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Kapitel 1 Ehrgeiz, Visionen und der Beginn meiner Weltreise

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Verbleiben wir so: Im Grunde genommen war der 5. April 1958 – global gesehen – ein recht unspektakulärer Tag. Der Leader der britischen Labour-Partei Hugh Gaitskell legte einen 5-Punkte-Plan für eine neutrale Zone in Mitteleuropa vor.

Cambridge gewann den Ruderklassiker gegen Oxford zum 58. Mal, und in den Vereinigten Staaten von Amerika wunderte sich manch einer, wie es „The Champs“ mit ihrer Single „Tequila“ bloß schaffen konnten, Elvis Presley als Nummer eins in den US-Charts abzulösen. Im deutschen Radio lief dieser Tage immer wieder die beliebteste Single der deutschen Charts „Der lachende Vagabund“ von Fred Bertelmann.

Und der Wiener „Kurier“, der damals um einen Preis von 1 Schilling und 50 Groschen verkauft wurde und wo sich gerade der Wechsel in der Chefredaktion von Hans Dichand zu Hugo Portisch vollzog, drückte an diesem Tag in seiner Mittags-Ausgabe seine Sorge in großen Lettern aus: „Chruschtschows Kriegsreden in Budapest lösen in den USA scharfe Reaktionen aus“.

Nun ja, für manch andere war besagter 5. April 1958 sogar noch weit aufregender: US-Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin Bette Davis scharte anlässlich ihres 50. Geburtstages ihre Liebsten um sich, und auch Österreichs Ausnahmedirigent Herbert von Karajan blickte an diesem Tag auf die ersten 50 Jahre seines Lebens zurück. Agnetha Fältskog, später als das erste A der Kultband ABBA zu Weltruf gelangt, durfte zu Hause acht Geburtstagskerzen ausblasen, und Colin Powell träumte an seinem 21. Geburtstag wohl noch nicht davon, 43 Jahre später als US-Außenminister angelobt zu werden. Sonst noch was?

Eher nicht: Roger Moore war noch nicht James Bond, Steffi Graf und Thomas Muster waren noch lange nicht geboren, Viktor Klima war ein Schulbub. Das war er also, der 5. April 1958?

Nicht ganz. Auch in Österreich wurde gefeiert. Oben auf dem Kahlenberg marschierte Prominenz aus Politik, Wirtschaft, Medien, Kultur und Sport an. Schließlich hatte der zweite Sender des ORF am 5. April 1958 seinen Betrieb aufgenommen.

Und … auf der Geburtenstation des Landeskrankenhauses Waidhofen an der Ybbs hatten Ärzte und Hebammen nicht nur alle Hände voll zu tun, sondern ihre emotionale Aufmerksamkeit war an diesem Tag auch auf ein Haus, nur rund 150 Meter vom Krankenhaus entfernt, gerichtet. Schließlich lag dort eine der Ihren in den Wehen. Hebamme Elfriede, die sich für eine Hausgeburt entschieden hatte, war in froher Erwartung und ihr Mann Adolf, ein Fernsehtechniker, dementsprechend nervös.

Alles gut, keine Komplikationen – Reinhard war geboren. Reinhard Weinstabl. Da war ich also. Heute nennen mich viele meiner Freunde einfach „Weindi“ oder „Reindi“ und ich blicke jetzt mal in den Rückspiegel. Nach rund 60 Jahren kann oder sollte man das gelegentlich tun. Ich lebte und ich lebe einen Traum und ich will euch einladen auf meine Zeitreise.

Willkommen in meinem Leben. Nun, das mit der Geburt haben wir also ganz gut hingekriegt. Vielleicht war ja auch schon ein Hauch von Routine eingekehrt bei Elfriede und Adolf Weinstabl. Schließlich hatte 20 Monate davor schon mein Bruder Christian dieser Welt guten Tag gesagt.

Von gröberen Problemen im Rahmen meiner Geburt wurde mir also nicht berichtet, und es sollte noch rund ein Jahr dauern, bis sich meine Eltern zum ersten Mal so richtig Sorgen um mich machen mussten.

Ein Moment der Unaufmerksamkeit von meinen Eltern und schon hatte ich unbemerkt den Metallring eines Kinderbuchs verschluckt. Tagelang hatte ich gebrochen, kaum gegessen. Wie konnte ich auch, mit einem kleinen und unerkannten Metallring in der Speiseröhre. Irgendwie muss mein Vater eine Art Eingebung gehabt haben. Er drehte mich um, ließ mich kopfabwärts baumeln und klopfte mir auf den Rücken. Und, Schwups, da war er wieder, der kleine Metallring, und Klein-Reinhard war das Leben gerettet.

Ich denke gerne an meine Kindheit zurück. Wiewohl mein Vater, der zuvor mit einem Elektrogeschäft in Amstetten und einer Putzerei in Waidhofen an der Ybbs wenig wirtschaftliches Geschick bewiesen hatte und infolgedessen neue Ufer erklimmen und daher viel im Ausland arbeiten musste, war ich ein glückliches Kind.

Mama war immer da für mich. Ich denke auch gerne an die Urlaube in Grado zurück. Dort haben uns zwar immer gefühlte 100.000 Gelsen gestochen, aber was kümmern ein paar Gelsen einen 3-jährigen Buben, wenn er sonst so unbeschwert in der Adria planschen kann.

Fast immer gemeinsam mit uns auf Urlaub war mein Freund Gunter Damisch, der damals in Grado auch noch nicht wissen konnte, ein paar Jahrzehnte später als einer der größten Maler des Landes Berühmtheit zu erlangen.

Gunter und ich waren ein Herz und eine Seele. Ich weiß noch, dass er immer so niedlich gelispelt hat. Und eines Tages hat ihn im Meer eine größere Welle erfasst, und knapp bevor Hektik und Panik ob meines verschwundenen Freundes ausbrechen konnte, zog ihn sein Vater an einer Hand aus dem Meer. Gunter selbst blieb vergleichsweise cool und kommentierte die dramatischen Ereignisse mit verdattertem Blick auf seine Weise: „Na, so was Blödes, jetzt wäre ich fast ersoffen …“ Zwei Jahre nach meinem Hoppala mit dem Metallring hatte also auch mein lieber Freund seinen ganz persönlichen Schutzengel in Hochform.

Ab 1965 verbrachten wir unsere sommerlichen Familienurlaube meist in Jugoslawien. Um präziser zu sein auf Ugljan, einer Insel im Archipel vor Zadar. Kali, ein kleines Fischerdorf auf Ugljan, hat einen wunderschönen Hafen. Ich war gerade mal neun Jahre, als ich mich bei einem Abendspaziergang von meiner Gruppe loslöste, und da stand sie plötzlich.

Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stand ich da und war einfach sprachlos: Dieses Boot hatte mich fasziniert: „So etwas will ich auch einmal besitzen“, habe ich meinen Eltern und den Begleitern vorgeschwärmt.

Ja, sie: Eine wunderbare Motoryacht. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen stand ich da und war einfach sprachlos: Dieses Boot hatte mich fasziniert: „So etwas will ich auch einmal besitzen“, habe ich meinen Eltern und den Begleitern vorgeschwärmt. Mein Vater nahm mich in den Arm und sagte: „Dann musst du immer brav lernen, dass du dir so etwas einmal leisten kannst.“

Ich weiß nicht mehr genau, wie ich damals reagiert habe auf die väterliche Ansage. Vielleicht habe ich mir ja auch nur gedacht: „Reden wir in 36 Jahren weiter.“ Rückblickend glaube ich eher, dass ich mir damals gar nichts gedacht habe und – vor allem, das mit dem vielen Lernen und das mit dem Fleiß in der Schule, das war eben so eine Sache.

Ich war schlecht in der Schule. Oder, genauer gesagt, sehr schlimm. Die Schul-Sprechtage müssen sich für meine Eltern angefühlt haben wie: „Und täglich grüßt das Murmeltier“. „Dumm ist er ja nicht, der Reinhard, aber so furchtbar schlimm und frech …“ Immer wieder die gleiche Leier: Ich konnte mich schlichtweg nicht benehmen.

Und, ich war nicht nur schlimm, sondern auch ein wenig verträumt als junger Bub. Ich musste wieder einmal aus disziplinären Gründen nachsitzen. Ausgerechnet an einem Samstag, wo man normalerweise um 11 Uhr die Rollbalken runtergelassen hätte und an diesem besagten Samstag quasi nur mir zu Ehren bis 12 Uhr Überstunden machte. Auf dem Weg nach Hause wurde ich dann zu allem Überdruss auch noch von einem typisch ländlichen Begräbnis in höchstem Maße abgelenkt. Irgendwie zog mich der ganze Aufzug samt Musik und Trauergemeinde in den Bann und ich schloss mich (freilich uneingeladen) einfach dem Zug bis zum Friedhof an, warf dann auch noch als Letzter eine Blume und Erde auf den Sarg und kam daher erst gegen 15 Uhr nach Hause. Das wiederum ließ meine Mutter, die sich nachvollziehbarerweise ob meines außerplanmäßigen Wegbleibens erheblich Sorgen um ihren Sohn machte, zu erzieherischen Sondermaßnahmen greifen.

Na ja, das mit dem Gehorsam war generell so eine Sache bei mir. Und bei meinem Bruder Christian. Ich war – so denke ich – noch keine zehn Jahre alt, als sich mein Bruder und ich (wieder einmal) taub stellten, als uns unsere Mutter eines Tages verbot, das Haus zu verlassen. Gemeinsam mit unseren beiden Cousinen flanierten wir entlang des Ybbsflusses. Spielend und in Gedanken – lebhafte Kinder eben. Um dann doch schneller nach Hause zu kommen, gingen wir in der Fahrtrichtung entlang am Bankett. Plötzlich hörten wir in einer Linkskurve ein Geräusch. Und schon lag ich, nach Flug in hohem Bogen, in einem Brennesselhaufen. Was war passiert? Ein (wie sich später herausstellen sollte) betrunkener Mopedfahrer auf seiner Puch Pony 2 legte sich zu sehr in die Kurve, konnte sein Gerät nicht mehr halten und erwischte mich. Franz Zellhofer, so hieß der Mopedfahrer, flog ebenfalls in hohem Bogen und ohne Helm auf die Straße und rasch war er von einer tiefroten Blutlache umgeben. Er lag da, bewegte sich nicht, reagierte auf keine Zurufe von uns, und für uns Kids war das alles natürlich extrem spannend. Unsere ursprüngliche Vermutung, der Mann könnte tot sein, bewahrheitete sich nicht. Kaum erwachte er aus seiner Bewusstlosigkeit, begann er auf uns zu schimpfen.

Unser Glück: Genau jetzt bog die Gendarmerie (die dort sonst nur zu allen heiligen Zeiten vorbeikam) um die Ecke, rief die Rettung und kümmerte sich um alles. Mein Bruder und ich kamen viel zu spät nach Hause und erzählten unserer Mutter kein Sterbenswort. Rund drei Wochen später kam die Nachbarin zu uns auf Besuch und sagte voller Sorge zu meiner Mutter: „Um Gottes Willen, ich habe im „Boten von der Ybbs“ gelesen, dass der Reinhard einen Unfall gehabt hat, wie geht’s ihm?“

Meine Mutter hatte noch keine Ahnung und dachte zunächst an einen bösen, dummen Scherz. Und ich? Ich war um zwei Erfahrungen reicher: Ich hatte zum ersten Mal bei einem Unfall Blut gesehen. Was mich nicht wirklich geschockt hat.

Und: Ich wurde zum ersten Mal in meinem noch jungen Leben in einem Zeitungsartikel erwähnt. Was ich eher cool fand. Das war sie im Großen und Ganzen, meine Kindheit. Lebhaft bis schlimm eben. Vier Jahre reine Bubenklasse in der Volksschule und meine Zeit in den seinerzeit bereits gemischten Gymnasium-Klassen sind sonst recht schnell erzählt, wenn man vielleicht davon absieht, dass ich in der 7. Klasse eine Bruchlandung hingelegt habe. Durchgefallen in Mathematik.

Es sollte zu einer Art Schlüsselerlebnis für mich werden. Wie hatte doch einst mein Vater am Hafen von Kali zu mir gesagt: „Immer brav lernen …“

Ich weiß nicht mehr genau, ob ich mich geschämt oder einfach nur geärgert habe: Aber, als wir uns zu Beginn des darauffolgenden Schuljahres zur traditionellen Schulmesse in Reih und Glied aufstellten und ich plötzlich nicht mehr neben jenen Kindern stand, die ich sieben Jahre neben mir stehen sah, machte es Klick bei mir.

Irgendwie war ich wachgerüttelt. Ein Versager wollte ich wirklich nicht sein. Dabei war doch alles so einfach. Schon das bloße Erledigen und Abarbeiten der uns regelmäßig aufgetragenen Hausaufgaben reichte locker aus, ein Wissen anzueignen, das mich 1977 ohne weitere Probleme maturieren ließ. Nicht nur das: Mein Maturazeugnis war sogar das mit Abstand beste meiner gesamten neun Jahre in der Mittelschule.

