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CHOBIELIN

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ICH WOLLTE SCHON immer in einem dworek wohnen. Jeder Pole möchte das. Ein im Ausland lebender Engländer träumt vielleicht davon, eines Tages in seine Heimat zurückzukehren und ein georgianisches Pfarrhaus zu beziehen. Ein Amerikaner irischer Herkunft sehnt sich vielleicht nach einem idyllischen weißen Cottage. Ein Deutscher oder ein Franzose möchte sich in seinen alten Tagen vielleicht auf einen kleinen Bauernhof in Bayern oder der Provence zurückziehen. Ein Pole sieht sich hingegen als stolzer Bewohner eines dwór, d.h. eines Gutshauses, oder eines etwas kleineren dworek. Ein typisches dworek ist ein klassizistischer Bau aus dem 18. oder dem Anfang des 19. Jahrhunderts, hält die Mitte zwischen einem aristokratischen Palast und einem florierenden Bauernhof und verfügt über das obligatorische weiße Säulenportal und zumindest einen großen Garten. Es muß nicht besonders vornehm sein – die meisten Häuser seiner Art bestehen aus Holz –, und in England würde ein durchschnittliches dworek gerade noch als geräumiges Cottage durchgehen. Früher war die polnische Landschaft mit ihnen gepflastert.

In einem dworek läßt es sich nicht nur einfach angenehm wohnen, es ist ein Lebensstil. Nationen, die noch nie unter einer Besatzungsmacht gelebt haben, können sich wohl kaum vorstellen, welche Aura solche Orte umgibt, an denen einst die nationalen Hoffnungen bewahrt wurden. Im 19. Jahrhundert, als Polen von der europäischen Landkarte verschwand, wurde das Polentum an zwei verschiedenen Orten gehütet: in der Kirche durch die Bauern und im dwór durch den Adel. Im 19. Jahrhundert gingen von diesen Gutshäusern die aussichtslosen Aufstände des polnischen Adels aus; im Gegenzug wurden die Domizile von den zaristischen Machthabern beschlagnahmt. Bis vor wenigen Generationen drehten sich in Polen die populären Romane – die vielleicht am besten die jeweiligen Volksvorstellungen widerspiegeln – immer um ein dworek. Jedes polnische Kind hat in der Schule, sogar in der kommunistischen Zeit, diese Vorstellung von Arkadien kennengelernt, die der Nationaldichter Adam Mickiewicz im Pariser Exil beschrieben hat:

Vor vielen Jahren lag an dieser Stelle

Ein Edelhof in einem Birkenhain.

Die weißen Wände leuchteten so helle

Durchs dunkle Grün der Pappeln, die in Reihn

Wie stumme Wächter das Gehöft umstanden.

Und wenn im Herbst der Sturm zog durch das Land,

Dann wurde all sein Toben schnell zuschanden:

Die Pappeln hielten seinem Wüten stand.

Das Wohnhaus war nicht groß. Die weißen Wände

Von Holz gefügt. Jedoch das Fundament

War ringsum fest gemauert. Fleiß’ge Hände,

Das sah man, waren tätig ohne End.

Und große Schober standen in der Enge

Des Hofraums, denn der weite Scheunenraum,

So groß er war, er faßte doch die Menge

Des eingebrachten Erntesegens kaum.

Getreidehocken standen dort in Reihen,

So dicht, wie Sterne hoch am Himmelszelt.

Sie zeugten von dem prächtigen Gedeihen

Des Korns auf dem gepflegten Ackerfeld.

Und in der Brache wohlgenährte Pferde,

Sie pflügten, ob es gleich noch früh im Jahr,

Zur Herbstsaat schon die schwarze, fette Erde

In schnurgeraden Furchen, die fürwahr

So sauber waren wie des Gartens Beete.

Hier herrschte Ordnung, das konnt’ jeder sehn,

Und Wohlstand, denn die neuesten Geräte

Sah man in Menge nah dem Hofe stehn.

Und immer war das große Hoftor offen,

Als lüd’ es jeden Wanderer zur Rast

Und spräche: »Freund, du hast es gut getroffen,

Ich bitte dich, tritt ein als lieber Gast!«*

Mickiewicz’ Lobgesang auf das dworek mag zwar auf dem Lehrplan gestanden haben, um die realexistierenden Landhäuser war es im kommunistischen Polen jedoch nicht gerade gut bestellt. Die großen aristokratischen Paläste ließ man nicht einfach verkommen, sondern viele wurden von der katholischen Kirche als Schule oder Altersheim genutzt. Auch den Anwesen und Gutshöfen, die agrarischen oder wissenschaftlichen Instituten übereignet wurden, war ein besseres Schicksal beschieden – das Verwaltungspersonal solcher Einrichtungen war in der Regel kultivierter als die Direktoren der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Etliche Paläste standen als sogenannte Häuser für kreative Begegnungen den linientreuen Schriftstellern und Journalisten zur Verfügung. Die wirklich beeindruckenden Häuser wurden zu Repräsentationszwecken erhalten: Der sozialistische Staat pflegt die Kulturdenkmäler der Nation. Andere erhielten die adrette Bezeichnung »Weiterbildungsanstalten für Parteikader«. Hier konnten die Parteiführer ihren wohlverdienten Urlaub verbringen.

