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PROLOG

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AM VIERTEN JUNI 1989, dem Tag der ersten halbwegs freien Wahl in Polen seit dem Zweiten Weltkrieg, befand ich mich tief im Busch von Angola, unweit der strategisch wichtigen Eisenbahnlinie nach Benguela. Ich hatte eine Einheit von Jonas Savimbis UNITA-Rebellen auf einem langen Marsch von ihrer Basis Jamba zur Front im zentralen Hochland begleitet. Seit den siebziger Jahren hatten sie Krieg gegen eine von Kuba gestützte, in Luanda ansässige kommunistische Regierung geführt, und ich war voller Bewunderung für sie. Später sollte sich meine Meinung ändern, als mir der Personenkult um Savimbi, die Lügen meiner Aufpasser und der grassierende Voodoo-Aberglaube zuviel wurden.

Doch damals waren wir noch Verbündete im Kampf gegen den Kommunismus, und so freute ich mich, in der westlichen Presse berichten zu können, wie die besagte Rebelleneinheit einen Konvoi des kommunistischen Regimes in einen Hinterhalt gelockt hatte. Die Straße verlief entlang eines kleinen Deichs, der sich über den Kornfeldern erhob. Meine Begleiter griffen den Konvoi mit Mörsern, Maschinengewehren und Panzerfäusten an, und einige Lastwagen gingen sofort in Flammen auf. Schützenpanzer aus dem Konvoi erwiderten das Feuer mit schweren Maschinengewehren.

Ich machte Filmaufnahmen, schielte mit einem Auge auf den winzigen Kamerabildschirm, auf dem die Guerillas beim Plündern der brennenden Fahrzeuge zu sehen waren, und achtete mit dem anderen auf meine Umgebung. Plötzlich sah ich, wie einer der Kämpfer nur zehn Meter von mir entfernt umkippte. Eine Kugel aus einem schweren Maschinengewehr hatte ihm ein Bein abgerissen. Explodierende Granaten, Schreie aus dem Innern des Infernos und das Knistern von brennendem Gestrüpp übertönten die Stimmen der Soldaten, die sich widersprüchliche Befehle zuriefen. Der dichte Qualm, der sich über das Schlachtfeld ausbreitete, vermittelte eine trügerische Sicherheit. Mit riesigen Thunfischdosen, Munitionskisten und ein paar Schreibmaschinen über ihren Köpfen machten sich die Aufständischen schließlich auf den Weg zu den nahe gelegenen Hügeln. Unter der Beute war auch ein wertvoller Fund: das Archiv einer örtlichen kommunistischen Parteiorganisation, das unter anderem Listen von Kollaborateuren enthielt.

Aus Rache für den Hinterhalt wurden wir von der kommunistischen Luftwaffe bombardiert. Die Rebellen hatten ein Empfangsgerät auf die Frequenz der Jets abgestimmt, so daß wir die Gespräche zwischen den Piloten und ihrer Basis mithören konnten. Sie sprachen Spanisch, also handelte es sich höchstwahrscheinlich um Kubaner.

»Ich bin jetzt auf fünfhundert Fuß«, meldete eine aufgeregte Stimme. »Habe eine große Räuberbande direkt vor mir. Alles klar zum Bombenabwurf ... Abwurf erfolgt!«

»Volltreffer!« rief der andere Pilot nicht weniger aufgeregt. »Sie fliehen. Sie rennen davon.«

»Gut gemacht«, sprach eine ruhige Stimme aus dem Tower. »Kehren Sie zurück zur Basis. Zurück zur Basis.« Währenddessen konnten wir mehrere Tausend Fuß über uns die Flugzeuge als glitzernde Pünktchen am Himmel ausmachen. Die Piloten wagten sich erst gar nicht in Schußweite unserer Flugabwehrraketen. Die sinnlos abgeworfenen Bomben verfehlten ihr Ziel um Kilometer.

