menschen aus der ganzen Welt herumspringen, zwischendrin ein wildgewordener Weihnachtsmann mit scheppernder Glocke, der Süßigkeiten verteilt, die philippinischen Nonnen kichern sich unter den Tisch, die heiteren japanischen Priester singen Weihnachtschoräle und lieben den Wein. Kitsch macht Freude, weit entfernt von den stillen Winternächten aus den Dornenwäldern, durch die Maria in meiner Heimat ging.

Heute zum Frühstück fliegt der Hotelmanager in seiner Mönchskutte durch den Raum, kommt auch an meinen Tisch und fragt: »Sind Sie glücklich?« Wenn das keine Frage ist am ersten Weihnachtsfeiertag! Ich kann einfach nur »Ja« sagen. So kommen wir ins Gespräch, und ich erzähle ihm, dass ich morgen für eine Woche nach Whahat al-Salam – Neve Shalom fahren würde, um mit Freunden gemeinsam für den Frieden zu beten (so kann man es ja ausdrücken). Er kennt das Projekt, findet es großartig, gibt mir seine Karte und meint, vielleicht könne sich ja einmal jemand von ihnen melden.

Ich trinke meine Tasse Tee aus und denke mir, warum setzt er sich nicht einfach ins Auto, fährt hin und bringt sich selbst. Es war schließlich ein Dominikanerpater, der diesen besonderen Ort dort gegründet hatte.

Als ich dann ein paar Tage später einer der zentralen Frauen im Friedens-Dorf das Kärtchen mit ein paar Worten übergebe, zuckte sie nur höflich mit den Schultern.

Ich habe kein Navi in meinem Leihwagen, als ich gleich nach dem Frühstück aufbreche, um meine alte Freundin Hanna aus London zu besuchen. Sie lebt in einem jener neugebauten Dörfer nah an Jerusalem, die alle gleich aussehen und die Häuser innerhalb des Dorfes auch. Das Dorf habe ich schon gefunden, nur die Straße nicht. So irre ich mit meinem Adresszettel durch die Straßen.

Auf den Gehsteigrändern liegt noch Schnee, riesige Haufen von abgebrochenen Ästen türmen sich auf den Plätzen. Es hatte eine Woche, bevor ich kam, ein fünftägiges Unwetter gegeben. Schneestürme, umgestürzte Telefon- und Strommasten, alles brach zusammen. Und wer kennt schon so viel Schnee in Jerusalem?

Ich irre weiter. Jetzt weiß ich nicht einmal mehr, woher ich kam. Also halte ich an und frage einen Mann, der gerade aus seiner Haustüre tritt, nach der Straße. Er versteht mein Englisch, aber nicht den Straßennamen. Also hole ich den Zettel mit allen Infos meiner Freundin aus dem Auto. Er ist fest davon überzeugt, dass es diese Straße in diesem Ort gar nicht gibt. Er nimmt sein Handy aus der Tasche und tippt die Nummer meiner Freundin von meinem Zettel ab. Sie diskutieren eine ganze Weile. An den Gesten seiner Hände kann ich erkennen, um wie viele Ecken und Kurven der Weg verlaufen würde und mir wird schon etwas bang, ob ich mir das alles merken kann. Aber der Gedanke war zu weit. Zwei Minuten aus dem Vertrauen gefallen. Denn der freundliche Herr öffnet seine Garage: »Follow me«. Und lotst mich. Die Engel sind überall. Keine Sorge. Nicht einen Moment.

Und zwei Freundinnen können nach fast zwanzig Jahren ein Herzensfest feiern. Als wäre nicht ein Jahr vergangen.

Sie vermietete damals, als sie noch in London lebte, ein Zimmer ihrer Wohnung, so dass ich, als ich oft nach London fuhr, immer mal wieder eine Woche bei ihr wohnte. Heute frage ich sie, ob sie denn mir als Deutscher nie Ressentiments gegenüber gehabt hätte. »Nein, nie«, meinte sie. David, ihr Sohn, schon. Ich erinnere mich, wie er mit versteinertem Gesicht am Tisch saß oder die Küche verließ, wenn ich mir einen Kaffee aufbrühte. Ich dachte damals, das wäre Ausdruck pubertierender Befindlichkeiten.

