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Was geschieht mit uns?

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Eigentlich haben wir doch nur etwas Genaues über „Indogermanen“, „Indoeuropäer“ und „Arier“ wissen wollen. Wer sie sind, seit wann bekannt ist, daß sie es sind, wie bekannt geworden ist, daß es sie gibt, wer hat sie gefunden und wie und warum und wozu? Uns werden Geschichten erzählt, Erklärungen geboten, Zusammenhänge aufgezeigt, die fragwürdig sind. Sie stimmen nicht überein mit so vielem, was wir betrachten in unserer Umgebung und in unserer Welt. Also müssen wir weiter fragen. Zu Beginn erschienen uns unsere Fragen einfach. Dem ist nicht so. Wir suchen nach Antworten, schon seit über fünf Jahren. Wir finden keine. Falsch. Wir finden Antworten, aber keine überzeugenden. Es sind Antworten mit Haken und Häkchen. Antworten, die uns immer wieder zu mehr Fragen veranlaßt haben. Es ist, als ob wir mit unseren an sich schlichten Fragen die Büchse der Pandora aufgestoßen hätten. Fragen ohne Ende. Anscheinend.

Fragen ohne Ende fallen uns ein, weil es viele, zu viele ungeklärte Zusammenhänge gibt. Zur großen Politik wie auch zu Problemen des Alltags. Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kategorien wie „Indoeuropäer“ und „Arier“ einerseits und Jagd auf fremde Menschen andererseits? Müssen wir uns beispielsweise nicht fragen, welches die Zusammenhänge für die Jagd auf fremde Menschen in den reichen Ländern sind? Werden alle Fremden gejagt? Was ist fremd? Wie wird die Fremdheit wahrgenommen? Wo beginnt die Fremdheit? Wie definiert sich „fremde Rasse“? Wie ist ihre Wertigkeit? Kann es Verfolgung „fremder Rassen“ ohne die Erfindung von „Rasse“ geben? Wer hat wann „Rasse“ erfunden? Viele Geschichten werden erzählt. Allerlei Geschichten über „die Anderen“, über „die Fremden“, über deren Kulturen, die durch die „modernsten“ Transportmittel, die „Medien“, zu uns gebracht werden und von uns vermehrt konsumiert werden. Überall. In den reichen Ländern mehr. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Verfolgung fremder Menschen und dem schnellen Transport dieser Geschichten?

Lassen nicht solche Geschichten ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber allen anderen entstehen? Über Armut, über Katastrophen, über Inkompetenz, über Korruption, über Willkür? Und Überlegenheit gegenüber Personengruppen wie Asylsuchende und Asylanten, über Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge, über unerwünschte und nützliche Einwanderer, über Obdachlose und arbeitsscheue Sozialhilfeempfänger, usw., usw.? Sind wir nicht besser dran? Haben wir nicht mehr aus uns gemacht? Wir? Wir die Zivilisierten, die Überlegeneren? Müssen wir nicht stolz auf uns sein?

Seit wann lernen wir, daß es eine unterschiedliche Wertigkeit von Menschen nach äußeren Merkmalen gibt wie: groß – klein, stark – schwach, blond – nichtblond, blauäugig – nichtblauäugig, weiß – schwarz und die vielen anderen „rassischen“ Merkmale. Was ist „Rasse“? Seit wann gibt es das Bewußtsein, daß es „Rassen“ von Menschen mit unterschiedlicher Qualität gibt? Wann ist die „arische Rasse“, die in allen Belangen den übrigen „Rassen“ überlegen sein soll, erfunden worden? Und wann ist zum ersten Mal vom Stamm der „Indogermanen“ bzw. der „Indoeuropäer“ gesprochen worden? Entdeckt oder erfunden? Gibt es tatsächlich die „arische Rasse“, die „Indogermanen“, die „Indoeuropäer“, oder sind es doch nur nützliche Phantasien? Seit wann gibt es Kategorien wie: „Wir“ und „die Anderen“?

Müssen wir uns beispielsweise nicht fragen, wie reiche Länder reich geworden sind? Wieso werden die Reichen immer reicher, auch innerhalb der reichen Länder? Wieso jagen die reichen Staaten waffentechnisch unterlegene Staaten? Wieso verstecken sich die reichen Staaten hinter immer unterschiedlicheren Fassaden wie beispielsweise die „NATO“, die „internationale Staatengemeinschaft“ und jagen gemeinsam andere Staaten und attackieren andere Kulturen. Was ist die „NATO“? Was ist die „internationale Staatengemeinschaft“? Wer steckt dahinter? Welche Staaten sind es, die sich zu dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ zusammengefunden haben? Warum reichen dieser „internationalen Staatengemeinschaft“ die „Vereinten Nationen“ nicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Jagd der „internationalen Staatengemeinschaft“ auf die schwachen Staaten einerseits und der Jagd auf fremde Menschen innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ anderseits? Und dann: Wer innerhalb dieser „Staatengemeinschaft“ jagt wen? Sind die Gejagten nur Fremde?

Müssen wir uns nicht fragen und wissen wollen, wie es den Heranwachsenden zu Mute ist, wenn „Promis“ mit Leibwächter die „anständige Bevölkerung“ auffordern, in der Öffentlichkeit „Gesicht“ zu zeigen und den „Aufstand der Anständigen“ zu proben? Im 21. Jahrhundert? Würden beispielsweise die gleichen Aufforderungen in Deutschland erfolgen, wenn die Neonazis nicht Synagogen und jüdische Friedhöfe schänden würden, aber doch Jagd auf Menschen „minderwertiger Rassen“ machten? Oder wenn überall innerhalb der „Staatengemeinschaft“ Synagogen und jüdische Friedhöfe im gleichen Umfang geschändet würden?

Fällt es nicht auf, welche Inflation von Erklärungen für diese Übergriffe von den vielfältigen „Medien“ geliefert wird? Ist es nicht immer ein Wettkampf der Prominenten untereinander, um die griffigste, um die am leichtesten verkäufliche Erklärung loszutreten? Zu welchen Themen auch immer? Wie heißt es so schön? Heißt es nicht unisono, Themen „besetzen“? Themen besetzen? Damit nicht auch bestimmte Antworten? Wie sollen wir in diesem lautstarken Lärm uns noch die Zeit nehmen zu fragen: was war in Solingen, Hoyerswerda, Rostock oder wo auch immer? Hat es nicht schon immer „einen Aufstand der Anständigen“ gegeben?

Wer erinnert sich noch, was beispielsweise die deutsche Filmregisseurin Doris Dörries anläßlich „eines Aufstandes der anständigen Kulturpromis“ nach den mörderischen Übergriffen in Rostock im Thalia Theater in Hamburg als etwas Programmatisches unterbreitet hatte? Sie hatte damals gemeint, daß das „Wegschauen“ nichts mit dem „Anstand“, sondern mit der Angst zu tun hat. Angst gegenüber Rowdies. Deshalb sollte jeder, so Doris Dörries im Thalia Theater in Hamburg, jeder sollte ein für alle sichtbares Zeichen in der Öffentlichkeit tragen (an dem Tag trugen viele ein lila Band) , damit wir an allen Orten wissen, daß wir gegen Rowdies nicht allein sind. So hatte Doris Dörries damals gemeint. Liveübertragung im öffentlich–rechtlichen Fernsehen. Riesenbeifall. Wie gesagt: nach „Rostock“. Wissen wir noch, wann „Rostock“ war? Vergessen wir nicht immer mehr. Immer schneller. Wieso wird unser Gedächtnis immer kürzer?

Dann im Jahre 2000 wird von „Promis“ mit „Body–guards“ vorgeschlagen, „Gesicht“ zu zeigen. Zehn Jahre nach „Rostock“. Wie sollen wir angesichts dieser Verhältnisse noch fragen können, was vor „Rostock“ war? Vor den „Türkenwitzen“? Vor den „Gastarbeitern“? Vor der „Reichskristallnacht“? Vor der Machtübernahme Hitlers? Vor „Mein Kampf“? Vor dem Ersten Weltkrieg? Vor dem Kolonialismus? Vor dem Zeitalter der „Aufklärung“? Fragen ohne Ende. Und natürlich ohne Antworten, weil wir ja solche Fragen eigentlich nicht stellen, nicht stellen sollen.

Aber wir haben uns an diese Spielregel nicht gehalten. Wir üben, Fragen zu stellen. Beispielsweise: Ist die Alltagsgewalt von heute tatsächlich neu? Die tägliche Jagd auf Fremde, auch gegen die sozial Schwachen wie Kinder, Frauen, Arme. Was sind die Grundpfeiler dieser Kultur, für die findige Köpfe – gut dotiert – sich immer neue Namen einfallen lassen und uns diese durch die vielfältige Mediengewalt täglich einhämmern? Zwingt nicht das Tempo der fortschreitenden Entwicklung die „Wissenschaftler“ den jeweiligen Stand dieser Kultur mit einem entsprechenden Namen zu charakterisieren? Bekommen wir nicht alle Jahre wieder einen neuen Namen für die gerade gegenwärtige Kultur bzw. Gesellschaft verpaßt? Hält die Namengebung noch Schritt mit dem „Fortschritt“? Können wir uns an all die Namen erinnern?

