Читать книгу Vielfalt in Unternehmenskulturen - Prof. Dr. Guido Möllering - Страница 7
ОглавлениеNeue Konzepte, neue Kultur? Wenn Agilität absolut absurd wird
Endlich frei: Die belebende Kraft neuer Formen
„Wie arbeiten wir hier eigentlich zusammen?“ – allein schon diese Frage zu stellen, kann für Führungskräfte auf allen Ebenen und die Menschen um sie herum Ausdruck eines Unbehagens und zugleich der Beginn einer positiven Veränderung sein. Wie könnte man es anders und besser machen? Welche neue Führungs- und Arbeitsweise könnte funktionieren? Besonders wenn die eigene Frustration und der Druck von außen steigen, können neue Managementkonzepte äußerst reizvoll, belebend, ja geradezu befreiend wirken. Nicht erst in der heutigen Zeit, sondern im Grunde seitdem die Menschen in großen Gruppen kooperieren, suchen sie nach Wegen, ihre gemeinsamen Ziele besser zu erreichen. Jeder neue Weg weckt Hoffnungen, birgt aber Risiken. Man will den bestmöglichen Weg finden, könnte sich dabei aber auch verschlechtern.
Ein neuer Weg, der aktuell viel diskutiert wird, ist das Konzept des agilen Managements (siehe Textkasten). Hört man den Begriff zum ersten Mal, wirkt er in seiner Metaphorik von Beweglichkeit und Wendigkeit gleich frisch und sympathisch. Agil ist eben nicht so fest und starr wie die Führungs- und Arbeitsprozesse in vielen Unternehmen. Beschäftigt man sich mit dem Begriff genauer, entdeckt man eine schillernde Welt mit vielen attraktiven Ideen, Techniken und einer schlüssigen Logik, die uns drängt, uns endlich auf die schnelle, ungewisse, komplexe und mehrdeutige – zudem digitale – Welt einzustellen. Man hört von aktuellen Beispielen wie Spotify und Pionieren wie Gore für den erfolgreichen Einsatz der Agilität. Ratgeber und Handbücher sind voll davon und bieten Hilfestellung bei der Umsetzung in der eigenen Organisation an. Ist Agilität auch schon bei Ihnen angekommen? Haben Sie nur davon gehört – spätestens jetzt? Oder sind Sie bereits auf dem Weg, agil zu führen und zu arbeiten?
Was ist agiles Management?
Die inzwischen ausgesprochen bunte Literatur zu diesem Stichwort rekurriert regelmäßig auf das 2001 veröffentlichte Agile Manifesto (agilemanifesto.org) mit vier Leitsätzen und zwölf Prinzipien, die ursprünglich für die Softwareentwicklung verfasst wurden. Urheber sind 17 Hightech-Aktivisten, die in einer Skihütte in Utah ihre Werte und ihre Arbeitsweise definierten und damit seit einigen Jahren auch außerhalb der Softwarebranche Unternehmen inspirieren. Agilität als Organisationsprinzip und Managementkonzept steht insbesondere für Anpassungsfähigkeit, Vernetzung und Kundenorientierung. Sie entsteht aus einer gewissen anarchischen, kritisch-konstruktiven Haltung gegenüber etablierten Strukturen und Prozessen, die ein proaktives und innovatives Arbeiten erschweren. Die bekannteste Methode des agilen Führens und Arbeitens ist das intensive und iterative Scrum (wörtlich: Gedränge) mit spezifischen Rollen, Artefakten und Aktivitäten für das agile Arbeiten.
In dieser Studie geht es nicht primär um Agilität und vor allem nicht darum, grundsätzlich anzuzweifeln, dass der agile Ansatz funktioniert. Das agile Manifest ist mindestens ein guter Gedankenanstoß, einmal zu überprüfen, ob man zu stark auf Prozesse, Dokumente, Verträge und Pläne fixiert ist. Ausgearbeitete Methoden wie Scrum können einem die Augen öffnen, wie eine andere Arbeitsweise konkret aussehen könnte. Agilität ist nur eines der neuesten Managementkonzepte, das viele befreiend finden – aber nicht alle. Agilität ist das aktuelle Paradebeispiel dafür, wie neue Elemente der Unternehmenskultur auf alte treffen.
Woher neue Managementkonzepte kommen, wann und wie sie sich durchsetzen und warum sie auch wieder verschwinden, ist inzwischen ein gut etablierter Forschungszweig. Es fällt auf, dass die konkreten Inhalte der Konzepte nicht entscheidend zu sein scheinen: dass sie sogar nicht zu konkret sein sollten, denn um ihre befreiende Wirkung zu entfalten, müssen sie noch Spielräume lassen, zugleich aber insgesamt einen weit greifenden Geltungsanspruch erheben und eine Art Garantie geben, dass sie funktionieren. Wer einen neuen Weg vorschlägt, kann demnach vage bleiben, muss jedoch mit voller Überzeugung vertreten, dass es der einzig richtige Weg ist, und zwar möglichst für alle, damit dann viele folgen. Die Aussicht auf Erfolg muss geradezu greifbar sein, damit etwas in Bewegung kommt. Das Neue nicht als Wagnis, sondern als Rettung.
