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bremen fließendes licht

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JETZT, IM MAI, BLÜHEN DIE RHODODENDREN. In Purpur und Mauve, Weiß, Violett und Gelb. Hier ist der Garten ein Park. Ein Park mit verzweigten Wasserstraßen und Wiesen zum Spielen und Essen, mit Raum für Wildkräuter mitten in der Stadt.

Vor mir ein kleiner See mit sprühender Fontäne in der Mitte, der Rundweg von Rhododendren gesäumt. Und einem Hotel, das sich etwas mühsam denkmalgeschützt über seine Geschichte als Ausflugsziel hinauswagt und Grandhotel geworden ist, wie ein Schloss mit linkem und rechtem Seitenflügel und in der Mitte darüber der Kuppelbau über der Seeterrasse.

Ich bin mit Jakob hier und wir beziehen eines der Zimmer im rechten Seitenflügel, zwei große Türen öffnen den Blick aufs Wasser, die Fontäne, die Farben der teilweise fast baumhohen, schwer an ihren Blüten tragenden Rhododendren.

Es gibt Städte und Regionen auf dieser Welt, mit denen ich mich verbunden fühle, sobald ich aus dem Zug steige. Und welche, die mir fremd bleiben, selbst wenn ich Jahre hier gelebt habe. Zu dieser Stadt hier hatte ich nie eine Verbindung gefunden, was nichts mit der Stadt zu tun hat … So ist es mir ganz recht, dass mir zwar die Zimmerknappheit an Pfingsten recht heftig meinen Geldbeutel ausräumt, mich aber in diesen Park geworfen hat, mittendrin und doch abseits.

Morgen, am Pfingstsonntag, wird die Hochzeit eines meiner Neffen sein. Der Brudersohn hat uns zur Feier eingeladen, in ein spezielles Hochzeitshaus, in dem auch sonntags Trauungen stattfinden. Die Kirchen ziehen sich geschwächt zurück, die jungen Menschen kreieren sich andere Rituale. Ich war damals noch jünger als die beiden, als ich das Haus der Frommen verließ, ich hatte dort keinen Platz für das Feuer in meinem Herzen gefunden.

Viel später erst, nachdem ich die Mystikerinnen an anderen Orten traf, entdeckte ich die meines eigenen Kulturraums, erkundete sie in ihrer Fülle, hatte begriffen, dass die Mystiker aller Religionen und Wege in der Essenz vom selben sprechen. Merton hat ja so viel davon erzählt.

Also Pfingsten. Inzwischen kann ich auch die Seelenstufen und die damit verbundenen Wandlungsprozesse erleben, die sich im Inneren christlicher Feste bewegen. Die Symbolik des Lichts, das mit einer winterlichen Geburt einhergeht, die besondere Stille der Inwendung eines Karfreitags und von der großen Seelenöffnung des Sonntags danach. Und vom inneren Wissen, vom sich stets Erneuernden der Pfingsterfahrung.

Es ist mir das nächste Fest. Irgendwie geschieht seit vielen Jahren in meinem Leben an oder um Pfingsten herum etwas Besonderes, Neues, Ungeahntes. Etwas, das mich weiterträgt. Der Geist schlüpft dann in eine Begegnung, berührt mich in Gestalt eines Buchs, geschickt aus einer unerwarteten Quelle, in einem Satz aus feinem Licht, der ein Tor in eine Mauer schlägt. Nachdem mir nach einigen Jahren das Zusammentreffen dieser Überraschungen an Pfingsten das erste Mal bewusst wurde, hatte ich natürlich die Befürchtung, es werde nicht mehr geschehen. Und es geschah doch. Selbst als ich es erwartete. Es gibt diesen Moment in einer Erwartung, in dem man sie vergisst und genau in diese Lücke schlüpft der Geist.