An einige Namen erinnern wir uns schon, die der Kultur oder der Gesellschaft vorangestellt wurden: Christliche, abendländische, europäische, industrielle, westliche, Nachkriegs–, demokratische, moderne, humanistische, post–industrielle, formierte, solidarische, Freizeit–, Informations–, Risiko–, Medien–, offene, globale, Internet–, interaktive, Spaß–, Fernseh–, usw., usw. Ist dieses Ritual der Namengebung, all die diversen Bezeichnungen für ein und dieselbe Gesellschaft, eher ein Ausdruck besonderer Phantasie, besonderer Genauigkeit? Oder ein Ausdruck der Verlegenheit? Eine Suche nach Identität? Oder der verzweifelte Versuch, wesentliche Charakteristiken dieser Kultur zu verschleiern, die Aufmerksamkeit ständig auf den oberflächlichen Wandel und auf die technologische Entwicklung zu lenken? Wer hat Angst davor, daß wir die Grundpfeiler unserer Kultur selbst entdecken und sie benennen? Sind wir dazu nicht in der Lage? Sind wir zu dumm? Wenn es so wäre, warum das unaufhörliche Einhämmern, warum so viel Aufwand um die sogenannte politische Bildung? Oder sind wir doch nicht dumm? Und deshalb das Einhämmern? Pausenlos. Wir lassen die Fragen als Merkposten stehen.

Wir haben uns auf die Suche gemacht. Unsere Mittel sind bescheiden. So haben wir mit schlichten Fragen begonnen. Wer erzählt uns was? Und woher weiß der betreffende Erzähler das, was er uns erzählt? Unsere Fragen sind zwar einfach, aber sie haben wie Dynamit gewirkt. Auch deshalb, weil wir beharrlich sind und uns nicht mit geläufigen Scheinantworten abspeisen lassen. Wir dokumentieren diese unsere Suche und die Fundstücke. Wir stellen sie zur Diskussion. Damit wir alle immer besser Fragen stellen lernen. Damit wir im täglichen Leben nicht unter die Räder kommen.

*****

Das tägliche Leben wird heute durch „Informationen“ geordnet. Weltweit. Immer mehr Informationen und eine immer mehr gefestigte Ordnung. Nicht nur durch die gedruckten und elektronischen „Medien“. Informationen werden auch vermittelt durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, und das nicht zu knapp. Wo kommen die Informationen her, wo werden sie erzeugt, wer bringt sie in Umlauf, welche Wege nehmen sie, wie lange dauert es, bis eine Information vom Produktionsort das Elternhaus erreicht? Wir wissen es nicht. Ist es wichtig, das zu wissen?

Der Konsum von Informationen bereitet uns anscheinend viel Spaß und vermittelt uns viel Wissen. Wissen? Der 24-Stunden-Tag reicht kaum noch aus. Wann soll überhaupt noch nachgedacht und nachgefragt werden? Nachgedacht und nachgefragt? Ist es notwendig? Da helfen uns die Mahnungen einiger weniger Rufer wie des Medienkritikers Neil Postman wenig, daß wir uns möglicherweise zu „Tode unterhalten“ oder zu „Tode informieren“ lassen könnten. Wenn es so wäre, wäre das nicht ein sorgenfreier, ein unterhaltsamer, ein fröhlicher, ein schöner Tod? Was ist dagegen einzuwenden? Aber wir leben noch. Wir leben heute. Und wir können nicht aussteigen, selbst wenn wir wollten. Von wo und wohin? In unserer Zeit haben Robinsons keinen Platz auf diesem Planeten. Aber müssen wir aussteigen, müssen wir alles hinnehmen, was uns so gebracht wird?

Das Netzwerk des Transports von „Informationen“ wird immer dichter. Die Übertragungen sind flächendeckend. Die Menge der Informationen steigt und alles wird immer unüberschaubarer. Unüberschaubar ist auch die rasende Entwicklung der Technologien der Vermittlung. Informationen werden immer schneller zum Zielort gebracht. Rund um die Uhr. Rund um die Welt. Allein die Beherrschung der sich schnell überholenden technischen Ausrüstungen verbraucht mehr Zeit als wir eigentlich zur Verfügung haben. Geraten wir so nicht in die Informationsfalle? Sind wir uns dessen bewußt? Wollen wir uns aus dieser Falle befreien? Können wir uns befreien? Wie?

Wir haben kein Rezept gefunden. Selbst wenn wir welche gefunden hätten, würden wir sie hier nicht zum Besten geben. Dies wäre, meinen wir, unverantwortlich. Aber wir bemühen uns unaufhaltsam, uns aus dieser Falle zu retten. Wir vertrauen darauf, daß unser unaufhaltsames gemeinsames Bemühen und der ständige Austausch unserer Erfahrungen uns aus der Informationsfalle führen werden. Wir bauen darauf. Deshalb berichten wir über unsere Bemühungen.

Wir wissen wenig darüber, wo jene Informationen, die uns von unterschiedlichen Instanzen wie Familie, Schule usw. vermittelt werden, ursprünglich erzeugt werden, wer sie erzeugt und warum sie immer mehr Menschen verfügbar gemacht werden. Wir wissen auch wenig über die Gesamtmenge der verfügbaren Information und welcher Teil uns davon verfügbar gemacht wird. Und wir haben wenig Mittel, die Qualität dieser Informationen zu überprüfen. Doch wird unser tägliches Leben von Informationen überflutet. Und wie es bei einer Flut so ist, wir sehen die Flut kommen, wir sehen die Wucht der Flut und doch können wir nicht wirklich fliehen. Selbst wenn uns die Flucht gelingt, wundern wir uns, wie die Flut uns doch noch mittelbar einholt. Wir kaufen sie täglich. Aber warum kaufen wir diese Flut von Informationen und verbrauchen unsere Lebenszeit?

Und was ist Information? Alles was uns über die „Medien“ geliefert wird? Gibt es Unterschiede? In der Qualität? Welche? Wo und wie lernen wir, Informationen zu unterscheiden, zu bewerten? Ist Information bloß eine Nachricht, eine Auskunft, eine Belehrung, oder etwa auch ein Baustein für Wissen oder alles zusammen? Wer gibt uns Antworten auf unsere Fragen? Die Verkäufer dieser Informationsmaschinerie tun dies nicht. Natürlich können wir zu Nachschlagewerken greifen. Helfen sie uns weiter? Was sind Nachschlagewerke? Gibt es Unterschiede zwischen ihnen? Seit wann gibt es Nachschlagewerke? Wer sind ihre Verleger? Wer trägt die Schlagworte zusammen? Werden alle möglichen Schlagwörter erfaßt? Gibt es Auslassungen? Welche? Und woher wissen die Verfasser der Nachschlagewerke, wenn sie selbst glauben, etwas zu wissen, daß ihr Wissen auch Wissen ist? Welche sind die Quellen ihres Wissens? Was ist, wenn diese Quellen vergiftet sind oder nur den Schein vermitteln, Quelle zu sein, ohne je eine Quelle gewesen zu sein? In welchem Verhältnis stehen die Macher der Nachschlagewerke zu der Informationsmaschinerie? Wir maßen uns nicht an, auf diese Fragen Antworten auch nur zu versuchen. Aber wir meinen schon, daß wir auf Fragen wie diese Antworten suchen sollten. Gemeinsam. Wie sollen wir sonst der Gefahr entrinnen, willenloses Werkzeug, Roboter der Besitzer der Informationsmaschinerie zu werden?

Wir alle wissen, daß „Informationen“ nicht vom Himmel fallen. Sie werden produziert und dann zu uns getragen, damit wir sie auch verbrauchen. Die Bandbreite der Träger, gemeinhin „Medien“ genannt, ist weit. So scheint es. Wir haben behauptet – wahrscheinlich ohne auch nur einen dumpfen Widerspruch provoziert zu haben –, daß Informationen durch das Elternhaus, durch die Schule, durch das Umfeld, durch gedruckte und durch elektronische „Medien“ an uns heran gebracht werden. Die Bandbreite der Medien wird immer dichter. Und diese Verdichtung soll Fortschritt bedeuten. Je dichter, um so „fortschrittlicher“. So wird es uns präsentiert und wir glauben auch daran. So sehr, daß wir uns im Alltag über diese Träger, über die Medien, wenig Gedanken machen. Wir stürzen uns auf den Inhalt der überbrachten Information, debattieren über ihn mit viel Akribie. Irgendwann ist die Luft raus. Selten haben wir die Kraft und die Ausdauer uns über den Träger, über den Weg, über den Erzeuger, über die Quelle Gedanken zu machen. Und was ist, wenn die Information einen erfundenen, einen nicht zutreffenden, einen falschen, einen gefälschten Inhalt hat? Ja, was ist, wenn es so wäre? Wären wir dann nicht etwas „glauben gemacht“ worden, was nicht ist? Und wenn es so wäre, wem nutzt das? Wem schadet das? Hat es etwas mit der Macht zu tun? Ausübung der Macht durch Manipulation? Wer übt die Macht über uns aus?