Neue Führungs- und Arbeitsformen wie das agile Management entstehen selten in der Organisation selbst, sondern werden meist in sie hineingetragen, treffen auf die bestehenden Formen und sollen diese ergänzen oder gar ersetzen. Vorbilder, die bereits erfolgreich so arbeiten, werden angeführt. Methoden, mit denen das neue Konzept umgesetzt werden kann, werden genannt. Beispiele, welche Verbesserungen erzielt werden können, werden vorgerechnet. Das soll zur Veränderung motivieren. Dennoch ist nicht jeder gleich Feuer und Flamme. Statt das neue Konzept allerdings konstruktiv in die bestehende Unternehmenskultur zu integrieren, wird Letztere häufig in Frage gestellt und gefordert, diese auf das Konzept hin anzupassen. Es geht nicht nur darum, zum Beispiel agiler zu werden, sondern darum, durch und durch dem Ideal des agilen Unternehmens zu entsprechen. Das ganze Unternehmen, so ist es vielfach zu hören, müsse ein neues Konzept annehmen, damit es funktioniert. Aber ist das wirklich nötig und überhaupt möglich? Wäre es ein Problem, wenn nur ein Teil der Beschäftigten oder der Prozesse in der Organisation dem neuen Konzept folgte?
Unendlich paradox: Die beklemmende Radikalität neuer Formen
Absurd wird ein Konzept wie Agilität, wenn es absolut gesetzt wird, also als einzig anerkannte Arbeitsweise durchgesetzt werden soll. Da Agilität selbst für Anpassungsfähigkeit steht, wundert man sich unmittelbar, dass es ein prominentes Manifest und ganz bestimmte Techniken wie Scrum gibt, an denen man sich orientieren muss (siehe Textkasten). Wenn Managementkonzepte dieser Art propagiert werden, sollte man vorsichtig sein. Sie stehen in einer langen Reihe ähnlicher Konzepte, die nur bedingt das halten, was sie versprechen. Bei einem Konzept wie der Agilität wäre es besonders verstörend, es als definitives Allheilmittel zu nehmen, weil das Konzept selbst ja die Grundannahme enthält, man müsse sich fortlaufend anpassen können. Dem widerspräche allerdings das häufig suggerierte Versprechen, durch eine Umstellung auf Agilität langfristig richtig aufgestellt zu sein. Da man die Umstellung freilich nicht dem Zufall überlassen will, folgt man entsprechend eng den propagierten Konzepten und führt agile Methoden verbindlich ein. Beklemmend wird dieser Prozess, wenn er mit großer Radikalität unternehmensweit durchgesetzt wird – ohne agil zuzulassen, dass man auch anders zielführend arbeiten kann.
Agile Prinzipien oder andere neue Ideen sind die Ergebnisse einer Suche nach besseren Managementkonzepten, die mit den besten Absichten erfolgt. Doch wir müssen uns kritisch damit auseinandersetzen, dass die Konzepte tief in Unternehmenskulturen eingreifen und sie vereinheitlichen sollen. Selbst wenn das ursprüngliche agile Manifest nur für die Softwareentwicklung und selbst dort nicht zwingend für alle Unternehmen verfasst wurde, propagieren einige Unternehmensberatungen und andere das Konzept inzwischen geradezu religiös und in der Radikalität auch nicht ganz uneigennützig. Die Devise „Ganz oder gar nicht“ legt aufwendige Lösungen nahe und bietet eine billige Erklärung, warum eine weniger radikale Lösung nicht funktioniert hat. Auch auf Unternehmensebene sind diejenigen, die neue Konzepte umsetzen wollen, genötigt, deren breite Überlegenheit allzu deutlich zu betonen. Wie unten noch gezeigt wird, gibt es außerdem viele Anreize, möglichst standardisiert zu arbeiten, statt viele Formen gleichzeitig anzuwenden. Demnach müssten neue Führungs- und Arbeitsformen die alten verdrängen.
Dies wäre relativ unproblematisch, wenn es nur oberflächlich um die Ausführung bestimmter Arbeitsschritte ginge. Wie bereits angedeutet, betreffen neue Managementkonzepte jedoch die tiefer liegende Unternehmenskultur, die es anzupassen gilt. Darin liegt das eigentliche Problem, für das Führungskräfte sensibilisiert sein sollten: Welche Annahmen machen diejenigen, die die neuen Konzepte anpreisen, und die Führungskräfte, die sie umsetzen wollen, über die Beschaffenheit von Unternehmenskulturen und deren Gestaltbarkeit sowohl im Allgemeinen als auch in konkreten Unternehmenskontexten? Ist es überhaupt realisierbar und – in einem weiteren Gedankenschritt – wünschenswert, eine Unternehmenskultur auf ein einziges Konzept hin zu vereinheitlichen? Wie vielfältig können die Wertvorstellungen in Unternehmen sein und sich in entsprechend diversen Führungs- und Arbeitsformen widerspiegeln? Was ist mit einer starken Unternehmenskultur gemeint: einheitlich, nachhaltig, resilient?