So auch an diesem Sonntagmorgen in der fremden Stadt, ich hatte den besonderen Tag ganz vergessen; ich bin hier wegen der Hochzeit und frühstücke prächtig in den Gestaltungsbrüchen dieses Hotels. Ein Grandhotel mit mahagonifarbenen Stühlen und gerafften Stores, eingebettet in eine Architektur Ende des vorigen Jahrhunderts, etwas verbaut, wenn ich nur an die Wege vom Zimmer in den Frühstücksraum denke, aber die Brötchen schmecken, der Tee ist heiß und die Früchte frisch. Mir begegnet sogar eine Maracuja mit ihrem tropischen Aroma, das immer ein richtiges Lustgefühl in mir auslöst.

Pfingsten habe ich vergessen, als ich wieder zurück in unser Zimmer gehe für meine Morgen-Meditation, heute nach dem Frühstück. Etwas dunkel ist es in mir schon seit ein paar Wochen, spröde, trocken. Aber der Stille ist es egal, unter welchem Boden sie sich weitet. Also meditiere ich einfach weiter, eben etwas dunkel und spröde, verknote, so gut es geht, meine Beine auf dem gepolsterten Mahagonistuhl, falle in meine Trockenheit und stolpere durch die unruhige Zeit verborgener Stille.

Und höre plötzlich in mir einen Satz von Mechthild von Magdeburg – das fließende Licht der Gottheit. Alles wird still. Ganz fein beginnt es zu fließen – das Licht, die Liebe durchweichen mein enges Herz. Scheu übt es wieder das Atmen, leise das Lieben.

Aus irgendeinem tiefen Grund taucht diese große Mystikerin nach 800 Jahren in meinem Schloss hier auf. Es ist lange her, als ich in das mystische Gedicht ihrer intensiven, brennenden Poesie gezogen wurde.

Ich hatte viel gelesen von und über diese moderne Frau, die vollkommen eigenständig und radikal ihrem Weg folgte – wider den Anfechtungen des Klerus und trotz der damaligen Rolle als minderwertiges Weib. Mit zwölf Jahren hatte sie ihr Erweckungserlebnis – als ich alleine war, wurde ich in überaus seligem Fließen vom Heiligen Geist gegrüßt …

Passt ja. Mechthild die Nahe. Die in ihrer Zeit vom Heiligen Geist spricht, wie wir heute wohl von einem sich weitenden Bewusstsein. Alles, was sie schrieb, strömte aus dieser EINEN Lichtquelle, ist wie eine Zwiesprache zwischen der Seele und Gott in Einheit – wenn ich scheine, so musst du leuchten, wenn ich fließe, so musst du tosen, wenn du aber liebst, so werden wir zwei eines, und wenn wir zwei eines sind, so kann niemals mehr Trennung geschehen, sondern ein lustvolles Harren wohnt zwischen uns beiden.

Ich bin hier zur Hochzeit des jungen Liebespaars, und die Sehende fällt in mein Innerstes mit der großen, zeitlosen Hochzeit. Mit Worten höchster Intensität, mit Leuchten und Tosen und dem Vibrieren im Harren.

Und dem Lustvollen. Sie singt vom Eros der Mystik. Was dazu führte, dass die Kirchenmänner sie eines irdischen Geliebten verdächtigten und ihre ganze Gotteserfahrung infrage stellten. Sie konnten sie nicht verstehen. Wer weiß, welche Fantasien der eine oder andere hatte – während sie vom Ungetrennten, vom Heimlichsten aller Geliebten sang.

Mechthild verließ mit vierundzwanzig Jahren ihr adliges Elternhaus und schloss sich den Magdeburger Beginen an, um sich ganz ihrem spirituellen Weg zu widmen. Dazu gehörte für sie auch, sich um die Armen zu kümmern. Und das Elend der Bevölkerung war groß, da muss man sich schon hinzulangen getrauen. Wer bei Gott eintaucht, wird beim Mitmenschen auftauchen.

Und es bedeutete auch – ihrer inneren Wahrheit verpflichtet – ihre Wahrnehmung von Formen der ausufernden Verweltlichung des Klerus kritisch zu benennen.

… die Worte, die niemand gehört hat.