Der immer schneller werdende Alltag läßt uns keine Zeit mehr, zunächst nach der Quelle und nach der Qualität der Quellen zu fragen, bevor wir uns mit dem Inhalt einer „Information“ befassen. Ist dies nicht überall die Praxis geworden, in der Hochschule, in den Lektoraten der Verlage und in den Redaktionen der Medien? Schließlich besorgt sich jeder seriöse Mensch, jede Einrichtung, Information von seriösen Agenturen. Und wir alle sind doch seriöse Menschen! Oder? Dann erübrigt sich das Hinterfragen. Man kann schließlich nicht jedes und alles hinterfragen! Wo kämen wir dann auch hin? Nirgendwo. Wir kämen überhaupt nicht von der Stelle weg. Nicht wahr? Bewegung ist angesagt. Fortschritt! Wer rastet, der rostet. Und welcher „moderne“ Mensch will rosten?

Also lernen wir die fortschrittliche Wertigkeit zu verinnerlichen. Es gibt seriöse Agenturen und es gibt unseriöse Agenturen. Es gibt seriöse Quellen und es gibt unseriöse Quellen. Es gibt seriöse Nachschlagewerke und es gibt andere. Es gibt seriöse wissenschaftliche Werke und es gibt andere wissenschaftliche Werke. Nach welchen Kriterien so entschieden wird? Wer so entscheidet und wer die Entscheidung propagiert? Wie sollen wir das wissen? Haben wir überhaupt Zeit, solche überflüssigen, rudimentären Fragen zu stellen? Wissen wir denn nicht, daß beispielsweise die Deutsche Presseagentur im Vergleich zu anderen nicht–deutschen Agenturen verläßlicher ist? TASS, Tanjug, Terra und wie sie alle heißen mögen.

Es gibt natürlich einige etwa gleich gute Agenturen, wie Reuters, AP, AFP. Sie tauschen ihre Informationen auch untereinander aus. Ungeprüft, versteht sich. Der Rationalisierung wegen. Schließlich müssen die Agenturen wirtschaftlich organisiert sein, genug Geld verdienen, um sich gute Mitarbeiter leisten zu können. Kurz: alle Agenturen, die zu uns gehören, sind auch seriös und glaubwürdig. Wäre es nicht so, würden sie auch nicht zu uns gehören. Bekannte Nachschlagewerke sind eben seriöser, sonst wären sie ja auch nicht bekannt. Renommierte Verlage sind, na ja, wir wissen schon. Ein viel schreibender Wissenschaftler ist eben weiser. All dies hat man zu wissen. Sonst läuft man Gefahr, kurzatmig und unbeweglich zu werden. Zu rosten.

Wie schon erwähnt, werden wir nicht nur von einer unüberschaubaren Menge von „Informationen“ überschüttet, sondern auch die Geschwindigkeit des Überschüttetwerdens steigt ständig. Dabei haben wir, hat die Menschheit, etliche Quantensprünge beim Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen und Meinungen hinter sich: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Gibt es heute noch Möglichkeiten, eine Fälschung vom Original zu unterscheiden? Machen wir uns Gedanken darüber? Haben wir Zeit dazu? Wird es nicht immer schwieriger, der Quelle einer „Information“ nachzuspüren, die Verläßlichkeit einer Quelle zu prüfen, „die Spreu vom Weizen“ zu trennen? Wie bewußt sind wir uns dieser mißlichen Lage? Fragen über Fragen. Wir haben Antworten gesucht und nicht gefunden. Nicht in den Nachschlagewerken, nicht in den sogenannten wissenschaftlichen Büchern. Weil wir auf der anderen Seite mit dem Ist–Zustand nicht klar kommen, beschreiten wir unübliche Wege, stellen unübliche Fragen. Wir wissen nicht, ob wir dadurch auch verläßliche Antworten auf unsere Fragen finden werden. Aber die Tatsache allein, daß wir begonnen haben, unübliche Fragen zu stellen, hilft uns, mit dem Ist–Zustand der Macht-Medien-Manipulation durch „Information“ immer besser klarzukommen. Wie war der Zustand der Macht-Medien-Manipulation früher?

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Wie verläßlich ist der Austausch von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der Kultur der schriftlosen Zeit gewesen? Zu dieser unserer zentralen Frage erzählen uns „Sprach– und Kommunikationswissenschaftler“ so gut wie nichts. Es ist schon so lange her. Außerdem ist es nicht eine wissenschaftliche Nicht–Frage? Haben wir nicht schon immer gelernt, daß wir heute im fortschrittlichsten Zeitalter mit der höchst entwickelten Kultur aller Zeiten leben? Die Gnade bzw. das Glück der Spätgeborenen?

Die fleißigen „Wissenschaftler“ von heute sagen uns aber nichts über die Verläßlichkeit, über die Genauigkeit der Wissensvermittlung in der schriftlosen Zeit im Vergleich zu der Zeit nach der Erfindung der Schrift, bis hin zum nächsten Quantensprung, der Erfindung des Buchdrucks mittels Bleilettern. Wir haben sie auch noch nicht so eindeutig gefragt. Angeblich soll es ja keine Antworten geben, wenn nicht ausdrücklich danach gefragt wird. Angeblich. Das Gesetz des Marktes soll es sein: Keine Nachfrage, kein Angebot. Wenn wir aber – dem Markt zum Trotz – häufig den Eindruck haben, daß uns mehr Antworten gegeben werden als gefragt, dann stimmt möglicherweise etwas mit unserem Apparat der Wahrnehmung nicht. Oder? Und wenn Antworten gegeben werden, bevor überhaupt gefragt worden ist? Was dann?

Auf unsere zentrale Frage über die Verläßlichkeit des Austausches von Beobachtungen, Erfahrungen, Erkenntnissen und Meinungen unserer Vorfahren in der schriftlosen Zeit, sind wir auf unsere Vorstellungskraft angewiesen. Wir stellen uns vor, daß der ursprüngliche Austausch unserer Vorfahren über Laute und Gestik von Angesicht zu Angesicht stattgefunden haben muß. Überall. Ob neben dem Sehen und Hören auch andere Sinnesorgane für diesen Austausch herangezogen wurden, lassen wir an dieser Stelle außer Acht, weil wir uns dies nicht vorstellen können.

In unserem Zusammenhang scheint uns entscheidend zu sein, daß Laute und Gestik der Gattung Mensch schon immer nur eine endliche Bandbreite hatten und immer noch haben. Andere Gattungen haben andere Bandbreiten. Wenn sich Katzen aller Länder ohne wissenschaftlich akribische Stützen verständigen können, müßten das auch Menschen schon immer gekonnt haben und heute noch können. Auch ohne die Stütze durch Sprach– und verwandte „Wissenschaften“. Seit wann gibt es sie überhaupt, diese Wissenschaften?

Wir stellen uns vor, daß unsere Vorfahren ihr Umfeld immer genauer abgestuft wahrgenommen und für den Austausch von Wahrnehmungen und Erfahrungen die Bandbreite von Lauten zur Sprache und die Gestik zur darstellenden Kunst ausgeformt haben. Wir stellen uns ebenfalls vor, daß diese Systematisierung ein langandauernder, mühsamer Weg gewesen ist und ohne die Austauschform von Angesicht zu Angesicht nicht möglich gewesen wäre. Unterschiedliche Beobachtungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Meinungen wurden ausgetauscht, besprochen, angeglichen und vereinbart. Einvernehmlich. Fortwährend. Gespeichert wurde der Inhalt im Kopf. Außenspeicher waren und sind bei dieser Austauschform nicht zwingend notwendig. Auch zu unserer Zeit wird diese Austauschform im Alltag hauptsächlich praktiziert. Ohne dauerhafte Mißverständnisse. Deshalb können wir uns auch ohne die so genannten wissenschaftlichen „Stützen“ verständigen. Wäre die Qualität dieser Austauschform nicht überzeugend, würde es zur Ansammlung von Wissen gar nicht gekommen sein, auch nicht das Bedürfnis entstanden sein, über Schriften das angesammelte Wissen auch außerhalb des Kopfes zu speichern. Sicherheitskopien im Außenspeicher. Aber eben Kopien, und nicht als Ersatz für den audiovisuell gestützten Kopfspeicher.

Jeder Austausch von Angesicht zu Angesicht, seien es Erfahrungen, seien es Beobachtungen, seien es Meinungen, seien es Phantasien, seien es Berichte über Geschehnisse, seien es Lügengeschichten, beeinflußt uns, verändert uns und wir wachsen dadurch, in welche Richtung auch immer. Wir hören und sehen uns dabei unmittelbar. Ohne Vermittlung durch technische Hilfsmittel, bzw. Geräte. Wir registrieren die Betonungen der Sprache und wir beobachten die Regungen im Gesicht. Wir sind gegenseitig unmittelbar Fragen und Kommentaren zugänglich. Keine andere Austauschform kann wirkungsvoller sicherstellen, daß der auszutauschende Inhalt unmißverständlich und wahrheitsgetreu übermittelt werden kann.