Was war ich unbewusst und versunken in meine eigenen heiligen Angelegenheiten, dass ich das Offensichtliche gar nicht sah. Verzeih mir, David, verzeih mir.

Ich erinnere mich an meine Schulzeit, als ich einmal mit einer Mitschülerin aus der Parallelklasse an einem Tisch in der Kantine saß. Während wir unsere Suppe löffelten, bemerkte ich plötzlich, dass sie ein Goldkettchen mit einem Davidstern um den Hals trug. Und verstummte. Alles zog sich in mir zusammen. Ich wusste nicht mehr, was es zu sagen gab und nicht gelogen war. Wusste nicht mehr, meinen Löffel zu halten und wie das Atmen geht. Ich konnte die Geschichte unserer Mütter und Väter nicht vom Tisch nehmen, das Mädchen sehen, wie es war, so wach und sympathisch, ein undurchdringlicher Schleier wehte in mir vor ihr. Die Geschichte lag zu nachtbraun, noch zu nah, schwer auf meinem Herz, so dass weder meine Wissbegier nach ihrem Leben und dem ihrer Familie noch der Mut einen Spalt Licht in unsere Begegnung gebracht hätte. Ich war so feige und setzte mich nie mehr zu ihr. In meiner Generation kam erst der Versuch von Sprache, als wir begannen, unseren Eltern mit dem Hochmut derer, die im Frieden lebten, Vorwürfe zu machen. »Warum habt ihr nichts getan?«

Ich stelle mir seitdem die Frage selbst, immer wieder, ob ich den Mut gehabt hätte, unter Bedrohung meines Lebens zu handeln, zu schützen, meinen Mund aufzumachen. Hätte ich? Was sehe ich nicht heute alles und tue nichts und sage nichts wirklich laut – ohne dass mein Leben bedroht wäre? Könnte ich nicht nach Sachsen in einen der heißen rechten Orte ziehen und mich hinstellen, aufrecht, und mit denen sein, die es sich nicht leisten können, wegzugehen und mit denen, die voll Hass sind? Es versuchen, was geschieht, wenn ich einem, der hasst, mit Interesse und Liebe begegne? Ihn treffe im Herz des Menschen. Mein Leben wäre – gehen wir davon aus – nicht bedroht. Es wäre nur rasant unbequem. Bin ich hier, um es in meinem Leben bequem zu haben? Wer kommt mit?

Seit der Zeit, als die Sprache zurückkam, gibt es so etwas wie einen tiefen Aufschrei in mir: Ich vermisse euch schmerzlich in meinem Land. Und es ist nicht diese Seite des unaussprechlichen Schmerzes, des Mit-ihnen-Seins über das, was sie in meinem Land erlitten haben, das Grauen, das selbst, wenn wir es in den Ozean der Ewigkeit werfen, mit der nächsten Welle zurückkommt. Es ist der Schmerz über ihre Abwesenheit, über den Mangel ihres kreativen Reichtums, ihres Lichts, ihrer Größe in meiner Kultur. Ich höre das Echo in meiner Bildung, in meinem Herzen, in der Seele dieses Europas, in der Poesie, in eurer unverwechselbaren Kraft. Es ist unermessliche Liebe, tiefste Dankbarkeit und Sehnsucht nach dieser jüdischen Schwester, nach dir, jüdischer Bruder.

In Hanna habe ich diese Schwester. Zum Abschied erzählt sie mir von einem wunderbaren Markt in Jerusalem, und ihr Erzählen klingt so lebendig, dass ich gleich Lust bekomme, die nächsten Heiligtümer den Jordan hinunterrauschen zu lassen.

Na ja. Nur noch den Tempelberg.

Vor dessen Eingang ich dann kurz danach lande, beziehungsweise in der mindestens zweihundert Meter langen Warteschlange, es könnte also zwei Stunden dauern. Eine Weile stehe ich ratlos davor, auf einen eindeutigen Impuls wartend. Nein, das war’s nicht. Der Ruf des Berges scheint nicht mir zu gelten. Keine alte Geschichte mehr, keine Moschee, die ich als Frau sowieso nicht betreten darf. Also – stattdessen bunter Markt, voll Leben soll er sein, meinte Hanna. So steige ich ins Taxi und komme mit dem Taxifahrer ins Gespräch. Auch über Bethlehem. Ob er mich bringen solle.