Doch sie findet überraschenderweise einen Unterstützer aus kirchlichen Kreisen in jener für Frauen so gefährlichen Zeit. Ohne Hilfe, ohne jemanden, der die größere Wahrheit in ihren Schriften sehen konnte, wäre sie sicher der Ketzerei angeklagt worden. Sie konnte gar nicht anders als sprechen – die Seele –je stiller sie schweigt, desto lauter ruft sie.

Sie wird vom Klerus angefeindet und bedroht; eine Frau, und mag sie noch so adlig sein, die ohne theologische Ausbildung, ohne Lateinkenntnisse, in Volkssprache, so kühn von ihren spirituellen Erfahrungen schreibt – das geht nicht. Wär ich ein gelehrter geistlicher Mann, du würdest ewige Verherrlichung dafür empfangen. Stattdessen wird sie belehrt, dass, wenn sie nicht davon absähe zu schreiben, es – immerhin nur das Buch, nicht sie – in Flammen aufgehen würde.

Gott beruhigt sie – die Wahrheit kann niemand verbrennen. Dieses Buch, das heute nicht nur als literarischer Edelstein erscheint, war das erste mystische Werk in unserem Kulturraum, noch vor den Schriften Meister Eckharts, mit dem sie voranging, den so unebenen Weg gebahnt hat – mit der einzigen Vollmacht, die sie hatte, dem göttlichen Auftrag.

Vielleicht ist die Zeit endlich reif dafür, dass die unmittelbare Quelle der Mystikerinnen – es kommen ja noch viele nach ihr, hier und in ferneren Ländern – die Basis für uns Frauen werden, den Boden harter, patriarchaler Strukturen zu erweichen mit dem aus dem Innersten geborenen Mut, der viel tieferen, existenziellen Befreiung, der Liebe. Ohne die nichts milde wird.

Mich packt ihre Radikalität, Jahrhunderte vor Merton, dieses bedingungslose Folgen, dieses sich ganz, vollkommen auf DAS Beziehen. Ein Leben im Namenlosen als höchste Priorität, durch alle Anfechtungen hindurch, der äußeren, der inneren. Natürlich begegnete auch sie der Dunkelheit der Seele, der inneren Wüste. … du sollst das Nichts lieben, war die innere Antwort.

Wie kann ich es lieben, das verschlossene Herz?

Meine Pein ist tiefer als der Abgrund, mein Herzleid ist weiter als die Welt, meine Furcht ist größer als die Berge, meine Sehnsucht reicht höher als die Sterne. In diesen Dingen kann ich dich nirgends finden.

Ist ihre Antwort.

Die ich auf Erden zu mir herziehe, denen tut der Zug sehr weh.

Ist die Antwort.

Ich stelle mir meinen mahagonifarbenen Stuhl in die Sonne auf dem kleinen Balkon und ziehe mit meinem Laptop auf den Knien durch meine und Mechthilds Seelenräume. Mein Herz fließt wieder, versinkt, versingt sich in den Liebesworten. Da Gott sich nicht mehr halten konnte, erschuf er die Seele und gab sich ihr in großer Lieb zu eigen.

Und führt diese Seele mit Gewalt in die heilige, wahre Erkenntnis ein.

Ich liebe diese Gewalt. Ich sehne mich nach dieser Gewalt.

Ich sehne mich nach der Sicherheit der Seele, nach der großen Zunge der Gottheit, nach dem Erkennen der unaussprechlichen Ordnung, nach der Berührung des heiligen Geistes mit seiner fließenden Flut.

Was hat diese Frau für eine Poesie. Und ich fließe in ihr, mit dem Blick auf die Rhododendren in Purpur, Weiß und Violett.

Die durchsichtige Klarheit und ethische Kraft Mechthilds, ihre tiefsten Erfahrungen, aus denen sie spricht in einer Modernität, nimmt mir auch Jahrzehnte nach meiner ersten Begegnung mit ihr den Atem.

Alle, die dieses Buch verstehen wollen, müssen es neunmal lesen. Neun Stufen der Seele, neun Stufen des Bewusstseins. Jedes Mal neu.