Wir wissen nicht, seit wann vorsätzlich gelogen wird und seit wann es Fälschungen gibt. Wir wollen uns auch nicht ablenken lassen mit müßigen Fragen wie: seit wann wir lügen, seit wann wir fälschen, seit wann wir aus Eigennutz andere aufs Kreuz legen, oder auch wann und wo zum ersten Mal eine Fälschung als solche später aufgeflogen ist. Für uns ist die Erkenntnis wichtig, daß unvermeidbare, aber doch wahrgenommene Fehler, verursacht durch die Tücke des Objekts, uns immer in die Versuchung führen können, vergleichbare Fehler von anderen unbemerkt einzuschleusen, wenn es uns nützt. Und uns nützen heißt mit anderen Worten natürlich, anderen zum Nachteil gereichen.

Wie groß ist eigentlich das Risiko beim Fälschen? Auf jeden Fall ist das Risiko kalkulierbar. Wahrscheinlich fliegt es gar nicht auf. Wahrscheinlich fliegt es so spät auf, daß der Fälscher nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann. Und sollte die Fälschung doch zeitig auffliegen, wie soll entschieden werden, ob es sich um eine Fälschung handelt oder nur falsch ist, durch die „Tücke des Objekts“, so zu sagen! Selbst wenn alle Wahrscheinlichkeit dafür sprechen würde, daß die Tücke des Objekts auszuschließen ist, gäbe es noch viele Möglichkeiten sich herauszureden. Wer kennt das nicht? Wer erinnert sich nicht an die vielen „black-outs“ der Regierenden jüngster Zeit?

Nun: die gesellschaftliche Kategorie, einem nutzen – dem anderen schaden bzw. Vor– und Nachteil setzt Verteilung der begehrten Objekte voraus. Seit wann? Wir wollen es nicht untersuchen. Aus schon bekannten Gründen. Warum sollen wir uns auf den Holzweg der Erkenntnisgewinnung begeben? Also bleiben wir bei Verteilung. Und alles was begehrt ist, wird auch knapp. Warum nicht bei den an sich gleich zu verteilenden begehrten Objekten, uns in dem Maße begünstigen, wie es auch durch die „Tücke des Objekts“ hätte passieren können. Wo ist das Risiko? Fest steht, daß schon seit einigen Jahrhunderten gefälscht und gelogen wird. Mit steigender Tendenz. Gestützt durch die rasend schnell wachsenden, vermarktbaren Technologien. Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Manipulation eines Originals nicht mehr feststellbar. Diese Technik macht es möglich, daß beliebig viele Kopien des Originals und Kopien von Kopien ohne Qualitätsverlust hergestellt werden können. Nicht eine gewaltige Kulturleistung? So wird uns diese Technologie verkauft. Sie leistet noch mehr. Sie öffnet der Fälschung Tür und Tor. Denn im Klartext heißt diese Technologie nämlich, daß ein Dokument, ein Bild, ein Klang in Ziffern aufgelöst, beliebig oft neu geschrieben und wieder in Dokument, oder Bild oder Klang umgewandelt werden kann. Natürlich können unterwegs einige Ziffern verloren gehen, oder auch verschwinden oder aber auch hinzugefügt werden. Am Ende steht eine Endanfertigung und sie steht eben, ausschließlich und endgültig. Hauptsache sie ist schön und vermarktbar. Fortschritt eben!

Kehren wir zurück zur Schrift. Mit der Erfindung der Schrift als Mittel (Medium) des Austausches (der Kommunikation) gehen uns die Höhen und Tiefen des Klangs beim Erzählen und die Regungen im Gesicht als Ausdruck des Gemütszustandes verloren. Auch die Gelegenheiten zur Klarstellung und zur gemeinsamen Einschätzung. Es ist eigentlich unwichtig herausfinden zu wollen, wo und wer auf dieser Erde sich zum ersten Mal als Erfinder der Schrift brüsten konnte. Und wer sich brüsten will, muß es wohl nötig haben. Es wäre auch ohnehin eine Reise in die Sackgasse, eine Beschäftigungstherapie, typisch für eine „Guinnessbuch-Kultur“ oder, was noch schlimmer wäre, ein Ablenkungsmanöver von wesentlichen Fragen. Denn selbst wenn zweifelsfrei festgestellt werden würde, wo, wann und von wem die Schrift zuerst erfunden wurde, hätten wir als Menschheit davon keinen brauchbaren Erkenntnisgewinn. Eher eine Vergeudung von Energie und Zeit, die zum wirklichen Erkenntnisgewinn dann fehlen könnte. Zum Beispiel bei folgenden Überlegungen.

Es ist allseitig unbestritten, daß die Erde einige Millionen Jahre und die Menschheit einige hunderttausend Jahre älter ist als Moses uns „glauben machen“ will bzw. die christliche Zeitrechnung zählt. Es ist auch unbestritten, daß der Mensch als gesellschaftliches Wesen vom Beginn an über den bloßen Reflex auf Umweltreize hinaus Erfahrungen gemacht, über die Erfahrungen nachgedacht hat, Erfahrungen prognostiziert, die Bedingungen im Umfeld gespeichert, mit den Zeitgenossen ausgetauscht, sich dabei gegenseitig ergänzt und anderen berichtet hat. Diese unmittelbaren Beobachtungen und Erfahrungen und deren Weitergabe markieren die Geburtsstunde der Wissenschaft. Wir können beim besten Willen nicht nachvollziehen, wenn gemeinhin behauptet wird, daß die wirkliche Wissenschaft die „moderne Wissenschaft“ sei, die durch Experimente, also durch das Wiederholen unter kontrollierten Bedingungen gekennzeichnet ist und etwa seit 300 Jahren praktiziert wird. Beginnend in Europa, nunmehr mit steigender Tendenz weltweit verbreitet. Diese Zäsur hat sich nicht so einfach willkürlich eingeschlichen, sie ist nicht nur falsch, sie ist eine Fälschung.

Uns fehlt das Vermögen zu glauben, daß die Akteure der „modernen Wissenschaft“ sich dessen nicht bewußt sind bzw. gewesen sind, daß ihre Tätigkeit auf den Tätigkeiten ihrer Vorfahren basierte. Und daß jedes Experiment vorhandenes Wissen voraussetzt. Logisch kann es keine Hypothesen ohne Thesen geben, ebenso keine Thesen ohne einen Sockel aus gesichertem Wissen. Wie konnte es dennoch geschehen, daß die „modernen Wissenschaftler“ nur das eigene Tun als die wirkliche Wissenschaft ausgeben, und damit alles frühere als nicht wissenschaftlich herabwürdigen? Und dies angesichts jener mühsamen Ansammlung von Beobachtung, Wahrnehmung, Deutung, Bewertung, Meinungsbildung, Austausch und der fortwährenden Überprüfung im wirklichen Leben. Nicht im Labor!

Wie kann es bis zu unseren Tagen geschehen, daß diese Fälschung auch noch weltweit vermarktet werden kann? Eine interessante Frage und eine wichtige Frage. Wir müssen diese Frage hier als einen Denkposten belassen. Wir halten nur fest, daß die Zäsur „moderne Wissenschaft“ nicht nur falsch ist, sie ist auch problematisch, weil hiermit unter der Hand ein weiter Bereich menschlicher Erfahrung durch diese Verengung ausgegrenzt wird, nämlich die Metaphysik. Alles was das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ übersteigt, soll es auch nicht geben. Wir werden sicherlich keinen Widerspruch mit unserer Behauptung ernten, daß das Fassungsvermögen der „modernen Wissenschaftler“ sehr vom Markt geprägt wird.

*****

Aber kehren wir zu dem zurück, was noch allseitig unbestritten ist, nämlich die Geburtsstunde des Zusammentragen und des Speichern von Wissen im Kopf durch unsere Vorfahren. Wir stellen uns vor, daß sie als wachsame Beobachter (Empiriker) bald gemerkt haben, daß sich beim Abrufen der im Kopf gespeicherten Erfahrungen Fehler einschleichen können. Was tun? Viele Wege müssen gegangen worden sein, um das einmal gewonnene Wissen auch für die Nachwelt sicher zu erhalten. Wir können nachvollziehen, daß die Technik des Absichern eine Bandbreite gehabt hat. Von den kollektiven Übungen der fehlerfreien Abrufens, Konstruktion von Eselsbrücken, Dichtung von lebensnahen Erzählungen über unterschiedlichste Geschehnisse, Verse über Ereignisse und Erkenntnisse mit unterschiedlicher Metrik, Klängen, bis hin zu Markierungen außerhalb des Kopfspeichers auf witterungsbeständigen Materialien. Und die Markierungen sind über Zeichnungen, graphische Darstellungen, Symbole zu Buchstaben und zur Schrift geworden. Durch die Vielfalt der überlieferten Medien unterschiedlicher Reichweite und Qualität legen unsere Vorfahren uns nah, daß sie über einen möglichen Verlust des von Angesicht zu Angesicht gewonnen Wissens sehr besorgt gewesen sind und deshalb möglichst viele Außenspeicher als Stütze des Kopfspeichers anlegten. Damit übermitteln sie uns auch, daß sie keinen der Außenspeicher als Ersatz ansahen. Die Entwicklung der „Phonetik“ in der Schrift ist der Hinweis, wie besorgt sie über den Verlust des Klanges bei der Nutzung von Außenspeichern waren.