Ich hatte gestern Abend nach allem weihnachtlichen Gewimmel und Gemützel noch sehr ausführlich meinen Reiseführer studiert. Es wäre gefährlich mit einem gelben, israelischen Nummernschild, wie ich es an meinem Leihwagen habe, nach Bethlehem zu fahren und trotz allen Vertrauens will ich das Leben ja auch nicht herausfordern.

»Ist das mit dem Taxi möglich?«, frage ich ihn.

»Ja, selbstverständlich.«

»Keine Kontrollen?«

»Kann passieren.«

»Keine Behinderung auf palästinensischer Seite mit gelber Nummer?«

»Sie können Sie als Touristin erkennen, wenn Sie mit dem Taxi kommen, und die wollen sie ja.«

»Und der Preis?«

Dollar habe ich nicht, aber Euro nimmt er auch.

So komme ich doch noch nach Bethlehem, der Fährte folgend, die durch den feinen Sand des Lebens läuft. Der Weg bereitet sich von selbst.

Ibrahim, mein Fahrer, ist israelischer Araber. Seit mehreren Generationen lebt die Familie in Jerusalem. Er erzählt von den Schikanen, die er in ‚seinem‘ Land erlebt, obwohl er doch formal dessen Bürger sei. Sie bekämen nur niedrige Arbeit, die keiner sonst tun will, sie seien mitunter achtzehn Stunden mit Hin- und Rückweg zum Arbeiten unterwegs, eben einfach Bürger zweiter Klasse.

Ich frage mich in kindlicher Unschuld, warum nicht alle in einem Staat leben, mit einem Recht, das für alle gilt, dann könnte man sich viel Stacheldraht, Gewehre, Hass und Traumata sparen. Der naive Traum einer Liebenden, die als Vertreterin der Mystik durch die Welt reist und sie kostenlos als Allheilmittel anbietet. Ich bekomme also gleich eine schmerzvolle Führung durch einen der schwer verwundeten Landstriche dieser Welt.

Morgen werde ich in ein Dorf fahren, das genau das Gegenteil übt.

Ibrahim zeigt mir die breit angelegten Siedlungen im Westjordanland, wir fahren durch Straßen, die links und rechts mit von mindestens vier Meter hohen, doppelseitig mit Stacheldraht gesäumten Mauern und Türmen eingeschlossen sind. Mir kommt gleich dieses kalte Gefühl aus meiner Zeit in Westberlin hoch, wenn ich nach Ostberlin fuhr oder die Transitstrecke benutzte – und es scheint nicht nur mir so zu gehen. An der Mauer auf der rechten Straßenseite taucht das Graffiti auf: Ich bin ein Berliner. Hier waren Familien auseinandergerissen, haben ihre Heimat verloren, wurden Familienmitglieder getötet. Er zeigt mir, wo die frühere jordanische Grenze verlief, welches noch die ganz vereinzelten arabischen Häuser sind.

Es ist klar, was sein Hintergrund ist – ein arabischer Israeli ohne die Rechte eines Israeli. Er erzählt nicht wütend, eher traurig, resigniert. Und natürlich aus dem Blickwinkel der einen Seite. Auch dieser ist eine Realität. Wie alle anderen auch.

Wie immer – es ist ein Unterschied, über all diese Aspekte gelesen zu haben oder mitten darin zu sein.

So lande ich etwas aufgeweicht in Bethlehem. Schon bei der Einfahrt stelle ich klar, dass ich in keinen Souvenirshop möchte und keinen Führer in der Kirche.

Ich wolle beten, sage ich ihm und handle unter einigem Kraftaufwand immerhin eine halbe Stunde Wartezeit für ihn heraus. Eine Viertelstunde wäre ihm lieber gewesen und schon scheucht er mich davon.