Geschafft. Ich war um eine weitere wichtige Erfahrung reicher. Eine andere (aus meiner Sicht kaum weniger aufregende) Erfahrung hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits hinter mir. 1973 hatte mein Vater in Dünkirchen zu arbeiten begonnen, was mir zwei Monate in der nordfranzösischen Hafenstadt bescheren sollte.

Ich war 15, sie (ein liebes Mädel aus Deutschland) ein Jahr jünger. Und: Ich war immer noch 15, sie (ein liebes Mädel aus Frankreich) zwei Jahre älter. Welch grandiose Gelegenheit, französisch zu lernen!

Andere Erfahrungen und – wenn man so will – Talente waren ebenfalls bereits ausgelotet. Dass der Berg hinter unserem Haus in Waidhofen an der Ybbs zum Skifahren einladen würde, war ja irgendwie aufgelegt, und den Tennisschläger nahm ich mit sieben Jahren zum ersten Mal in die Hand. Talent? Enden wollend, aber Tennis? Da sollte noch was kommen.

Dazu später mehr. Auch zwei Jahre am Klavier hatte ich schon hinter mir. Immerhin, für die Mondscheinsonate von Beethoven sollte es reichen. Für viel mehr leider nicht. Dazu fehlte mir das vielzitierte absolute Gehör, und wenn es wenige Dinge im Leben gibt, die ich wirklich bedauere, dann gehört das Fehlen des absoluten Gehörs, das man halt in sich tragen muss, um ein großer Klavierspieler werden zu können, mit Sicherheit dazu.

Nicht weiter verwunderlich daher, dass Chinas Ausnahmekünstler Lang Lang zu den von mir am meisten bewunderten Menschen unserer Zeit gehört. Du kannst so viel zum Ausdruck bringen am Klavier mit Musik. Du fühlst dich, als gäbe es gar keine Grenzen mehr.

Lang Lang wurde und wird keiner aus mir, aber für den einen oder anderen netten Gesellschaftsabend im Rahmen internationaler Ärztekongresse mit Reinhard Weinstabl am Klavier sollte es reichen. Und dazu, die eine oder andere nette Bekanntschaft am und rund um das Klavier zu machen. Wie auch jene mit einer jungen, netten Jus-Studentin im Studentenheim, der ich immer wieder gerne zuhörte und die eines Abends von einem blonden jungen Burschen, kaum älter als 17, kritisiert wurde ob ihrer aus seiner Sicht limitierten Künste am Klavier. Sie war erkennbar irritiert und man konnte ihren Unmut spüren.

Es endete, wie solche Provokationen unter jungen Menschen oft enden müssen: Der junge Mann griff eines Abends selbst in die Tasten und faszinierte meine Jus-Kollegin und mich mit einem brillant gespielten ersten Klavierkonzert von Liszt. Spätestens jetzt hatte ich erkannt: Ich war kein Wunderkind am Klavier, er hingegen schon …

Immerhin, für die Mondscheinsonate von Beethoven sollte es reichen.

So weit zu meinen Erfahrungen mit Skiern, mit dem Tennisracket und am Klavier. Auf andere Erfahrungen verzichtete ich (sehr gerne) zur Gänze: Auf das Bundesheer zum Beispiel. Irgendwie wollte ich mir und Österreichs Heer das ersparen und schob meine diesbezügliche Verpflichtung mit dem legitimen Hinweis auf mein Medizinstudium immer wieder nach hinten. Mit Erfolg.

Erst mit rund 34 Jahren erhielt ich dann gleichsam meinen entsprechenden Marschbefehl. Dr. Gabor Somlai und Dr. Walter Dorner, später Präsident der Wiener und dann der Österreichischen Ärztekammer, waren seinerzeit große und machtvolle Player in der Welt der Mediziner und wollten mich partout als Arzt beim Heer sehen. Ach, wie groß war meine Erleichterung, als sich sieben Tage nach Einrückung bei einer Untersuchung herausstellen sollte, dass ich unter einer Pollenallergie zu leiden hatte. Die permanente Einnahmepflicht Cortison-haltiger Medikamente war freilich ein driftiger Freistellungsgrund.

Sehr zu meiner Erleichterung und sehr zum Ärgernis von Dr. Walter Dorner, der sich dann auch drei Tage nach dem Befehl Zeit ließ, mich abrüsten zu lassen. Erst auf direkte Weisung aus dem Bundeskanzleramt sagte ich dem heeresgrauen Alltag auf Nimmer-Wiedersehen. Dr. Dorner machte seiner Erbostheit freilich nochmals Luft und er wirkte auf mich so verärgert und verdrossen, dass ich gar gröbere Probleme mit ihm und der Ärztekammer befürchtete.

Hier und jetzt sollte ich zum ersten Mal (und das gleich am eigenen Leib) verspüren, dass auch Ärzte Menschen sind, und schnell hatte ich das Gefühl, dass auch sie offenbar nicht immer nur Gutes tun.

Später kam sogar noch eine weitere Erfahrung dazu: Gepflegte weiße Mäntel und ein Doktortitel machen nicht gegen diverse Verhaltens-Auffälligkeiten immun, wenn es um Macht, Positionen und Geld geht.

Eine Erfahrung, die ich nicht zum letzten Mal machen sollte …

Wie auch immer: Mein Drang, ein guter Arzt werden zu wollen, war wesentlich stärker ausgeprägt als mein Drang, dem Heer dienen zu müssen.

Ich habe gerne studiert. Ich war ehrgeizig und ich wusste nur zu gut, was und wohin ich wollte. Knochen-Kolloquium – das war meins. Nicht selten, dass ich bei Prüfungen im direkten Vergleich mit Kollegen wirklich brillieren konnte. Die Unfallchirurgie und der immerwährende Wunsch, ein sehr guter Chirurg werden zu wollen, trieben mich mit Regelmäßigkeit zur Höchstform.

Als hätte ich es in die Wiege gelegt bekommen.

So fern von der Früh-Programmierung war ich auch gar nicht entfernt. Meine Mutter war – wie gesagt – Hebamme, und das hatte eben zur Folge, dass ich beginnend mit meinem fünften Lebensjahr sehr häufig im Spital war. Ich habe dort gegessen, dort gespielt und sogar (was mir weit weniger Spaß gemacht hat) jeden Sonntag in der Spitalskapelle die Messe besucht.

Meine Mutter war eine gute und eine sehr fleißige Hebamme. Sie begleitete auf ihrer Station mehr Kinder ins Leben als ihre drei Stations-Kolleginnen gemeinsam. Irgendwie bin ich im Krankenhaus ein Stück weit aufgewachsen. Immer schon fasziniert und interessiert an dem, was da abging. Action pur für einen heranwachsenden Buben in den frühen Sechzigern.

Ich habe gerne studiert. Ich war ehrgeizig und ich wusste nur zu gut, was und wohin ich wollte.