Es ist auch unbestritten, daß die Erfindung und Entwicklung von Schrift als Träger der Sprache eine gewaltige Kulturleistung gewesen ist. Die Schrift hat es möglich gemacht, daß das angesammelte Wissen – wenn auch in einer etwas abgemagerten Form – außerhalb des menschlichen Kopfes gespeichert werden konnte. Dadurch wird die Begrenzung des Raumes und der Zeit für den geistigen Austausch überwunden. Auch wird der Umfang von Erfahrungen und Einschätzungen vergrößert. Die Schrift als Außenspeicher, als eine mittelbare Ergänzung zum unmittelbaren Austausch, bereichert unsere Wahrnehmung und Erfahrung. Ohne jeden Zweifel.

Bekanntlich hat jede Lichtseite auch eine Schattenseite. Seit es die Schrift gibt, scheint der Umfang des unmittelbaren Austausches aus welchen Gründen auch immer tendenziell abzunehmen. So verflüchtigt sich auch nach und nach die Möglichkeit der unmittelbaren Überprüfung, der sofortigen Korrektur des fehlerhaft Wahrgenommenen. Wie oft erfahren wir im Alltag die Schwierigkeit, das, was uns im Kopf klar ist, so in Worte und in Sätze zu fassen, daß es von unserem Gegenüber auch so verstanden wird, wie wir es gemeint haben. Allein vom Ausdruck des Gesichts unseres Gegenübers entziffern wir, ob der gesendete Inhalt ohne Verzerrung und Entstellung ankommt. Im Zweifel wählen wir andere Worte, andere Sätze und wiederholen wir die Sendung. Bei Unverständnis oder Widerspruch geben wir zusätzliche Erläuterungen. Den Austauschvorgang beenden wir im gegenseitigen Einvernehmen. Tendenziell findet also der Austausch von Angesicht zu Angesicht ohne Mißverständnis statt.

Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, eine Lügengeschichte glaubhaft abzusetzen, äußerst eingeschränkt. Wie heißt es so schön etwas übertreibend? Beim Lügen wackelt unsere Nase. Beim Lesen sind wir auf unser Entzifferungsvermögen und unsere Auffassungsfähigkeit angewiesen, vorausgesetzt, daß die schriftliche Übermittlung einfach und allseitig verständlich abgefaßt ist. Aber was ist, wenn bewußt etwas Falsches übermittelt wird? Beim Lesen sehen wir keine „Nase“! Und unser Eindruck ist, daß wir immer weniger „die Nase“ vermissen, immer bequemer werden und uns mit mittelbarer Unterhaltung begnügen, uns immer williger mittelbar unterhalten lassen, geneigter sind alles zu glauben, was an uns mittelbar herangetragen wird. Bald wird uns die Scheinwelt, die virtuelle Welt heimisch und die wirkliche Welt fremd.

Es ist nicht unsere Absicht, hier nachzeichnen zu wollen, wie die Dominanz des Außenspeichers und die Verkümmerung des Kopfspeichers im einzelnen verlaufen ist und immer noch verläuft. Wir erinnern uns lediglich an die bereits erwähnten Quantensprünge dieser Entwicklung: die Erfindung von Schrift, Druck, Film, Telegraphie, Funk, Telefon, Fernsehen, Internet, Digitalisierung. Und wir erinnern uns auch an die Kehrseite dieser Quantensprünge. Sie, die Kehrseite, macht uns darauf aufmerksam, daß der Außenspeicher nie eine Kopie, sondern eine Übersetzung des Originals ist. Und die Konturen von Übersetzungen stets unschärfer als Kopien und die Konturen von Kopien unschärfer als das Original sind (digitale Kopien ausgenommen). Es braucht nicht hervorgehoben zu werden, daß die Übersetzungen von Kopien und die Übersetzungen von Übersetzungen eben falscher sind, auch ohne bewußte Fälschung. Aus der Natur der Sache heraus.

Wir haben wiederholt den Ausdruck „Quantensprung“ verwendet. Wir nehmen diesen Ausdruck, der aus der Atomphysik stammt, mit einer dicken Entschuldigung zurück. Gemeint haben wir mit diesem Ausdruck einen unerwartet großen Sprung auf der Entwicklungsschiene, und nicht das Verhalten von Quanten bei der Atomspaltung, das wir aus eigener Anschauung nicht nur nicht kennen, sondern vom dem wir auch keine Ahnung haben. Aber ist der Gebrauch von solchen Begriffen nicht hübsch, beeindruckend, Eindruck schindend, bluffend und fälschend?

Aber richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die unerwartet großen Sprünge und lassen uns nicht durch „Guinness–Fragen“ ablenken, wie groß eigentlich groß ist. Diese von uns erwähnten Sprünge beziehen sich auf die Eigenschaften von Speichern und Trägern des Wissens und nicht auf die Sprünge des Wissens, bzw. der Erkenntnis. Und wir müssen uns eingestehen, daß wir über die Sprünge des Wissens wenig wissen. Wieso? Wer will es wissen? Für die „moderne Wissenschaft“ ist dies eine Nichtfrage. Und Themen, mit denen sie sich nicht befaßt, sind über kurz oder lang verschüttet.

An dieser Stelle müssen wir uns auch entschuldigen dafür, daß wir zu Beginn eine Nachrichtenagentur namens Terra genannt haben, die es gar nicht gibt. Dies sollte nur ein Beispiel dafür sein, wie leicht etwas nicht Existierendes in Umlauf gebracht werden kann. Haben wir noch Zeit, Lügen und Fälschungen aufzudecken? Oder noch das Bewußtsein, daß ein Berg eine Fügung von unterschiedlich großen Steinen ist? Wir nehmen an dieser Stelle auch einen unbeabsichtigten Bluff zurück, nämlich: Es ist nicht unsere Absicht, hier nachzeichnen zu wollen, wie die Dominanz des Außenspeichers und die Verkümmerung des Kopfspeichers im Einzelnen verlaufen ist und immer noch verläuft. Auch darüber wissen wir nichts. Es gibt keine Forschung über die Verkümmerung des Kopfspeichers. Aber doch über die Entlastung des Kopfes durch technische Hilfsmittel. Diese Entlastung ist uns als die Humanisierung der Arbeitswelt schmackhaft gemacht worden. Die Hilfsmittel lassen sich ja auch leichter vermarkten als etwaige Übungsprogramme für die Steigerung der Effizienz des Kopfspeichers. Was wissen wir über die Beschaffenheit des Kopfspeichers? Wie weit ist die Entdeckung in diesem Bereich fortgeschritten? Was wissen die Gehirnforscher über die Gehirnmasse? Gehirnmasse? Kann die Zusammensetzung der Gehirnmasse beschrieben werden? Ihre Funktionsweise? Ihre Kapazität?

Wir können nicht übersehen, daß das Wissen unmittelbar mit der Wahrnehmung, mit der Entdeckung zunächst im Umfeld, und deren Verarbeitung zu tun hat. Erst das Wissen macht den Speicher erforderlich. Der Kopf als Speicher war schon immer da, auch ohne die Entdeckung seiner Beschaffenheit. Das Arbeiten mit dem Kopfspeicher setzt keine neuen Entdeckungen voraus, sondern die Erfindung von Techniken. Die Sprache ist keine Entdeckung, sondern eine Technik. Die Schrift ist ebenfalls eine Technik. Der Außenspeicher ist keine Entdeckung. Er ist ein technologisches Hilfsmittel, ein Werkzeug. Ausgetüftelte Technologien könnten bequemer zu Entdeckungen, zu Wissen, zur Wissenschaft führen, aber die Erfindung von Technologien ist keine wissenschaftliche Tätigkeit, vielmehr setzt diese Tätigkeit Wissenschaften voraus. Für die Beurteilung und Bewertung unserer Tage halten wir ein klares Auseinanderhalten von Wissenschaft und Technologie für unerläßlich. Denn nur dieses Auseinanderhalten ermöglicht uns Einblicke in das Verhältnis von Wissenschaft und Technologie. Wichtig scheint uns die Erkenntnis, daß Sprache, Schrift, Buchdruck, bis hin zum Internet, Erfindungen sind, die das angesammelte Wissen, die Wissenschaft tragen, bzw. transportieren können. Sie werden bedeutungslos, wenn die Wissenschaft verkümmert. Wem nützt es, wenn nur Bedeutungsloses hin und her transportiert wird? Auf „Moorhühner“ schießen wäre dann unterhaltsamer.