Diese Worte bergen so eine zeitlose Dynamik, die Übersetzung bräuchten in eine Zeit aus Jetzt, getragen von den Wellen der Evolution, unversehrt-zeitlos, hoch modern. Um die Suchenden des zweiten Jahrtausends den feinen Duft der Worte aus fließendem Licht ahnen zu lassen.

Der Herr sagt: dieses Buch wird beständig unerschüttert bleiben und du mögest dieses Buch behüten vor verlogener Aufmerksamkeit.

Mich erschüttert es. Jetzt, heute, 800 Jahre später.

Gott hatte recht.

Mit etwas wackligen Knien wühle ich aus meinem Koffer das Kleid für die hiesige Hochzeit heraus, leicht flatternd in der Synchronizität des Lebens aus innerer und äußerer Hochzeit.

Im Bad lege ich etwas Farbe über mein verweintes Gesicht, eine heilige Aufmerksamkeit sollen wir für uns selber haben. Wobei vermutlich das Überschminken nicht so genau damit gemeint war …

Ich lege meinen Schmuck an. Wie die Braut im Hohen Lied, dessen Sprache sich Mechthild in ihrer Kühnheit bediente, die Braut, die heute nicht ich bin, es der Jungen überlasse; oder es immer war, schon immer, seit ich hier bin. Braut mein ganzes Leben.

Der Schmuck ist eine Kette meiner verstorbenen Mutter, für meinen Neffen, dass auch etwas seiner geliebten Großmutter bei seinem großen Fest dabei ist, die Ahnin auch mitträgt.

Nicht nur, weil die Beine noch zittern, sondern auch aus dem Spaß an hohen Absätzen hänge ich mich elegant in den Arm meines hiesigen Bräutigams, durchschreite die weichen Teppiche, die verbauten Flure und trete in den blendenden Pfingstsonntag im Park.

Es wird ein Fest einer besonderen Liebe. Die beiden haben die Schritte ihrer Rituale sehr sacht gestaltet, mit vielen kleinen Details, kein Moment der Begegnung geht in der Form unter. Immer ist dieses feine Band zwischen den beiden und die Achtsamkeit der sie Begleitenden zu spüren.

Dahinter die Worte, die niemand gehört hat.

Am nächsten Morgen, noch immer im Hotel, kommt mein anderer Neffe zum Frühstück. Es ist ein Vergnügen, weil ich diese Felder von Spannung liebe, Altes – Neues, Brüche, Aufbrechendes. Dieser junge, wilde, begabte Künstlerkerl in diesem Grandhotel-Frühstücksraum. Wir lachen sogar laut. Mindestmaß an Kühnheit.

Und steige in den Zug nach Hause, setze mich in mein kleines Gärtchen unter die Sonne eines späten Nachmittags, betrachte ganz neu meine zwei mageren Rhododendren. In einer frostigen Aprilnacht waren die Blüten erfroren – und jetzt entdecke ich voll Staunen drei kleine, frische Nachblühende. Ganz weich, mit friedsanftenem Herzen, lese ich weiter, jetzt im alten Buch meiner ersten Begegnung mit seinen leicht vergilbten, rau gewordenen Seiten.

Alle deine Fußspuren sind gezählt, schreibt Mechthild. Sie war sehr krank am Ende ihres Lebens und zog sich – der Anfeindungen müde – in das Kloster Helfta zurück, um dort mit zwei der großen Mystikerinnen ihrer Zeit zu erleuchten und zu lehren.

Bevor sie stirbt, hinterlässt sie die tiefste, geheimnisvolle Wahrheit auf dem Weg zum Frieden in ihrem Abschiedsgedicht und schreibt, was sie alles anders machen würde, wenn sie noch länger leben würde.

Ich nehme Abschied von all meinen Feinden. Ich danke Gott, dass ich von ihnen nicht überwunden wurde. Bliebe ich länger, würde ich mich unter ihre Füße legen.

Gott im Hotel

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