Vielleicht habe ich mich in jungen Jahren auch deshalb immer so wohlgefühlt im Krankenhaus, weil mir der Weg dorthin in so angenehmer Erinnerung blieb. Der Weg führte mich an einem Haus vorbei, aus dessen Fenster stets traumhafte Geigenmusik klang. Schon als kleines Kind konnte mich Musik in hohem Maße erfreuen. Oft blieb ich vor dem offenen Fenster einfach stehen, um ein wenig zu lauschen. Tag für Tag war die Musik ein Genuss für mich und schließlich entstammte diese auch nicht der Geige von irgendjemand, sondern der von Rainer Küchl. Der stand damals noch am Beginn seiner späteren großen Violin-Karriere, die ihn bis zu den Philharmonikern und in die Staatsoper führen sollte.

Das Krankenhaus als meine ganz persönliche Wohlfühloase – das sollte sich auch während meines bereits angesprochenen Studiums und in den folgenden Ausbildungsjahren nicht ändern.

Rasch mutierte mein Dienstzimmer zum Wohnzimmer und immer öfter war ich zur Stelle, wenn ein Alarm einging und schnell ein Arzt für eine Operation zur Stelle sein musste. Ich war leidenschaftlich und innerlich unaufhaltsam in meinem Dasein als Arzt. Andere waren hingegen dankbar, wenn sie gemütlich im Ärztezimmer sitzen bleiben konnten während ich, der Jungspund, deren Job übernahm.

All das hat sich in den Jahren, die kamen und gingen, summiert. Zum Beispiel zu einem Erfahrungsschatz von rund 600 Hüftoperationen in der Ausbildung. So sehr ich in der Abdienung meiner Schulpflicht wahrlich keine große Bereicherung gewesen sein mag – jetzt auf dem Weg zum Traumberuf war ich voll da.

In den Discos wurde ohne mich gelärmt, getrunken und getanzt. Ich wollte Arzt sein, ich wollte der Beste sein und ich hatte es verstanden, ebendiesem Ziel alles und zwar wirklich alles unterzuordnen.

In den Discos wurde ohne mich gelärmt, getrunken und getanzt. Ich wollte Arzt sein, ich wollte der Beste sein und ich hatte es verstanden, ebendiesem Ziel alles und zwar wirklich alles unterzuordnen. Ich war in meiner Studentenzeit auch sehr selektiv bei der Wahl meiner Freunde, und die Eltern meines damals besten Freundes, Stefan Berz, entwickelten mehr und mehr einen extrem positiven Einfluss auf mich und mein Leben. Ich liebte deren dezente, aber doch auch irgendwie gelebte Art der Noblesse und so kam es, dass uns Vater Wolfgang Berz, der wie seine Frau Lieselotte in mir fast einen Ziehsohn gesehen hatte, einmal für eine Fahrt in den Urlaub nach Frankreich einen Mercedes 280 E zur Verfügung gestellt hatte. Mit eleganter Karosse ging es an die Cote d‘Azur nach St. Tropez, zu noblem Essen (höchst entbehrliche Salmonellenvergiftung inklusive).

An der Begleitung und Präsenz junger, schöner Mädchen mangelte es uns auch nicht wirklich. Familie Berz war so etwas wie eine Vorzeigefamilie für mich. Wohlhabend, aber nicht protzig, hoch intellektuell, begabt und ausgesprochen sozial. Sie waren es auch, die mich erstmals in Gourmet-Restaurants geführt hatten. Ich lernte das schöne Leben von seiner besonders schönen und schmackhaften Seite kennen. Gänseleber, Trüffel, gute Weine …

Und durch Familie Berz und das spätere Schicksal von Familienoberhaupt Wolfgang Berz musste ich dann auch erstmals von einer, mir bis dahin unbekannten, Schattenseite erfahren. Ich lernte, wie es sich anfühlen muss, wenn auch Wirtschaftsgiganten von Politikern im Stich gelassen werden und so lernen müssen, Misserfolge zu bewältigen.

Herr Dr. Berz machte große internationale Geschäfte mit der VÖEST und baute eines Tages ein Investment (wie er mir erzählte) auf einer Ausfallshaftung des Landes Niederösterreich, ausgesprochen durch einen mit viel Macht ausgestatteten Landespolitiker, auf. Die Partner strauchelten, Millionen gingen den Bach runter und an das Versprechen der Ausfallshaftung vermochte sich damals im Land Niederösterreich niemand mehr zu erinnern.

Der ehrbare, erfolgsverwöhnte und wohlhabende Industrielle, dessen Ansinnen immer nicht nur der Erfolg der Firma, sondern auch das Wohlergehen der Mitarbeiter gewesen ist, wusste den Wert des Versprechens eines mächtigen Politikers nun ganz anders einzustufen. Auch das hatte ich also in noch recht jungen Jahren beobachten und lernen müssen. Versprechen, Ruhm, Geld und Erfolg können so vergänglich sein.

Prägend waren während meiner Studienzeit auch die Monate auf der unfallchirurgischen Abteilung im AKH Wien unter Vorstand Professor Dr. Emanuel Trojan. Schon nach kürzester Zeit hatte ich immer wieder die Möglichkeit bekommen, viel Ambulanzerfahrung sammeln zu können.

Den ganz Großen und Bekannten dieser Ärzte- und Chirurgen-Epoche lief ich regelmäßig über den Weg, lernte von Ihnen, saugte Wissen von Ihnen auf. Prof. Emanuel Trojan eben, oder auch Dr. Vecsei, Dr. Oppitz …

Im März 1983 sollte ich dann mein Studium erfolgreich abschließen, und rasch führte mich mein Weg zu einer frei gewordenen Stelle im Lorenz-Böhler-Unfall-Krankenhaus und in weiterer Folge natürlich auch zu Universitäts-Professor Dr. Johannes Poigenfürst, damals der Gigant in der Sport-Traumatologie. Niki Lauda, Thomas Muster oder auch Franz Klammer zählten zu seinen Patienten.

Klar, ich als junger Arzt habe den großen Dr. Poigenfürst verehrt. Ich habe immens viel von ihm gelernt und doch wunderte ich mich immer wieder über jenen Wesenszug, der einen neun Tage sein bester Freund sein ließ, um am zehnten Tag vermuten zu müssen, von ihm gar nicht gemocht zu werden. Wie auch immer, er war zweifelsfrei ein großer Mediziner. Und einer mit Prinzipien.

Eines ruhigen Sonntags läutete am Krankenhaus-Empfang ganz hektisch ein sehr bekannter Wiener Opernsänger, der für sein Trachten-Outfit und die unüberhörbaren genagelten Schuhe bekannt war. Den renommierten Wiener Bariton und Operndirektor drückte oder zwickte es gerade irgendwo und er bestand auf nicht ganz freundliche und liebenswerte Weise darauf, unverzüglich Dr. Poigenfürst zu rufen.