Wichtig scheint uns auch die Erkenntnis, daß der mittelbare Austausch von Wissen den unmittelbaren Austausch von Wissen nicht ersetzen kann. Aber die ständig zunehmenden Einrichtungen und die Geschwindigkeit der Übermittlung – wir haben bereits dies als unkontrollierbare Flut charakterisiert –, macht es uns schwer, den transportierten Inhalt zu fassen, zu bewerten, zu überprüfen. Immer mehr fehlen uns nicht nur die Zeit und Gelegenheit dafür. Uns fehlen auch die Menschen für einen unmittelbaren Austausch über die mittelbaren Anlieferungen. Wir werden auch den Eindruck nicht los, daß uns fortwährend eingehämmert wird, daß die Träger (Medien) die eigentliche Botschaft sind, und nicht, daß sie Botschaften tragen sollen. Der Buchdruck, das Transistorradio, das Fernsehen, das Internet sind die Botschaft, nicht die „Demokratisierung“ und nicht die Herstellung „demokratischer“ Verhältnisse. Wir alle wissen, daß diese Entwicklung nicht vom Himmel gefallen ist. Wir alle wissen auch, daß an dieser Entwicklung viele viel Geld verdienen und Macht ansammeln. Wie? Meist unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Besitzverhältnisse werden verdeckt. Die Gewinne werden verschleiert. Kann das gut sein?

Es scheint so richtig zu sein. Warum soll denn in einer Demokratie (Herrschaft des Volkes) einer aus dem Volk genau wissen wollen, wie ein Reicher zu seinem Reichtum gekommen ist? Schließlich ist das Steuergeheimnis eines der höchsten Güter, das in der Demokratie geschützt bleiben muß. Wird dadurch nicht verhindert, daß wir zu einem Volk von häßlichen „Sozialneidern“ verkommen und unseren Wirtschaftsbossen das eigene Land vermiesen und sie zur Flucht in die Steuerparadiese zwingen? Wem soll das dienen?

Wir nehmen unsere Herrschaft (Demokratie) ernst und wollen von den reich Gewordenen genaue Rechenschaft darüber haben, wie sie zu ihrem Reichtum gekommen sind, was der „Preis“ dafür gewesen ist und wer ihn hat bezahlen müssen. Und wir wollen uns nicht damit abfinden, daß wir Tag ein Tag aus mit unüberprüfbaren sogenannten Informationen unser Gehirn gewaschen bekommen. Aber wie? Was tun?

Wir wissen nicht, was alles dagegen zu tun wäre, um der Gefahr einer Gehirnwäsche zu entrinnen. Aber wir können darüber berichten, was wir bislang alles unternommen und was wir dabei an Einsichten gewonnen haben. Nur soviel sei im Voraus preisgegeben: Uns geht es bei dieser Übung immer besser. Wir haben klein angefangen. Mit dem Lesen. Die vielen bestallten und gelehrten Wissenschaftler haben uns mittels ihrer Bücher zu überzeugen versucht, daß die Verhältnisse in einer Demokratie, nein, in einer „repräsentativen“ parlamentarischen Demokratie, in einer durchindustrialisierten, „modernen“ Gesellschaft, eine komplizierte Sache sind. Die Sache soll so kompliziert sein, daß wir als Volk die Zusammenhänge nicht mehr durchschauen, nicht begreifen können. Welchen Sinn hätte es, wenn wir unsere eh knappen Möglichkeiten einsetzten würden, um zu erkennen, was um uns und mit uns geschieht? Warum sollen wir, das gemeine Volk, die Durchschnittsmenschen, nicht jenen Supergehirnen vertrauen lernen, die mit großer Anstrengung, mit unserem, dem Volksvermögen finanziert, ausgebildet werden? Jenen Eliten, die sich ja dank unserer Finanzbeihilfe und ihrer herausragender Intelligenz und ausgezeichneter Ausbildung den totalen Überblick und Durchblick verschafft haben? Schließlich gibt es doch „kritische Wissenschaftler“ und deren „kritische Bücher“. Beschreiben sie nicht die vielen Mißstände in der Gesellschaft in Zusammenhängen, bewerten sie die Mißstände nicht und sagen sie uns nicht genau, was zu tun ist? Ist nicht Vertrauen besser als Kontrolle? Macht nicht das Vertrauen lernen sorgenfreier und glücklicher?

Uns haben die „Wissenschaftler“ nicht überzeugt. Die anfängliche Begeisterung über die Beschreibung von Mißständen, die auch uns nicht verborgen geblieben waren, hat bei uns nicht lange angehalten. Viele der Mißstände haben wir aus eigener Anschauung und Erfahrung genauer gekannt als sie. Warum reden und schreiben sie nicht Klartext? Wieso bedienen sich Gelehrte aller Couleur oft einer diplomatischen Sprache? Auch die jämmerliche Übung des Zitierens hat uns nicht nur genervt. Wir haben den Verdacht, daß uns viele Gelehrte oft über Probleme, Verhältnisse, Zusammenhänge erzählen, die sie aus ihrer eigenen Anschauung und Erfahrung gar nicht kennen. So haben wir beim Lesen immer häufiger feststellen müssen, daß schreibende Gelehrte eher und mehr von jener Anschauung und Erfahrung zehren, die schreibende Gelehrte vor ihrer Zeit schriftlich der Nachwelt hinterlassen haben. Auffällig ist, daß schreibende Gelehrte gutgläubiger gewesen sind und heute noch sind als wir. Sie haben nicht wie wir gefragt, wie und woher ihre Vorgänger etwas gewußt haben, wenn sie uns „glauben machen“ wollen, daß sie es wirklich wissen. Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, daß das „geisteswissenschaftliche“ Arbeiten schon immer die Fähigkeit des uneingeschränkten Glaubens an das gedruckte Wort vorausgesetzt hat. Etwa nach dem Motto, wenn das gedruckte Wort nicht die Wahrheit tragen würde, würde es erst gar nicht gedruckt worden sein.

Wir können uns auch des Eindrucks nicht erwehren, daß das „geisteswissenschaftliche“ Arbeiten nicht auf genaue Beobachtungen und deren Beschreibung beruht, sondern auf dem Heranziehen früherer Veröffentlichungen zum Thema. Nicht sämtlicher, sondern vieler. Und wieviel ist viel? Wie sollen wir das wissen? Über das kritische Hinterfragen wird uns nichts überliefert. Überliefert werden uns nur Stellen aus früheren Veröffentlichungen, welche die aktuellen Aussagen der schreibenden „Gelehrten“ stützen. Eine Kritik der zitierten Quellen findet nicht statt. Warum auch?

Alles soll seinen Preis haben. Wenn einer, wie wir, den Quellen mißtraut, kann er ja die zitierten Quellen selbst überprüfen. Schließlich sind die „bibliographischen“ Angaben ja gemacht. Ob die Angaben auch ordentlich sind? Wir haben Zweifel. Sie geben nur an, welche Bücher herangezogen wurden. Sie liefern keine Bibliographie des Themas! Warum verraten sie uns beispielsweise nicht, welche einschlägigen Werke zum Thema, aus welchen Gründen auch immer, nicht herangezogen wurden? Wäre es zu viel des Guten zu verlangen, daß diese Gelehrten genau dies offenlegten? Warum setzen sie sich nicht mit dem zitierten Text auseinander? Und was ist, wenn die Textstellen aus dem Zusammenhang gerissen, oder beim Abschreiben Fehler unterlaufen sind? Wer wie wir den ausgewiesenen Gelehrten mit soviel Mißtrauen begegnet, der soll offensichtlich noch glauben lernen. Die Alternative zum Glauben ist mühsam. In die Bibliothek gehen, das Buch suchen, die Stelle finden, sorgfältig gegenlesen. Häufig ist das Buch auch ausgeliehen. Oder es muß erst über die Fernleihe bestellt werden.

So erfahren wir nichts Genaues darüber, wie systematisch die Auswahl der zitierten Bücher getroffen wurde. Das einzig Systematische in der Auswahl ist, daß nur Veröffentlichungen neueren Datums herangezogen werden. Es herrscht die Überzeugung, nein, der Glaube vor, daß das neueste Werk alles Alte aufgearbeitet haben muß. Nach diesem Ausflug in die Arbeitsweise der sogenannten Geisteswissenschaftler wird es Zeit, daß wir gemeinsam nun die Bücher selbst betrachten.

Die Bücher sollen für uns Leser geschrieben worden sein. Nicht alles darin haben wir immer verstanden. Aber die wesentliche Botschaft schon. Wir sollten uns überzeugen lassen, daß wir das Denken und Machen jenen überlassen sollen, die auch gelernt haben, „professionell“ zu denken und zu machen. So sind wir stutzig geworden. Wenn die Bücher tatsächlich für uns geschrieben sind, wir die klugen Bücher auch tatsächlich verstehen können sollen und sie auch verstehen, wieso sind wir dann immer noch weniger klug als diese Eliten? Warum sollen wir das Denken doch ihnen überlassen, wenn wir verstehen können, was sie schreiben? Sagen sie uns etwa nicht alles, was sie wissen? Machen wir einen Denkfehler?

