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Maman
ОглавлениеIn ihrer Erinnerung war das Leben mit Maman ein einziges Fest gewesen, das einem den Boden unter den Füßen rauben konnte. Mama wollte nicht mit Mama angesprochen werden, sondern mit Maman. Sie behauptete, in Paris aufgewachsen zu sein. Auch durften die Kinder Papa nur spanisch mit Papá ansprechen. Nachts malte Maman grellbunte Bilder, deren Motive sie auf ihren Reisen durch exotische Länder im Kopf gesammelt hatte. Urwaldbilder mit prächtigen Tieren, Südseepanoramen, Labyrinthen und Mandalas. Es waren Bilder untergegangener Kulturen, wie die der Mayas in Mexiko. Die ganze Villa hing voll mit diesen Bildern, und überall standen welche herum. „Bald können wir nicht mehr laufen“ sagte Papá und lachte dabei, denn er liebte Maman und hätte sie allein wegen ihres Spleens geheiratet. Er vernachlässigte die Firma, die Mamans Vater gegründet hatte, und schleppte Maman von einer Reise zur nächsten. Während dieser Zeit kochte Großmutter für die Kinder. Woher das Geld für all die Reisen kam, interessierte Maman herzlich wenig. Hauptsache, Papá war bei ihr. Manchmal fuhr Maman auch alleine nach Sylt. Wegen ihres Asthmas, wie sie sagte. Auch dann kam Großmutter und kochte.
Eines Nachts, Inka war ungefähr acht Jahre alt gewesen, war sie aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kletterte in ihrem weißen Nachthemd, das mit schönster Stickerei versehen war, aus dem Kinderbett und stieg die lange Treppe hinab, um auf die Suche nach Maman zu gehen. Sie fand ihre Mutter im Wintergarten konzentriert vor einer Leinwand sitzend. Ihr rotes, volles Haar hatte sie wie immer mit einem grünen Samtband zu einem pompösen Turm aufgebunden. In ihrem blassen Gesicht leuchteten die Sommersprossen durch das hereinfallende Mondlicht wie winzige Diamanten. Madam la Souris, ein Mausmaki, den Maman in ihrer Handtasche illegal aus Madagaskar eingeschmuggelt hatte, saß ihr auf der Schulter.
Als Inka wie ein kleiner Geist in der Tür erschien, rollte Madame la Souris mit den Augen, während Maman nicht einmal aufsah. Sie war so sehr in das Bild vertieft, an dem sie arbeitete, dass sie nicht mehr von dieser Welt zu sein schien.
„Maman, ich kann nicht schlafen!“ rief Inka zaghaft.
Das Gesicht ihrer Mutter zeigte keinerlei Regung. Sie war offensichtlich in einer anderen Dimension gelandet. Nun, das hatte nichts geholfen, also ging Inka noch näher heran. Madame la Souris schaute sie mit großen Augen an. Inka hatte sie am Anfang nie streicheln können, da sie nur auf Maman fixiert war. Jetzt streckte sie die Hand nach dem Äffchen aus und strich ihm mit einer leichten Bewegung über den Kopf. Madame la Souris gab einen murmelnden Laut von sich, richtete ihre Riesenaugen auf Inka und schien zu grinsen.
„Maman, Madame la Souris hat mich angelacht!“ rief Inka.
Ihre Mutter lies den Pinsel sinken und drehte den Kopf herum: „Mein Schatz, was machst du denn hier? Es ist nach Mitternacht!“
„Ich kann nicht schlafen, Maman!“
„Sieh dir dieses Bild an. Ich male gerade, wie ich Papá auf der Insel Gili Montang vor einem Komodowaran gerettet habe. Er war drauf und dran, deinem Papá den Kopf abzubeißen. Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe ihn mit einem Brocken Fleisch geködert. So war er beschäftigt, und Papá und ich konnten fliehen. Ist das nicht wunderbar? Papá muss man ständig retten, er ist viel zu waghalsig.“
„Danke für die Geschichte, Maman. Darf ich jetzt Madame la Souris mit zu mir ins Bett nehmen? Damit ich schlafen kann?“ „Madame la Souris muss alleine schlafen. Ich bringe sie gleich in ihr Gehege. Aber, mein Schatz, du weißt, dass ich immer alle rette. Dich, Papá, Rolande, und alle, die mir lieb sind.“
Maman gab Inka einen Kuss auf die Stirn: „Geh jetzt ins Bett, Liebes, du musst keine Angst haben.“
Inka streichelte Madame la Souris noch einmal sanft über den Hinterkopf und ging wieder nach oben. Der Vollmond warf einen riesigen Schatten-Komodowaran auf ihre Bettdecke, aber Inka hatte keine Angst mehr. Maman war ja da, und Madame la Souris, die von Maman auch zärtlich „kleiner Schattengeist“ genannt wurde, schlief jetzt auch.