Wir erreichten unser Camp gegen Mitternacht und ließen uns den erbeuteten Thunfisch schmecken. Als ich im Morgengrauen des nächsten Tages aufwachte, schliefen die anderen noch. Um mich herum bibberten die Soldaten in der Morgenkälte unter ihren dünnen Decken. Die Wachen kauerten an den Lagerfeuern. Noch im Schlafsack legte ich Holz aufs Feuer und griff nach meinem Radio. Die klare Stimme des BBC-Sprechers drang durch den Äther. Es war einige Minuten nach der vollen Stunde, und ich hatte den größten Teil der Nachrichten verpaßt, aber die Zusammenfassung am Ende der Sendung bekam ich noch mit. Es gab eine schlechte und eine gute Nachricht, doch eine Meldung war so fabelhaft, daß ich mir die Augen rieb, um sicherzugehen, daß ich nicht träumte: Chinesische Panzer hatten den Tiananmen-Platz in Peking gestürmt; Ayatollah Khomeini war gestorben; und in Polen hatte bei der ersten nahezu freien Wahl seit der Machtübernahme durch die Kommunisten Solidarność einen überwältigenden Sieg errungen.

Ich sah meine Umgebung mit neuen Augen. Die schlafenden Soldaten, die getarnten Schützenlöcher und die Wachpatrouillen kamen mir plötzlich fremd vor. Vor einem Tag noch waren wir Kameraden, die ein und derselben Sache dienten. Jetzt aber war ich mit meinen Gedanken woanders. Was machte ich hier bloß mitten in Afrika?

Der Wahlsieg von Solidarność war der Anfang vom Ende des Kommunismus. Für mich bedeutete er vor allem eins: Nach acht Jahren im Exil konnte ich wieder in meine Heimat zurückkehren.

Meine Heimkehr nach Polen und der Wiederaufbau von Chobielin, dem verfallenen Gutshaus, das meine Eltern gerade erworben hatten, bedeuteten auch so etwas wie eine Reise in der Zeit. Ich war im kommunistischen Polen geboren und dort zur Schule gegangen, doch als ich mit achtzehn fortging, schätzte ich mein Land nicht besonders. Die Jahre des Exils hatten mich vom alltäglichen Kontakt zu Verwandten und Freunden abgeschnitten. Gerade in dem Alter, in dem man die Erinnerungen der eigenen Eltern auf einmal nicht mehr langweilig findet, sondern sich für sie zu interessieren beginnt, wurde ich ihrer beraubt. Ich wollte die Fäden dieser halbversunkenen Geschichte wieder aufnehmen, um zu sehen, wie ich geworden bin, was ich bin.

In England hatte ich mich daran gewöhnt, für einen Exoten gehalten zu werden, für ein Wesen aus einem seltsamen fernen Land, das derart von Überfällen und Katastrophen geschüttelt war, daß seine Einwohner wohl als leichtsinnig gelten mußten. Die unausgesprochene Unterstellung war, daß etwas mit uns nicht stimmte – mit diesen hoffnungslosen Romantikern, die hoch zu Roß gegen Panzer anzukämpfen pflegen – und daß wir unser Pech deshalb irgendwie verdienten. War da vielleicht etwas dran?

Ich hoffte, daß die Instandsetzung des Gutshauses mir helfen würde, etwas über seine Geschichte und die seiner Bewohner zu erfahren. Die Geschichte Polens, wie sie in der Schule vermittelt wurde, hatte mich nicht nur wegen der

Lügen der offiziellen Propaganda frustriert. Das Bild unserer Vergangenheit war nach meinem Empfinden zu grobmaschig, zu distanziert. Es hatte kaum Berührungspunkte mit dem Polen meiner Kindheit – vielleicht, weil so wenig Ereignisse, Menschen und Bauten aus meiner Geburtsstadt in den Geschichtsbüchern Erwähnung fanden. Wenn ich mich statt dessen auf mein Elternhaus und meine Region, im ureigensten Sinne auf meine Heimat konzentrieren würde, könnte ich womöglich die vergangenen Jahrhunderte mit konkreten Personen und realen Orten zum Leben erwecken.

Meine Freude über die mögliche Rückkehr nach Polen wurde allerdings von dunklen Befürchtungen getrübt. Das Land hatte im letzten halben Jahrhundert zwei totalitäre Regimes erlebt, zunächst das der Nazis, dann das der Kommunisten. Die meisten Menschen sind keine Helden, und meine Familie war wahrscheinlich keine Ausnahme. Was würde ich alles entdecken, wenn ich mich näher mit der Vergangenheit befaßte?

Das polnische Haus

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