Führungskräfte sind selbst Teil von Unternehmenskulturen. Sie können reflexiv die Wechselwirkungen zwischen vielfältigen Wertvorstellungen und Arbeitsformen erfahren und klug gestalten. Eine One-Best-Way-Mentalität ist damit schwer vereinbar. Stattdessen ist es erstrebenswert, ein vielfältiges kulturelles Repertoire aufzubauen, in dem unterschiedliche Führungs- und Arbeitsweisen ihren Platz haben und je nach Art der jeweiligen Aufgabe zum Einsatz kommen können. Diese Vielfalt ist keineswegs mit Beliebigkeit oder gar Zufälligkeit zu verwechseln, sondern entspricht einem erweiterten, problemlösungsorientierten Verständnis von Unternehmenskultur. Vielfältige Kulturen kennen mehr als einen Weg, Herausforderungen aus der Umwelt zu begegnen, weil auch die Probleme zu vielfältig sind, um alle auf einem einzigen, vermeintlich besten Weg gelöst zu werden.
In diesem Sinne beleuchtet der nächste Abschnitt genauer, warum die gut gemeinte Suche nach Prinzipien des erfolgreichen Führens und Arbeitens leider zu oft in die Vorstellung mündet, solche Prinzipien in einer starken Kultur vereinheitlicht durchzusetzen. Darauf aufbauend, kann ein Verständnis von Unternehmenskultur entwickelt werden, das innere Differenzierung und Subkulturen nicht als Schwäche sieht und die Führungsaufgabe betont, eine gute Zusammenarbeit trotz unternehmenskultureller Vielfalt zu ermöglichen. So kann das Unternehmen selbst immer wieder eigene neue Wege finden, statt nur dem One Best Way oder den Best Practices anderer nachzueifern.
Food for Thought: Welche Ideen passen?
Jede Flughafenbuchhandlung und jedes Wirtschaftsmagazin bietet Führungskräften ständig neue, beeindruckende Konzepte. Aber je radikaler diese verkauft werden, desto vorsichtiger sollten Sie sein – erst recht, wenn das Konzept selbst Anpassungsfähigkeit verordnet. Fragen Sie sich: Was muss ich wirklich ändern, um eine gute Idee nutzen zu können? Welche der vielen guten Ideen passen zueinander und zu meiner Wirklichkeit? Wie passe ich die Ideen an, damit sie tatsächlich funktionieren? Denken Sie etwa an ein altbekanntes Konzept wie das Qualitätsmanagement, das bei aller Standardisierung und Zertifizierung immer auch eine eigene Interpretation erfordert.
Beispiel LEGO: Einmal alle Innovationskonzepte gleichzeitig und zurück
Man wird wohl kaum annehmen, dass das LEGO-Management schlicht der Ratgeberliteratur auf den Leim gegangen ist, doch beschreibt David Robertsons Buch „Brick by Brick“ (mit Bill Breen; auf Deutsch: „Das Imperium der Steine“ 2014) sehr anschaulich, was passiert, wenn man Managementkonzepte allzu radikal umsetzt – und womöglich auch noch mehrere gleichzeitig. Als bei LEGO Ende der 1990er-Jahre der Umsatz und der Unternehmenswert einbrachen, griff das Management radikal durch und setzte eine ganze Reihe neuer, angesagter Konzepte um. So wollte man sich aus der etablierten, anscheinend nicht mehr erfolgreichen Unternehmenskultur lösen. Man stellte kreativere Leute ein, suchte Blue-Ocean-Märkte, forcierte die Kundenorientierung, versuchte sich an disruptiven Innovationen, Open Innovation und so fort. Zunächst zeigten sich bei LEGO gewünschte Veränderungen, doch bis 2003 wurde die Krise noch größer als zuvor, weil das Unternehmen sich zügellos in allen möglichen Aktivitäten verrannt hatte. Erst eine Rückbesinnung auf die traditionellen Werte und die kontrollierte Anwendung neuer Konzepte führten zu einer nachhaltigen Innovationsstrategie. Die erfolgreiche LEGO-Kultur ab 2005 kann man sich so vorstellen, dass sie Elemente aus den diversen „heilsbringenden“ Konzepten selektiv in die etablierte Kultur aufgenommen hat. LEGO beherrscht nun ein Spektrum verschiedener Arbeitsweisen für Innovation. Jede ist wichtig. Alle spielen letztlich zusammen.