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Esbit

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Von einer ihrer vielen Reisen durch Mexiko hatten die Eltern einen Amazonenpapagei mit nach Hause gebracht. Maman kaufte ihm eine Stange, auf der er sitzen sollte, und brachte sie mitten im Wohnzimmer an. Die Flügel des Papageis waren bereits in Mexiko gestutzt worden, so dass er nicht davonfliegen konnte. Sein Gefieder war durchgehend knallgrün, nur auf der Stirn hatte er einen roten Fleck. Dieser schillernde Vogel war nun der Chef der Familie, was Rolande zur Weißglut brachte, denn das Tier forderte die volle Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder ein. Blieb diese für eine Weile aus, konnte man sicher sein, dass er bald von einer Mauer fiel und sich ein Bein brach. Oder er landete mit dem Fuß auf einer Schraube und verletzte sich daran. Von allen Seiten kam dann Mitleid, so dass er wieder zufrieden war.

Als der Vogel einmal volle drei Wochen lang im Mittelpunkt stand, weil er wegen eines verstauchten Beines immer mit der Hand auf seine Stange gesetzt und wieder herabgenommen werden musste, setzte Rolande sich einen Tag lang vor ihn hin und sagte in halbminütigem Abstand „Arschloch“ zu ihm. Da diese Papageienart sehr gelehrig ist was das Sprechen betrifft, sagte der Vogel noch am selben Abend zum ersten Mal „Arschloch“. Maman war begeistert: „Jetzt haben wir endlich einen Namen für unseren Chef. Er soll Monsieur Connard heißen.“ Rolande bekam vor Wut einen roten Kopf. Das verdammte Viech war noch weiter ins Zentrum der Familie gerückt.

Monsieur Connard lernte schnell weitere Wörter und ahmte mit der Zeit sogar das Klingeln des Telefons nach. Einmal hatte Rolande deshalb sogar nach dem Hörer gegriffen. Wütend warf er einen der ebenfalls aus Mexiko importierten kleinen Dias de los Muertos-Totenköpfe nach dem Vogel. Der kreischte, plusterte sein Gefieder auf und sagte, diesmal besonders deutlich: „Arschloch“.

Maman tat es leid, wenn der Vogel an seiner Stange angebunden war, weshalb sie öfters die Kette von seinem Fuß löste. Dann flatterte er mit gestutzten Flügeln quer durch das Wohnzimmer. Zwar kam er nicht besonders weit, doch es reichte immerhin, um auf Rolandes Schultern zu landen und ihm kräftig ins Ohrläppchen zu hacken. Rolande war groß und kräftig gebaut, hatte braune Augen und blonde Haare. Ganz der Großvater mütterlicherseits. Papá sagte öfter, Rolande mache alles nur mit Kraft, was nicht viel nützen würde gegen einen Vogel. Besonders schlimm war es für Rolande, dass der Papagei keinerlei Respekt vor seinem Klavier zeigte. An der Stelle, wo das Pedal herausschaute, hatte er mit seinem harten Schnabel bereits eine tiefe Kerbe ins Holz geknabbert. Als würde es ihn stören, dass Rolande viel zu häufig das Pedal gebrauchte. Auch sonst schien der Vogel ein Gespür für Musik zu haben. Wenn Rolande das Ave Maria von Bach spielte, fiel Monsieur Connard jedes Mal in traurigem Singsang mit ein. Maman und Papá kümmerte die Sache mit dem Klavier wenig, doch Rolande, der auf alle seine Habseligkeiten sehr genau achtgab, war verzweifelt. Er hasste den Vogel wie die Pest, und Inka fragte sich oft, wann er ihm den Hals umdrehen würde.

Im Gegensatz zu Rolande, den er überhaupt nicht mochte, liebte der Papagei Papá ganz besonders. Jedes Mal, wenn dieser telefonierte, kam er angeflattert und hängte sich kopfüber an die Stange des Telefontischchens, den Bauch nach oben gedreht. In demutsvoller Haltung legte er sich dann auf den Rücken, und Papá musste ihm mit dem Zeigefinger den Bauch kraulen. Wenn Rolande diese Szene beobachtete, kam ein gefährliches Grollen in sein Gesicht. Maman hingegen brach in Lachtränen aus und presste unter Kichern hervor: „Da haben sie uns wohl in Mexiko ein Weibchen statt eines Männchens verkauft.“

Es war der 24. Dezember, Heiligabend. Wie immer hatte Maman die Osterdekoration herausgeholt, mit den Kindern Ostereier bemalt und den riesigen Stoffhasen dort platziert, wo an Ostern der Christbaum stand. Maman hielt nichts von Traditionen, weshalb sie einfach alles umdrehte: Weihnachten war Ostern, und Ostern war Weihnachten. Für die Kinder hatte sie bemalte Eier und Geschenke versteckt. Rolande hatte in einem Pflanzenkübel im Wintergarten eine Dampfmaschine gefunden, die er mit freudigem Grinsen ins Wohnzimmer trug. Papá half ihm, das Ding in Gang zu bringen. Im Grunde war Papá, ebenso wie Maman, noch ein kleines Kind. Er freute sich fast noch mehr als Rolande über die Dampfmaschine. Bald konnte man ein Zischen hören, und weißer Dampf entstieg der Maschine, nachdem Papá mit Esbit ein Feuer entfacht hatte. Das waren kleine, weiße Brennstoff-Tabletten, die Hexamethylentetramin enthielten. Monsieur Connard hüpfte aufgeregt um den Kessel herum, was ihm jedoch zum Verhängnis werden sollte. Als Inka am ersten Weihnachtsfeiertag morgens das Wohnzimmer betrat, lag Monsieur Connard reglos auf dem Rücken, die Beine weit gespreizt nach oben gereckt neben der Dampfmaschine. Er musste sich an den Dämpfen vergiftet haben. Die Dampfmaschine wurde daraufhin in den Keller verbannt. Für Rolande waren diese Weihnachten trotzdem die glücklichsten seiner Kindheit. Eine Riesenlast war von seinen Schultern gefallen.

Ich bin Virginia Woolf

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