Der rasch etwas eingeschüchterte Stab an Empfangsdamen und Schwestern piepste den großen Dr. Poigenfürst an, im Wissen, dass dieser ob seines obligatorischen Mittagsschläfchens kaum reagieren würde. Nach einiger Zeit holte man also mich, um Dr. Poigenfürst darauf hinzuweisen, dass unten beim Empfang ein bekannter Wiener Opernsänger mit seinen genagelten Schuhen klappere und mächtig Unruhe erzeuge in Erwartung des Erscheinens seines prominenten Wahlarztes.

Und während der Herr Bariton mehr und mehr seine Stimme strapazierte und Minute um Minute unfreundlicher und unerträglicher wurde, fasste ich mir ein Herz und holte vermeintlich sanft Prof. Poigenfürst aus seinem Tiefschlaf mit den Worten: „Herr Professor, unten tobt der Herr Opernsänger. Der ruft nach Ihnen.“

Poigenfürsts Antwort fiel kurz aus: „Lasst ihn toben.“ Also ging ich nach weiteren rund 30 Minuten zum Mann mit den genagelten Schuhen, um ihm mitzuteilen, dass Dr. Poigenfürst noch auf der Station wäre und bald erscheinen würde. Nach einer Stunde stapfte dann Poigenfürst langsamen Schrittes auf den Opernstar zu und wurde von diesem fast demütig und freundlichst begrüßt mit den Worten: „Tausend Dank, Herr Professor, dass Sie sich so rasch Zeit nehmen konnten für mich.“

Später nahm mich Dr. Poigenfürst mit väterlicher Geste zur Seite und sagte mir: „Siehst du, so macht man das.“ Ich war um eine weitere Erfahrung reicher und froh, dass nicht alle Prominenten so waren und so sind wie der Herr Opernsänger aus Wien.

Erst einmal Arzt in einem renommierten oder bekannten Krankenhaus, lernt man viel und schnell. Auch, was Umgangsformen betrifft. Und diverse Eitelkeiten. Ein Klinik-Oberarzt, den ich aus Datenschutz-technischen Gründen und zur Vermeidung rechtlicher Probleme fortan immer als „Dr. Schulter“ anonymisieren werde, war in dieser Zeit ein von mir im Grunde geschätzter, aber auch nicht immer ganz pflegeleichter Kollege. Er liebte Kameras und öffentliche Auftritte über alles, war darüber hinaus Schulkollege von Niki Lauda und stets unfreundlich und despektierlich im Umgang mit Laudas Freund Willi Dungl.

Als sich Niki Lauda, als Formel-I-Ikone natürlich auch schon vor rund drei Jahrzehnten einer der bekanntesten Österreicher, eines Tages verletzte und Willi Dungl seinen Besuch mit Lauda bei Professor Poigenfürst avisierte, herrschte entsprechend Aufregung im ganzen Krankenhaus und der Gang war richtig gesäumt mit hoffnungsfroh wartenden Ärzten, nach der Chance lechzend, eventuell ein Foto mit Niki Lauda zu erhaschen, oder gar als dessen Arzt auserkoren zu werden.

Ich erarbeitete mir sehr rasch den Ruf, höchst fleißig im Aufbau medizinisch-anatomischer Präparate zu sein.

Dungl und Lauda marschierten aber – alle anderen kaum wahrnehmend – auf Dr. Poigenfürst (den all das furchtbar kalt ließ) zu. In solchen Momenten und an solchen Tagen lernst du auch sehr rasch die andere Seite mancher „Götter in Weiß“ kennen. Wie auch immer, Poigenfürst hat mich in meiner Entwicklung ebenso geprägt wie mein Lehrer Professor Trojan. Der eine wie der andere waren große Vorbilder für mich.

Zu dieser Zeit sammelte ich – auch für meine weitere Karriere – wichtige Erfahrungen an der Anatomie. Ich erarbeitete mir sehr rasch den Ruf, höchst fleißig im Aufbau medizinisch-anatomischer Präparate zu sein. Es war eine sehr intensive und spannende Phase im Bereich der Forschung für mich.

Dazu war es erforderlich, Leichenteile zwecks weiterer Nutzbarkeit heraus zu operieren, und ich machte eine wissenschaftliche Untersuchung mit Schwerpunkt Schultereckgelenk. Dazu stellte ich den Bewegungsumfang dreidimensional dar, und um das zu bewerkstelligen, war es oft nötig, den Kopf abzutrennen, da ebendieser die dazu erforderlichen Aufbauarbeiten behinderte.

Dieses Vorgehen wäre im Jahr 2020 – Stichwort Ethikkommission – absolut unvorstellbar, damals war das Wort Ethikkommission aber noch ein Fremdwort. Um Bewegungen standardisieren zu können war es von hoher Wichtigkeit, dass die Leiche immer in derselben Position verweilte. Wir schraubten also die Toten an einen Sessel, indem wir sie mittels Schraube durch die Wirbelsäule fixierten und hatten dermaßen freien Zugang für unsere Arbeit.

Diese aus meiner Sicht extrem wichtige Forschungstätigkeit war aber dem damaligen Leiter des Anatomielabors ein Dorn im Auge und er setzte daher alles daran, um mich schnellstmöglich loszuwerden. Also ließ er sich etwas (besonders Geschmackloses und Niederträchtiges) einfallen.

Er drehte – und es war zu dieser Zeit gerade Hochsommer – vor Beginn des Wochenendes im Kühlraum, wo die Leichen für die Studien aufgebahrt wurden, den Strom ab. Sein Kalkül: Sollte am Montag darauf der Leiter der Anatomie, Professor Firbas, wie üblich an den Kühlräumen vorbei zu seinem Arbeitsplatz gehen, würde ihm wohl ein extrem übler und abstoßender Geruch entgegenkommen und er könnte, dadurch angewidert, eventuell motiviert sein, mein wissenschaftliches Arbeiten unverzüglich zu unterbinden.

Die hinterhältige Aktion verfehlte zunächst ihre Wirkung nicht. Professor Firbas kam tatsächlich Montagfrüh auf die Anatomie und als er am – eben nicht gekühlten – Kühlraum vorbeikam, strömte ihm der erwartet stechende Geruch, einhergehend mit einer unüberschaubaren Schar an Fliegen, entgegen.