Nach diesem Aufflackern tausendjähriger Menschheitsgeschichte, gespiegelt im Schicksal eines einzelnen Menschen im Land von Menschen, über deren Schicksal kaum zu sprechen ist, betrete ich eine der ältesten Kirchen demütig gebückt durch ein niedriges – damit ich nicht zu Pferde einreiten kann – Tor …

Griechisch-orthodoxe Priester, mit ihren hohen Hüten und schwarzen Sutanen durchflattern die riesige, mit ewigen Lichtern, ziselierten Silberampeln und Kronleuchtern sanft erleuchtete, dunkle und monumentale Basilika. Obwohl dieser hohe Feiertag ist, kann ich ruhig und frei umherstreifen und mich überwältigen lassen, nicht von der äußeren Morbidität, abgefallener Vergoldung, dunkelbraunen Holzkonstruktionen, sondern vom Licht, das aus dem Boden zu steigen scheint. Ich werfe nur einen kurzen Blick auf den silbernen, in den Boden eingelassenen Stern in der unterirdischen Geburtsgrotte, vermeide die Schlange davor, nehme mir einen Stuhl, platziere ihn mitten in diesem riesigen Raum, setze mich und höre das Licht der Welt in seiner Herberge in meinem Herzen. Meine halbe Stunde ist kurz, ein ganzes Leben würde mir nicht reichen.

Da kommt auch schon ein bärtiger, grimmiger Priester und verscheucht mich, nimmt meinen Stuhl und trägt ihn wieder an den Rand. Was nicht das lodernde Feuer in mir nimmt. Das Brennen dieses Lichts hat keinen Ort.

Ich folge dem Mann zu einem kleinen Devotionalien-Pult, schaue ihm in die Augen, lächle ihn an und kaufe ein kleines Tütchen mit Erde aus dem Boden von Bethlehem (wenn’s stimmt, aber darum geht es ja nicht) und einen kleinen Maria-Anhänger für eine Freundin, die sich etwas von meiner Reise gewünscht hat.

Und jetzt raus ins bunte Leben. Gott ist überall, innen, außen, in jedem Blättchen und jeder Tiefseeschnecke, in Stacheldraht und in jedem Ort einer Geburt, auch der dieses einen Moments. Wo nicht? Ich bitte Ibrahim, mich jetzt zum Markt zu fahren, lehne mich etwas erschöpft zurück, noch leicht in Trance und hungrig.

Ein westlich-modern-orientalischer Markt – über so viel Fülle und Farbe und Gerüche freuen sich die Gernelebenden. Viele sind für ihren Shabat-Einkauf in den hellen, weiten Basar-Straßen unterwegs.

Ich habe keine schweren Einkaufstaschen zu tragen, schaue zu, wie Reiswaffeln produziert werden, schlendere an den reichen Obst-, Fleisch-, Gemüse-, Gewürzständen vorbei und da ich Tahin so gerne esse, habe ich die Ehre, einmal Beobachterin einer Sesammühle in Aktion zu sein. Wie der Samen sein Inneres gibt und sanft sein Öl nach unten in eine Auffangschale fließt und tropft. Mein Hunger drängt.

Überall links und rechts sind kleine Lokale mit in die Straße hinein vorgebauten Holzterrassen, ich muss nur noch wählen – und falle in orientalische Vorspeisen-Schälchen voll Humus, Tahin, Petersilie, Auberginen, Falafel und viel Gemüse hinein.

Vor fast fünfzig Jahren hauste ein jüdisch-christlicher Priester, weil er lange in Ägypten gelebt hatte, die Araber liebend – in einer windigen Hütte ohne Wasser und Strom, ohne befestigte Zufahrtsstraße, auf einem trockenen, verwüsteten Steinfeld, das auf einem Hügel gleichweit von Jerusalem, Tel Aviv und Ramallah entfernt lag. Er hatte von seinem Provinzial in Paris die Genehmigung bekommen, sich ganz seiner Idee zu widmen – dem Wort des Jesaia folgend: Mein Volk wird in einer Oase des Friedens leben.

So soll dieses Dorf, das er errichtete, heißen: Whahat al- Salam – arabisch, Neve Shalom – hebräisch. Mit zwei Familien beginnt er auf diesem durch zwei Kriege verwüsteten, kahlen Landstrich unter extrem schwierigen Bedingungen sein Projekt zu verwirklichen. Christen, Muslime und Juden sollen einst in diesem Dorf in Frieden leben. Der Samen ist aufgegangen – heute leben sechzig Familien im Dorf. Der Schwerpunkt hat sich etwas verschoben, es geht nicht mehr um die religiöse Zugehörigkeit, sondern um die Ausgewogenheit von jüdischen und palästinensischen Familien. Und die Idee des friedlichen Zusammenlebens sieht die Lösung nicht in Gleichmacherei oder Anpassung, sondern darin, ein Leben der eigenen Identität im Austausch mit den jeweils anderen zu finden, wie ein Modell für das ganze Land.