Die Sprache der vielen kritischen Geister hat uns mächtig genervt. So umständlich, so verschlüsselt, so alltagsfern, so fremdländisch. Und die Kurzatmigkeit und die kurze Reichweite der Themen. Die Botschaft hat uns erreicht, aber doch das Ziel verfehlt. Sie hat uns nicht überzeugen können, daß wir die Verhältnisse einer „modernen freiheitlichen demokratischen“ Gesellschaft, daß wir die Zusammenhänge der Verhältnisse mit Hilfe dieser Elite je werden begreifen können. Denn sie haben keine Antworten auf Fragen, die für uns wichtig sind. Nein. Sie haben uns nicht wirklich erklärt, warum Reiche noch reicher werden und die Armen immer ärmer. Auch nicht, wie Reiche reich geworden sind. Oder warum es einerseits so viel Geheimnistuerei gibt, warum alles Schriftliche, das dokumentieren könnte, was alles unsere Vertreter (Repräsentanten) in unserem Namen so treiben, was die von uns bestellte Regierung alles treibt, unter Verschluß gehalten wird, andererseits die sogenannte Informationsflut herrscht, das Zuschütten durch nicht überprüfbare Erzählungen. Also haben wir uns Fragen gestellt. Und immer neue Fragen. Fragen wie die folgenden.

Wie werden Eliten zur Elite? Sind sie so geboren, oder werden sie Elite durch Ausbildung? Wenn sie durch Ausbildung zur Elite aufsteigen, was verschafft den künftigen Eliten den Zugang zu den Ausbildungsstätten? Soziales Erbe oder erworbene Intelligenz? Wie kommen sie zu den Themen ihrer Diplom– und Doktorarbeiten? Wie und wer kommt zur Doktorarbeit? Was kostet eine Doktorarbeit? Wer bezahlt sie? Wer hält die gewordene Elite aus? Was verdient sie? Wer stellt sie ein? Worin besteht die hauptsächliche Tätigkeit der Elite: in der Beratung ihrer Arbeitgeber oder in der Aufklärung der Öffentlichkeit? Dürfen sich die im Sold stehenden Eliten ohne Genehmigung überhaupt äußern? Selbst wenn sie die Genehmigung bekämen, könnten sie uns ihre Einsichten und Erkenntnisse vermitteln, wenn dies den Interessen ihrer Soldgeber entgegen stünde? Welche besondere Interessen haben die Soldgeber? Und, wer soll sie bezahlen, die Aufklärung der Öffentlichkeit? Wie? Über Medien? Wem gehören die Medien? Haben die Besitzer der Medien auch besondere Interessen? Transportieren die Medien alles? Können sie das? Wählen sie aus? Nach welchen Merkmalen? Usw., usw.

Ist es ein Fragen ohne Ende? So scheint es auf dem ersten Blick. Dem ist nicht so. Bei der Übung, Fragen zu stellen, haben wir entdeckt, daß es durchaus unterschiedliche Qualitäten von Fragen gibt. Theoretisch wissen wir alle, daß es solche und solche Fragen gibt. Es gibt wesentliche Fragen, die zur Erkenntnis führen und es gibt Fragen, die uns nur vom Erkenntnisgewinn ablenken. Die praktische Übung hat uns die Augen geöffnet. Wir haben mit der Zeit lernen können, treffsichere Fragen zu stellen. Wir haben häufig zu Nachschlagewerken gegriffen, wenn wir keine Antworten auf unsere Fragen aus dem eigenen Fundus hatten. Irgendwann haben wir uns aber gefragt, wie wohl Nachschlagewerke zustande kommen? Wer legt die behandelten Schlagwörter fest? Fallen welche heraus? Warum? Nach welchen Gesichtspunkten? Will der Verlag nur Geld damit verdienen? Hat der Verleger auch eigene Vorstellungen über Moral und Werte? Verbindet er diese mit dem Geld verdienen? Wie weiß der Verleger, daß er in seinem Nachschlagewerk alles wichtige erfaßt hat? Wie vergewissert er sich? Wen zieht er zur Beratung hinzu? Forscher? Wissenschaftler? Haben die auch Moralvorstellungen? Gäbe es Nachschlagewerke ohne Wissenschaftler, ohne Gelehrte? Sind wir nicht wieder bei den Eliten?

Aus zwei Gründen haben wir bei den Nachschlagewerken verweilen müssen. Immer wenn wir etwas nicht wissen, greifen wir zu Nachschlagewerken und informieren uns. Wir lassen uns erzählen und wir nehmen das Erzählte willig als richtig hin. Wir lassen uns überzeugen. Wir haben keine Alternative. Äußerst selten fragen wir: wer hat all das zusammengeschrieben? Woher und wie haben die Autoren der Texte all das zu den Stichworten gewußt? Wurde ihr Beitrag redigiert, korrigiert, gekürzt? Warum gibt es mehr als ein Nachschlagewerk?

Der zweite Grund ist noch folgenträchtiger. Wann und wie wurde die Nachfrage nach einem Nachschlagewerk erzeugt? Nachschlagewerke grenzen auch Stichworte aus. Sie müssen es. Jeder weiß, daß alle Medien unter chronischen Platzmangel leiden. Alle Medien müssen eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen. Aber nach welchen Gesichtspunkten grenzen sie Stichworte, Themenbereiche aus? War dem ersten Verleger bewußt, daß er mit dem Verlegen eine Standardisierung der Antworten auf Erkenntnisfragen verursachte? Und mittelfristig auch der Erkenntnisfragen? Der beispielhafte Krieg gegen die Nachschlagewerke im Internet wird mit harten Bandagen geführt. Die Verleger gedruckter Nachschlagewerke werfen den Verlegern im Internet vor, ob des Wettbewerbs alles zu verkürzen und wollen uns vergessen machen, daß sie während der Zeit ihrer Marktbeherrschung genau das Gleiche gemacht haben. Wir sollen glauben, diesen Verlegern ginge es um die Qualität, um die Vermittlung von Wissen und nicht um das Geld. Die Kriegsberichterstattung soll uns nicht davon abhalten darüber nachzudenken, was es wirklich bedeutet, über Nachschlagewerke alles mögliche zu „standardisieren“? Standardisieren? Standardisieren oder begrenzen?

Wer alles liefert den Verlegern den verkäuflichen Text, und woher haben sie das Wissen? Wissen? Sind wir nicht wieder bei den Eliten? Was ist, wenn sie sich irren? Was ist, wenn ihre Quellen unzureichend gewesen sind? Was ist, wenn sie uns wider besseres Wissen etwas vortäuschen wollen? Und was ist mit jenem Teil, der bei der Begrenzung (Standardisierung) ausgegrenzt wird? Ist unser Alltag nicht angefüllt von der Erfahrung, daß uns viele Geschichten aufgetischt werden, die nur kurzen Bestand haben? Von Kanther, Koch und Kohl oder Vietnam, Irak, Somalia, und Kosovo ganz zu schweigen. Redet die politische Elite nicht andauernd von Themen „besetzen“ und Ideen „verkaufen“? Schämt sie sich dabei? Haben wir auch nur leichte Hinweise – den vielen „Talkshows“ zum Trotz –, daß die Eliten anderer gesellschaftlichen Bereiche beim „Verkauf“ ihrer verkäuflichen Werte verschämter sind? Gibt es heute etwas, was nicht käuflich ist? Was?

Es ist allseitig unbestritten, daß nach dem ersten großen Sprung im Bereich des geistigen Austausches durch die Entwicklung der Schrift in diesem Bereich eine ganze Menge geschehen ist. Vielfalt und Vervielfältigung der Medien auf hohem technologischen Niveau. Aber haben wir auch Meßlatten und Prüfgeräte um zu beurteilen, ob möglicherweise die angebliche Vielfalt von Medien und Information, doch nur eine vielfältige Wiederholung der gleichen Desinformation ist? Uns allen würden viele Beispiele der massiven Desinformation durch alle Medien einfallen, wenn unser Erinnerungsvermögen in der „Informations– und Mediengesellschaft“ nicht schon fast verloren gegangen wäre. Wir wollen an dieser Stelle nicht unbedingt fragen, wie oft das Bundesverfassungsgericht in Deutschland jene nie vom Volk unmittelbar gebilligte Finanzierung der politischen Parteien als verfassungswidrig beurteilt hat. Auch nicht wer und wie von den oberen Hundert schon Erinnerungslücken (black-outs) für sich in Anspruch genommen hat, wenn sie glaubten, bei ihren Untaten erwischt worden zu sein.