Natürlich wurde ich zur Rede gestellt, konnte aber die Causa aufklären und meine Unschuld beweisen. Ob die kurz darauffolgende Pensionierung des Leiters des Anatomielabors damit in direktem Zusammenhang stand, wurde nie erwiesen. Und war mir auch egal. Mir war aber ohnedies nur wichtig, dass ich meine Forschungsarbeiten fortsetzen und so Erfahrungen sammeln konnte, die andere schlichtweg nicht hatten. Zwar musste ich ab diesem Zeitpunkt in regelmäßigen Abstand direkt an Professor Firbas Bericht erstatten und wurde auch immer wieder bei meiner Arbeit kontrolliert, aber dagegen war ja nichts einzuwenden.

Mir, als ehrgeizigem und aufstrebendem Jungarzt war bloß wichtig, Kollegen gegenüber einen Vorsprung an Wissen und Erfahrung zu haben und so auch Zugang zu Publikationen zu bekommen, die andere Ärzte nicht hatten.

Ich war also fleißig, ich verdiente inzwischen auch gutes Geld und ich liebte seit jeher Boote, Yachten und schnelle, schöne Autos. Also musste es 1984 ein Porsche 3.0 Carrera sein. Der war schön, der war schnell und der war teuer – 175.000 Schilling waren vor mehr als drei Jahrzehnten immens viel Geld. Auch für junge, aufstrebende und an sich gut verdienende Ärzte.

Klar, so ein internationaler Ärztekongress auf dem Arlberg lässt sich gerne mit ein paar netten Skitagen verbinden. Und wesentlich komfortabler und vor allem schneller in so einem Porsche 3.0 Carrera erreichen. Zumindest bis Kilometer 262,5 bei Mondsee. Regen, Aquaplaning und eine Leitplanke – und schon waren 175.000 Schilling geschrottet. Ich war halbwegs ok, mein Traumauto weniger und 125.000 Schilling, um den Porsche wieder in den Urzustand zu versetzen, hatte ich auch nicht mehr. Zum Glück hatte ich aber über private Kontakte die Möglichkeit, den Carrera halbwegs zusammenflicken zu lassen. Für 25.000 Schilling bei Porsche Krämer.

Ernsthafte Bemühungen meinerseits, als Schauspieler in Hollywood zu landen, gab es nicht.

Ja, ich und die Autos – Autos haben mich wie schon gesagt (ebenso wie Boote und Yachten) immer in den Bann gezogen. Die Ästhetik, der Sound, die Geschwindigkeit. Fast wäre ja sogar noch mehr daraus geworden. Bis zu meinem 16. Lebensjahr hatte ich eigentlich davon geträumt, Autorennfahrer zu werden. Den Strich durch diese Zukunfts-Rechnung machte mir ausgerechnet ein – ja, richtig –, ein Graphologe.

Meine Mutter hatte meinen Bruder Christian und mich zu einem solchen Handschriften-Deuter geschickt. Er fragte mich gleich eingangs nach meinen Berufswünschen, und schnell schoss es aus mir heraus: „Chirurg, Autorennfahrer oder Schauspieler.“ Die Analyse des Mannes, dem ich meine jugendliche Handschrift zur Bewertung vorzulegen hatte, war eindeutig und (gottgewollt oder von Mutter bestellt) unmissverständlich:

„Das mit dem Autorennfahrer, das kannst du vergessen. Dazu bist du nicht kaltschnäuzig genug. Aber Chirurg oder Schauspieler – ja das wäre möglich.“ Ernsthafte Bemühungen meinerseits, als Schauspieler in Hollywood zu landen, gab es nicht.

Oder doch?

In meiner Studienzeit verdiente ich nebenbei ein paar Schillinge als Statist in irgendwelchen Filmen, und eines Tages waren in Wien Dreharbeiten unter dem gleichermaßen bekannten wie (ob seiner polternden Art) gefürchteten Regisseur Michael Kehlmann angesagt. Ein dreiteiliger Film („Hiob“) stand auf der To-Do-Liste Kehlmanns und wir, also wir, die Statisten, wurden allesamt in Uniformen gesteckt. Ich erhielt den Auftrag, im Stechschritt über einen großen Platz zu gehen, und plötzlich rief Regisseur Kehlmann von seinem Kommandostuhl laut und mit einem Hauch an Derbheit: „Halt, halt, wer ist denn dieser Idiot? Der ist ja zu blöd wie ein Soldat zu gehen.“

Ich wurde aus der Szene rausgeschnitten und tröstete mich damit, in dieser Zeit sehr brav und erfolgreich mein Studium voranzutreiben. Also packte ich meine Studienunterlagen zum Themenbereich „Histologie und Embryologie“ und suchte nach einem geeigneten Sitzplatz, um meine Zeit als Ersatz-Statist mit dem Lesen meiner Fachliteratur zu verbringen.

Kaum hatte ich einen geeigneten Stuhl gefunden, saß plötzlich Regisseur Kehlmann, neben den ich mich frech bzw. unbedarft gesetzt hatte, bei mir. Kehlmann schaute ständig zu mir rüber und fragte mich auf einmal: „Hey, was lesen Sie denn da? Histologie und Embryologie? Na, so was, studieren Sie leicht gar Medizin?“

Plötzlich stieg ich vom ausgemusterten Statisten zum interessanten Gesprächspartner Kehlmanns auf, und gleichsam ungefragt erzählte er mir seine Krankengeschichte: „Wissen Sie, die Ärzte in Bayern sind eine Katastrophe. Die haben bei mir Krebs diagnostiziert. In der Schweiz haben sie dann festgestellt, dass ich ganz was anderes habe.“ Wir vertieften uns dermaßen ins Gespräch, dass das Skript-Girl am Set schon unruhig wurde und zu drängen begann. Meine „Belohnung“: Er machte noch ein paar Drehs und Statistenaufnahmen mit mir und grüßte mich höchst freundlich zum Abschied.

Nun ja, Talent für Hollywood war mir dennoch und trotz dieser lieben Erinnerung an einen großen Regisseur aus Wien nicht beschieden, aber immerhin. Abgesehen davon: Mein Interesse an der Medizin war ohnedies viel zu groß und größer als alle (nicht ganz ernsten) Ambitionen, eine Schauspielkarriere anzustreben.

Schon zu Schulzeiten leistete ich meine Ferialjobs immer in Krankenhäusern ab. Ausgerechnet in den Ferien nach erfolgreich abgelegter Matura, an die meine Mutter offenbar nicht zu glauben gewagt hatte, war ich für keinen Ferialjob angemeldet. Also musste meine Mutter kurzfristig ihre Kontakte zum Verwaltungsdirektor des Krankenhauses in Amstetten nutzen und schon landete ich – nach erfolgreicher Intervention – als Krankentransporteur und „Bettenfahrer“ in der öffentlichen Institution. „Da lernst du auf jeden Fall sämtliche Facetten eines Spitals kennen“, freute sich der Verwaltungsdirektor mir mitzuteilen.