Die Steine haben sich auf diesem Weg des Wachstums natürlich etwas entmaterialisiert, so bleibt der vielleicht noch härtere Weg und verlangt noch viel innere und äußere Arbeit. Und derer sind und waren sich die Bewohner bewusst.

Heute gibt es in Whahat al-Salam – Neve Shalom eine Kinderkrippe, einen Kindergarten, weiterführende Schulen – alles zweisprachig, alle Gremien und Lehrenden doppelt besetzt von einem jüdischen und einem palästinensischen Mitglied. Über das Dorf hinaus gibt es eine Friedensschule, für die extra Programme entwickelt wurden, die nicht nur von inzwischen Zehntausenden Juden und Arabern besucht werden, sondern von Menschen aus der ganzen Welt, ob aus Konfliktregionen oder einfach, um zu lernen. Vor allem für junge Leute gibt es sehr weit entwickelte Programme,

Und es gibt in diesem Dorf inzwischen Straßen, üppiges, aus der Wüste geschlagenes Grün, die Hortensien am Weg sind schon zu ahnen, in den Knospen der riesige Rhododendren schimmert schon Purpur und Mauve, Palmen, Bananenbäume und kleine Kräuter- und Gemüsegärten, ein Café mit einer von Weinreben beschattende Pergola, ein Restaurant und – ein Gästehaus. Es besteht aus kleinen Bungalows, geschmackvoll eingerichtet, mit einem eigenen Balkon und separatem Eingang. Gott hat es sich einfach eingerichtet hier und empfängt ganz still. Das westliche Licht wärmt den Raum mitten im Winter.

Am Rand des Dorfs, abgeschirmt in einer lieblichen Mulde, steht ein Rundbau, das Haus des Schweigens. Ein gewölbter Raum mit einem über die ganze Stirnseite gehenden Fenster, das den Blick in die grüne, einstige Wüstenlandschaft freigibt. Dort ist es tief-still, ein Ort für Meditation und Gebet. Ein Psalm nennt die Stille ‚Lob Gottes‘ und im Koran ist es die ‚innere Ruhe‘, die in die Herzen gelegt wird. Verschieden in Kultur und Religion ist Stille überall ein gemeinsamer Ort.

Ich bin mit Freunden gekommen, um das zu tun – beten und meditieren. Was soll ich in diesem Land auch anderes tun, wenn ich es schon nicht schaffe, alle an die Ufer des Jordans und des Mittelmeers zu setzen, ihnen die Füße zu waschen, wie ein Meister dieses Landes, und dabei heimlich alles aus den Herzen zu reißen, was jetzt nicht mehr notwendig ist. Was würde dann bleiben?

Also, bis dahin, beten und meditieren. Und weil wir viele sind, reicht dieser kleine Rundbau nicht, sondern es steht uns das große, befestigte Veranstaltungszelt – sieht aus wie zwei riesige Tipis – zur Verfügung

Und mir ein kleines Hotelzimmer mitten im Dorf. Gott im Hotel, das Hotel in Gott – ein Übungsfels der Liebe.

Vor einigen Jahren las ich einmal ein Buch über die Geschichte einer Jüdin und eines palästinensischen Israelis. Welche Zerreißprobe ihr Zusammengehen war. Wie die Familien sich sperrten, den zukünftigen Partner demütigten und welch weiter, innerer Weg es ist, die Geschichte von Völkern in die persönliche Geschichte wirklich zu integrieren, um frei zu sein.

Die beiden waren eine der ersten Familien hier im Dorf, das von der Idee her ja nicht auf eine Vermischung angelegt ist. Sie hatten also so etwas wie einen doppelten Weg zu gehen. In der ersten Mittagspause spaziere ich durchs Dorf und suche die beiden, vielleicht sind sie ja auch hier heute …

Unter den Freundinnen und Freunden, mit denen ich hier bin, sind viele Juden, teils hier aus Israel, teils aus den USA, einige, sehr wenige Palästinenser und viele Deutsche. Und wenn Juden und Deutsche in Stille zusammen sind, dann kommt einiges hoch und zwar heftig. Und wenn dieses Auftauchende in Liebe gehalten ist, wird es noch heftiger.