Wir fragen beispielsweise auch nicht nach der im Fernsehen übertragener Reaktion von Roman Herzog als Präsident des Bundesverfassungsgerichts, als bekannt wurde, daß der gerade verstorbene herausragende Verfassungsrechtler dieser deutschen Republik, Theodor Maunz, jahrelang wöchentlich den Vorsitzenden der rechtsextremen Deutschen Volksunion (DVU) und Verleger Dr. Gerhard Frey traf und ihn in seinen diversen Verwaltungsgerichtsverfahren außerordentlich effizient beriet. Roman Herzog reagierte, äußerte für den Reporter anscheinend überzeugend, daß er den Bauch voll Wut hatte als er dies erfuhr. Der Reporter fragte in dem gesendeten Fernsehbericht nichts nach. Hatte der Reporter nicht gewußt, daß Roman Herzog als junger Rechtswissenschaftler viele Jahre Vertrauter und enger Mitarbeiter eben jenes Theodor Maunz war? Daß der gebräuchlichste Grundgesetzkommentar den Namen Maunz–Herzog trägt? Daß es in dieser Republik keinen Verfassungsrechtler gibt, der nicht Theodor Maunz immer noch hoch in Ehren hält? Wie viele Medienmacher haben uns informiert, daß Theodor Maunz auch im Dritten Reich ein ebenso herausragender Verfassungsrechtler gewesen ist? Wie hielt es Theodor Maunz mit dem „Führerprinzip“? Ein Bauch voller Wut mag noch akzeptiert werden. Aber ist die Frage nicht unmittelbar fällig, wenn er, Roman Herzog, trotz jahrelanger engster Zusammenarbeit nicht gemerkt hatte, aus welchem Holz Theodor Maunz geschnitzt war, war er dann selbst geeignet als oberster Verfassungshüter der neuen Deutschen Republik? Nein, alle diese Fragen stellen wir nicht. Es ist ja alles schon so lange her.

Nur, wir kommen nicht umhin, die Frage nach den Zusammenhängen in den Raum zu stellen. Gibt es Zusammenhänge zwischen der Medienvielfalt und dem Verlust von Gedächtnis? Können wir übersehen, daß trotz Medienvielfalt alle Medien dieselben Schlagzeilen unter gleichen Gewändern transportieren, und daß Medienvielfalt keineswegs zur Informationsvielfalt, nicht zu facettenreicheren Einblicken in die Ereignisse geführt hat? Können wir wirklich übersehen, daß die Vielzahl der Zeitungen, Magazine, Rundfunk– und Fernsehsender nur täuschend sein kann, wenn ihre Quellen, die Agenturen, die gleichen sind? Und konkurrieren sie nicht bedingungslos um den Kuchen der Werbebudgets der Waren verkaufenden Unternehmen? Auch die öffentlich–rechtlichen Rundfunk– und Fernsehanstalten? Welche von ihnen könnte den riskanten Versuch unternehmen, mit alternativer Programmpolitik ein größeres Stück vom Werbekuchen zu ergattern? Was ist, wenn es schief geht? Sie konkurrieren also folgerichtig nach dem „Guinness–Prinzip“: schneller, reißerischer, unterhaltsamer und besser nur in technischer Qualität. Auflagenhöhen und Quoten sind Trumpf. Zusammenhänge und Hintergründe sind kopflastig, sind weniger unterhaltsam. Und wir lassen uns gern unterhalten. Unterhaltung braucht kein Gedächtnis. Gedächtnis belastet nur. Haben wir nicht genug Krampf und Kampf um den Alltag zu bewältigen?

Wir haben sicherlich noch nicht ganz vergessen, mit welcher Gewalt die täglichen Pressekonferenzen aus dem Weißen Haus bei der Terroristenbekämpfung in Afghanistan, aus dem NATO–Hauptquartier während des „unvermeidbaren“, „gerechten“ Kosovo Krieges uns welche unglaublichen Geschichten „glauben machen“ wollten. Hatten nicht die US–Bomber und NATO–Bomber nur intelligente Bomben abgeworfen, die stets zwischen „bin Ladens“ und „Milosevics“ einerseits und afghanischen und jugoslawischen Kindern und Frauen anderseits unterscheiden konnten? Abgesehen von den wenigen „Kollateralschäden“! Kollateralschäden? Hatte nicht die zivilisierte „Staatengemeinschaft“ in diesen Kriegen aus der Luft, nein, in diesen „Luftschlägen“, die einzige Möglichkeit gesehen, in Afghanistan das gegenseitige Abschlachten der afghanischen Stammeskrieger, in Kosovo eine „ethnische Säuberung“ zu verhindern? Was haben die „Luftschläge“ und die gewonnenen Kriege tatsächlich gebracht? In Afghanistan, in Kosovo, in Bosnien–Herzogovina, in Kroatien? Was sind Stammeskriege? Was ist ethnische Säuberung? Was war in Somalia? Und im Libanon?

Und was war im „Golfkrieg“ los? Wann ist er zu Ende gegangen? Hat unser Kopfspeicher noch Platz für den „Golfkrieg“? Der „Golfkrieg“ ist offenbar gelöscht. Heute wissen wir im besten Fall noch, daß die nach 1990 geborenen irakischen Kinder eigentlich selbst daran schuld sein müßten, daß das Regime von Saddam Hussein immer noch im Irak herrscht. Dem „Golfkrieg“ zum Trotz. Wie sonst sind die fortwährenden Raketen– und Bombenangriffe der Briten und der USA auf den Irak zu erklären? Sind diese Angriffe durch Resolutionen der Vereinten Nationen gebilligt?

Können wir uns noch über die Zusammenhänge mit Falkland erinnern? Oder beim Militärputsch in Chile? Oder an die Entlaubung des Ho-Chi-Mihn-Pfades durch den flächendeckenden Abwurf von Dioxin als die Demokratie und Menschlichkeit schlechthin in Asien verteidigt wurde? Wer steckte hinter dem „Sechs-Tage-Krieg“? Was geschah im Kongo und wie kam der einstige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, ums Leben? Wer brachte den demokratisch gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh um, als er die Ölindustrie in Iran verstaatlichte? Wer war John Foster Dulles und welche Politik betrieb er? Aus welchem Himmel fielen die Flüchtlinge in Palästina, die heute noch in Lagern leben? Was geschah in Hiroshima und Nagasaki? Wer führte den zweiten und den ersten Weltkrieg? Was geschah in den sogenannten Kolonien? Wieso heißt „Amerika“ Amerika? Wie hieß dieser Kontinent früher? Wie hießen die Bewohner dort, bevor die christlich–europäischen Schlächter ganze Arbeit leisteten? Oder in „Australien“, oder in „Neuseeland“? Wissen wir noch, wieviel „Flüchtlinge“ es in den letzten 500 Jahren aus Europa gegeben hat und was sie in der ganzen Welt angerichtet haben? Waren sie Asylsuchende? Wenn wir die Antworten auf alle diese Fragen gegenwärtig hätten, würden wir dann nicht die lautstärksten Vorkämpfer für die Erhaltung der Menschlichkeit mit anderen Augen sehen?

Wer kennt die Anekdote noch? Ein Journalist fragt den Außenminister der USA John Foster Dulles, wenn er nur einen Wunsch frei hätte, welcher wäre der? „Freier Fluß der Informationen“ war seine Antwort. Der Journalist hat nicht nachgefragt. Wir aber grübeln nach. Was hat John Foster Dulles wirklich gemeint? Fließt nicht jeder Fluß in einer Richtung? Ja, die vielen „John Foster Dulles“! Sie haben uns jene langjährige UNESCO–Diskussion über „Medienmonopole“ fast vergessen gemacht. Jene 1970er und 1980er Jahre.

Wie gesagt, Fragen ohne Ende fallen uns ein, den Zusammenhang zwischen Medienvielfalt und Gedächtnisverlust gegenwärtig zu machen. Zur großen Politik wie auch zu Problemen des Alltags. Und wir wissen: Wir sind, was wir wissen. Und wir wissen, was uns erzählt worden ist.

Wir sehen keine Veranlassung, das Erzählte nicht anzunehmen und es zu anderen Bestandteilen unseres Wissens einzuordnen und abzulegen, wenn die Erzählung stimmig ist, wenn die Erzählung in uns kein Unbehagen erzeugt, wenn die Erzählung nicht in Widerspruch zu unserer Erfahrung und unserem bereits gespeicherten Wissen gerät. An diese Vorgänge haben wir uns gewöhnt. Meist haben wir auch keine Zeit zu fragen, wer der Erzähler ist, wie der Erzähler zu seinem Stoff kommt, wie er seinen Lebensunterhalt verdient, was die Erzählung bewirkt, wem sie dient, wem sie schadet, und vieles mehr.

Dies sind die Gründe, dies sind die Zusammenhänge, die unsere Suche nach Antworten auf unsere an sich harmlos erscheinende Frage so schwer gemacht haben: wer sind die „Indogermanen“, die „Indoeuropäer“ und die „Arier“? Seit wann ist bekannt, daß sie es sind? Wie ist bekannt geworden, daß es sie gibt? Wer hat sie gefunden und wie und warum und wozu? Aber wir sind weiter gekommen. Durch unsere unüblichen Fragen. Und es scheint, wir haben die Büchse der Pandora aufgestoßen.

Lügen mit langen Beinen

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