Er wusste ja noch nicht, was er sich mit mir eingehandelt hatte. Ich wollte schließlich arbeiten. Und zwar wirklich arbeiten.

Das wiederum ging meinen damaligen Kollegen mächtig gegen den Strich. Die waren nämlich in erster Linie – um es höflich zu formulieren – auf Optimierung bzw. Arbeitsstress-Minimierung programmiert.

Besonders dem schon durch seine Körperfülle recht gemächlich wirkenden Rädelsführer der Entschleuniger war ich schnell ein Dorn im Auge, weil ich mit immer größerer Treffsicherheit dafür sorgte, dass die Patienten doch tatsächlich zur vorgesehenen Zeit im Operationssaal landeten und die Ärzte- und Schwestern-Teams dort nicht unnütz warten mussten. Und das mit einer erstaunlichen Systemoptimierung, die rund die Hälfte der Transporteure wegrationalisiert hätte.

Ein junger Bursch, der für heftigen Wind sorgen wollte in einer Umgebung der völligen Windstille – nein, das ging gar nicht. Und schon war ich zum Rapport beim erwähnten Verwaltungsdirektor bestellt, der mich lobend ermahnte: „Keine Frage, was du da tust ist großartig, richtig und wichtig für unser Krankenhaus, aber bitte sieh‘ ein, das geht hier einfach nicht. Du sorgst unter den Kollegen für viel zu viel Unruhe.“

Der Kompromiss war schnell gefunden und ich konnte schon leben damit. Der Verwaltungsdirektor bot mir allen Ernstes an, mich freizustellen und weiter mein Gehalt zu bezahlen. Ich willigte ein, alle waren glücklich bzw. wieder entschleunigt und mein Gehalt wurde brav weiter überwiesen.

Während des Studiums habe ich mir also leicht getan in Bereichen, mit denen andere schwer zu kämpfen hatten. Anatomie, Schädel, Schultern. Mein Fleiß und meine immense Erfahrung, die ich schon sehr früh sammeln konnte, sollten später zur Basis meines chirurgischen Schaffens werden.

Ein Nein kannte ich zu dieser Zeit nicht wenn es galt, Angebote zur Fortbildung und auch zur Arbeit anzunehmen.

Der Wunsch, mich weiterzubilden und jeden Tag die erforderlichen Schritte zu einem Spitzen-Chirurgen zu machen war auch größer als die Angst. Auch als die Angst vor Krieg. 1983 stand die Welt im Bann des ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak. Das Klagen über 350.000 Tote auf beiden Seiten, über 300.000 Verwundete, Diskussionen über Chemiewaffen-Programme oder die Operation Morgenröte dominierten über viele Monate die internationalen Schlagzeilen.

All das hinderte mich nicht, der Bitte und dem Angebot von „Dr. Schulter“ von der Flugambulanz nachzukommen, ihn bei einer heiklen Mission nach Kerman, rund 1.000 Kilometer südöstlich von Teheran gelegen, zu begleiten. Wir sollten uns dort – so lautete der Hilferuf aus dem Kriegsgebiet – eines schwer verwundeten Mitarbeiters der Firma Elin annehmen. Also ging es im Learjet der Flugambulanz via Istanbul nach Kerman.

Ein junger Bursch, der für heftigen Wind sorgen wollte in einer Umgebung der völligen Windstille – nein, das ging gar nicht.

Eine Reise, die sich tief in mir eingebrannt hat. Und die mir auch eine völlig neue Dimension in der Welt der Mediziner offenbart hat. In Kerman gelandet, waren wir schnell mit der widerlich-brutalen und menschenverachtenden Form dieses Krieges konfrontiert. Hingerichtete hingen noch an Stricken von den Brücken. Überall Männer mit Waffen. Ein Heer an Maschinenpistolen.

Wie konnten Ärzte, Schwestern und Helfer unter diesen Konditionen arbeiten und Menschenleben retten? Wir wollten es dennoch versuchen und wurden, von bewaffneten Einheiten begleitet, ins Krankenhaus gebracht. Persische Ärzte waren dort längst keine mehr anzutreffen. Nur mehr Pakistani und Kollegen aus Indien versuchten, die Stellung im Dienst der Menschen in Kerman zu halten.

Wir wurden zum vermeintlich verwundeten Elin-Mitarbeiter gebracht und sofort erkannten wir, dass der Mann längst Totenflecken aufwies. Er war offenbar in den Stromkreis geraten, innerlich verbrannt und nach unserer Diagnose seit längerer Zeit tot. Den Beteuerungen der Ärzte vor Ort, der Mann hätte vor wenigen Augenblicken noch gelebt, konnten wir wahrlich keinen Glauben schenken. Unverrichteter Dinge mussten wir nach wenigen Stunden wieder abreisen. Um ein paar weitere Stunden später selbst nur mit Glück zu überleben. Bei unserem Learjet setzte unmittelbar nach dem Aufsetzen in Wien-Schwechat einseitig die Schubumkehr ein. Zum Glück reagierte unser Pilot geistesgegenwärtig, schaltete die Schubumkehr aus und rettete uns dermaßen wahrscheinlich das Leben.

Die österreichische Flugambulanz hatte noch einen weiteren Einsatz für mich parat, den so mancher an meiner Stelle wohl eher versucht hätte zu vermeiden. 14 Tage Aushilfe in Gambia in Westafrika, einem zu 90% muslimischen Land, sollten auf mich warten. Gemeinsam mit meiner überaus hübschen Kollegin Uschi Scholz, Ex-Freundin von Film-Regisseur Roman Polanski, flog ich also nach Gambia, wo sich der Bedarf an medizinischen Hilfestellungen in erster Linie auf Behandlungen gegen die Geschlechtskrankheit Tripper konzentrieren sollte.

Weit aufregender war da schon ein Erlebnis, das auch unter die Rubrik entbehrlich einzustufen ist. Eines gemütlichen Abends gingen wir leger am (offenkundig) menschenleeren Strand spazieren. Der Plan, die Gunst der Stunde, absolut unbeobachtet zu sein, zu nutzen, veranlasste uns, ein Nackt-Bad im Meer zu nehmen, was in mehrerlei Hinsicht zu erheblichem Erregungspotential führen sollte. Zum einen bei davor von uns nicht bemerkten Buscharbeitern und zum anderen auch beim Head of Security unseres Resorts, der fuchsteufelswild war, uns grässlich niedermachte und von einer Auslieferung an die Polizei nur aus einem einzigen Grund Abstand nahm: „Because you are the doctors.“

Nacktbaden in einem muslimischen Land – man hatte fürwahr schon bessere Einfälle, wobei man zum Thema gelebter Doppelmoral auch einiges anmerken könnte angesichts der Tatsache, dass in Gambia der Sex-Tourismus Hochkonjunktur hat(te) und deutsche, belgische und niederländische Damen quasi Schlange standen bei den gut gebauten Jungs aus Afrika.