Ich komme aus der Generation der Scham. Auch wenn ich selbst nicht mehr beteiligt war, fiel ich mit meiner Geburt in einen Boden, der glühte, lag der Geruch des Rauches noch in der Luft, waren meine Eltern, Großeltern, Lehrer, das Dorf meiner Kindheit sprachlos, es lag ein undeutbares Flackern in der Atmosphäre, das sich in meinen Zellen Raum griff, Füße setzten zum Tanz auf schwarzem, morschen Eis, dessen Kälte unsichtbar alles durchdrang. Ich, die ich schon als junges Mädchen unsterblich in die Poesie verliebt war, las Adornos Frage, ob man ‚danach‘ noch dichten könne und las Celans Antwort darauf – die Todesfuge.

Da tragen die Kinder die Schuld genauso verstummt weiter. Wer weiß, wie viele Generationen noch. Bis ins siebte Glied.

Aber jetzt, nach Jahrzehnten des Lesens, Suchens, Begegnens, Retreats in Ausschwitz, Lieben von Freunden, sitze ich hier mit offenem Herzen. Mit dem Mut, auch in den Schrei der Verantwortung des zweiten Glieds zu sinken. Im Kollektiven bin ich auch Täterin. Und im EINS alles.

Manche können zuerst gar nicht mit Deutschen in einem Raum sein. Manche sind überwältigt und halten Abstand. Sieben lange Tage arbeiten wir uns durch die Schichten einer traumatischen Geschichte. Die jüdischen Frauen sind stark.

Manche, deren Seelen in unserer gemeinsamen Schwingung angestoßen sind und über die Zeiten springen, beginnen, uns in die Augen zu sehen, aus dem tiefen Bedürfnis heraus, sich zu verstehen.

Schmerzlich, wahrhaftig und immer wieder still. Stille schützt und gebiert. Der stille innere Raum kann diesen Schmerz der Grausamkeit in den Zellen der Familiengeschichten über alle Ebenen des Bewusstseins hinaus heilend halten. Weit und raumlos. Und Wahrhaftigkeit, die Oberfläche der Wahrheit, findet in die Lücken des Lebens. Manchmal recht laut und heftig.

Zum Beispiel in der Silvesternacht. Denn auch im Dunklen ist Tanzen möglich, dünnhäutig liebend. Und wenn da jemand ist, der nicht im selben Raum mit mir sein kann, weil ich Deutsche bin, kann er dann letztlich doch mit mir tanzen. Nach Mitternacht beginnt das Neue.

Im frischen Licht des neuen Jahres, nach fünf Tagen, habe ich das Dorf verlassen, bereit, die Heimreise anzutreten, und sitze wieder in der Lobby meines edlen Hotels aus alter Pilgerstätte. Die spanischen Priester singen mit ihren jungen Schülerinnen ein munteres Lied des Marienlobs. Die japanischen Nonnen verlassen die Lobby strahlend im Licht der Stadt. Ihre Freude über das Hiersein macht ihre Augen leuchtend. Ein junger Portugiese bindet sich ein Palästinensertuch um den Kopf. Sprachen, die ich nicht kenne. Pakistani vielleicht, deren Schuhe auf dem Marmorboden klappern. Immer in Gruppen. In dem Kreis von Sesseln neben mir eine Gruppe von jungen Brasilianern, die gerade aufbrechen.

Alle, die nach draußen rennen, zu ihren Bussen und Taxis, alle, die zu Fuß in die Altstadt trippeln, kommen an einer überdimensionierten Marienstatue vorbei, die auf dem weiten Vorplatz aufgerichtet ist. Die Königin des Friedens. Sie bewacht seit Jahrzehnten generationsübergreifende Kampfhandlungen. Alle Gemäuer um sie herum waren zerstört. Sie blieb stehen. Heute soll sie der Welt als Ort einer fruchtbaren spirituellen Entwicklung dienen.

Ich bin dabei.

Der Muezzin ruft.

Gott im Hotel

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