Weit weniger Erregungspotential hatte das Jahr 1984 für mich parat. Ich lernte und lernte, arbeitete und arbeitete, profitierte vor allem durch Primarius Wolfgang Scharf und entwickelte immer mehr eine Art inneren Antrieb, der sich dadurch äußerte, dass ich mit ständig steigender Euphorie und noch größerem Einsatz meinem Job als Jung-Arzt nachgehen wollte.

Ich begann in vergleichsweise jungem Alter viel zu publizieren, eignete mir jede Menge basiswissenschaftlichen Wissens im Bereich der Biomechanik an.

Urlaube? Fehlanzeige. Ich wollte nicht Urlaub machen, ich wollte arbeiten. Und begab mich derart in Permanenz-Dienst. Auf 21 Nachtdienste in fünf Wochen hatte ich es einmal gebracht. Kein Mensch fragte mich nach Arbeits- und Ruhezeiten, kein Betriebsrat schlug Alarm, keine Gewerkschaft murrte. Wäre mir sicher auch egal gewesen.

Als nächster Meilenstein in meinem immerwährenden Bestreben, besser zu werden und nach oben zu kommen, ist mir das Jahr 1987 in Erinnerung. Da flatterte uns eines Tages eine Einladung zum „Weltkongress der Knie-Chirurgen in Sydney“ ins Haus. Dort dabei sein wollten alle. US-Amerikaner, Australier, Deutsche, Starärzte aus Frankreich, schlichtweg aus aller Welt. Auch aus Österreich wurden jede Menge Arbeiten eingereicht. Und durchwegs abgelehnt. Mit einer einzigen Ausnahme:

„The extensor apparatus of the knee joint and its peripheral vasti – anatomic investigation and clinical relevance.“ Eingereicht von Dr. Reinhard Weinstabl aus Wien, wie man auch anno 2020 noch googeln kann. Nein, also das ging gar nicht. Da werden sämtliche Arbeiten namhafter und namhaftester Ober- und Starärzte aus ganz Österreich abgelehnt und dann soll ausgerechnet der junge Reinhard Weinstabl, der sich erst im dritten Ausbildungsjahr befand, Wien, Österreich und uns alle bei einem Weltkongress in Sydney vertreten?

Nein, das geht nicht – weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Also wurde – welcome back im Haifischbecken eitler und in ihrer Ehre gekränkter Top-Mediziner – rasch eine Besprechung der Oberärzte einberufen, wo so mancher Spitzenmediziner tief und tiefer griff, um zu verhindern, dass ausgerechnet so ein Jungspund im dritten Ausbildungsjahr dort hinfliegen darf.

Und tatsächlich befand auch Chefarzt Dr. Emanuel Trojan, dass ich noch zu jung wäre, um allein zu diesem Kongress nach Sydney zu fliegen. Und schon saß ich neben Dr. Trojan, der sich de facto als Begleitperson selbst nominierte, im Flugzeug nach Sydney. Der Weltkongress hielt, was er versprach. Dr. Trojan stellte mich sämtlichen Großen der Szene vor und plötzlich war der noch vergleichsweise junge Reinhard Weinstabl in der Situation, den Großen und Größten unter den Knie-Spezialisten dieser Welt seine Sichtweise und seine Expertise erklären zu können und zu dürfen.

Sogar der legendäre US-Arzt Dr. Doug Johnson lud mich auf ein Gespräch ein und holte sich meinen Rat. Diese wissenschaftliche Arbeit für und von Sydney sollte später auch die Grundlage für meine Habilitation darstellen. Und: Nie im Leben hätte ich 1987 in Sydney auch nur im Traum daran gedacht, dass ebendieses Wissen aus dieser Arbeit zehn Jahre später auch die Basis für eine wegweisende und die wahrscheinlich wichtigste Operation in meiner Ärzte-Laufbahn werden sollte. Eine Operation, die 1997 meinem Leben erneut eine völlig neue Wendung geben sollte. Dazu aber später mehr.

Auf 21 Nachtdienste in fünf Wochen hatte ich es einmal gebracht.

1987 – ich war glücklicher Jungarzt und hatte das Gefühl, dass mein Leben in jene Richtung gehen würde, von der ich einst als 15-Jähriger auf meinem Weg zum Graphologen geträumt hatte. Ich war kein Autorennfahrer und auch kein Schauspieler. Aber ich war ein vielversprechender junger Chirurg. Und, ich war nach dem Kongress in Sydney müde und erstmals so richtig urlaubsreif.

Vor dem ersehnten Urlaub ging es aber noch ins australische Cairns, das zu dieser Zeit mit rund 3.000 Einwohnern noch nicht wirklich zur Metropole gereift war. Ein Arzt-Kollege hatte dort zu einem Follow-Up-Symposium geladen und in sein Refugium eingeladen. Nun ja – Unfallchirurg in einem kleinen Städtchen wie Cairns? Das klang für mich zunächst nicht wirklich verlockend und gewinnträchtig.

Egal: Rein ins Taxi, endlos lange Straßen und vorbei an traumhaften Hügel-Landschaften mit großartiger Tier- und Pflanzenwelt. Mittendrin: Ein typisches australisches Haus, ein beeindruckender Fuhrpark und ein gigantischer Ausblick von der Terrasse Richtung Meer. Ich fragte meinen Gastgeber: „Haben Sie nicht Angst, dass sich im Laufe der Jahre einige hier vor ihrem Haus einkaufen und Ihnen diese wundervolle Aussicht durch ihre Häuser verstellen?“ Seine Antwort: „Nein, diese Angst habe ich nicht, das ganze Land hier gehört mir. Bis zum Meer dort vorne.“

Auch ein kleines Flugzeug und eine Yacht nannte er sein Eigentum, der Kollege aus der vermeintlich nicht nach Geld riechenden Region. Ich hatte damals einen Stundenlohn von 27 Schilling und dachte mir nur: „Irgendwas mache ich da falsch.“ Egal, ich war eben in Urlaubsstimmung und ergo dessen war (fast) alles in bester Ordnung.

Thailand war mein Urlaubsziel. Nicht wissend, dass ich in den folgenden Jahren immer wieder dorthin zurückkehren sollte. Zumindest zweimal pro Jahr zog und zieht es mich nach Thailand und andere Länder Südostasiens. Nun lag ich also hier in Thailand am Strand.

Glücklich, dass man glücklicher kaum sein konnte. Und in der vollen Überzeugung: Ein wunderbares Leben liegt vor mir.

Der Sport-Doc

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