Das gewöhnliche dworek dagegen, das einst das Herzstück der meisten Dörfer bildete, ist so gut wie ganz aus der polnischen Landschaft verschwunden. Von über zehntausend Gutshäusern, die Polen vor dem Krieg zählte, haben weniger als tausend die kommunistische Herrschaft überstanden, und nur die Hälfte davon in einem mehr oder weniger intakten Zustand. Ihre Zerstörung war, anders als in Rußland, nicht einmal die Folge einer gezielten Kampagne; sie sind durch bloße Ignoranz und Schlamperei zugrunde gegangen. Im Zuge der kommunistischen Bodenreform von 1944 (darüber später mehr) wurden Grundstücke über 50 ha enteignet und entweder in den Kollektivbesitz der Genossenschaften überführt oder unter den Kleinbauern aufgeteilt. Die verbliebenen 50 ha samt Familiensitz sollten im Besitz der ursprünglichen Eigentümer bleiben. Doch wie so oft scherten sich die Kommunisten nicht einmal um ihre eigenen Gesetze. Trupps von Polizisten oder militanten Parteimitgliedern warfen die Hausherren hinaus, gleichgültig, wie das Gesetz lautete. Während die Eigentümer ihre Sachen packten, wurden die ansässigen Bauern zum Plündern angestiftet. Noch Jahre später war es keineswegs ungewöhnlich, wenn man in einem Schweinestall die für allerlei nützliche Zwecke umfunktionierten Teile eines Konzertflügels vorfand. Die geplünderten Gutshäuser wurden Behörden, Genossenschaften oder Staatsbetrieben übergeben, die es oft genug billiger fanden, die Häuser gänzlich abzureißen.

Wer im Exil lebt, sehnt sich vielleicht besonders stark nach einem eigenen Zuhause. Bei mir selbst machte sich diese Sehnsucht ab dem Moment bemerkbar, als ich 1981 in Großbritannien ankam. Ich hatte damals eigentlich nur vorgehabt, dort zwischen Abitur und Studienanfang ein paar Monate zu verbringen, doch während meines Besuchs verhängte General Jaruzelski in Polen das Kriegsrecht und schlug die Opposition der Solidarność-Gewerkschaft nieder. Anstatt zurückzukehren und eine Festnahme zu riskieren – Freunde von mir waren bereits verhaftet worden –, zog ich es vor, ins Exil zu gehen und die Machthaber der Volksrepublik Polen zu reizen, wo ich nur konnte. Mein Aufenthalt im Ausland, der nach dem kommunistischen Gesetz illegal war, und meine Stellung als Journalist bedeuteten zusätzliche Arbeit für die überlasteten Beamten der zuständigen Sicherheitsbehörde: Sie hatten nun auch noch die Telefonate meiner Eltern abzuhören, ihre Post zu überwachen und sich darüber zu sorgen, was ich in der kapitalistischen Presse wohl alles über das sozialistische Polen veröffentlichen würde. Eines der beliebtesten Druckmittel der Sicherheitspolizei bestand in der Verweigerung von Ausreisegenehmigungen. Unter dem Vorwand, zur Fußball-WM fahren zu wollen, hat mein Vater einmal versucht, mich zu besuchen – aber die Polizei durchschaute seinen Plan. Ein anderes Mal gaben meine Eltern von, sie wollten eine Pilgerfahrt nach Rom unternehmen. Sie verbrachten einige Tage und Nächte in der Warteschlange vor der Ausreisebehörde, um ihre Visa zu beantragen. Natürlich durchschaute man auch diesen Plan. Nach der achten oder neunten Befragung, eine Woche vor der beabsichtigten Fahrt, fuhr der diensthabende Polizeioberst meine Mutter an: »Falls Ihr Sohn nicht endlich seinen Mund hält, werden Sie ihn nie wiedersehen.« Tränenüberströmt verließ meine Mutter das Büro, doch am nächsten Tag lud man sie wieder vor und teilte ihr mit, die gnädige Volksrepublik wolle ihr immerhin eine letzte Chance gewähren, mich von meinem antisozialistischen Lebenswandel zu kurieren.

Wir verbrachten den mühselig erkämpften Urlaub in einem abgelegenen Häuschen hoch über den Felsen von Hell’s Mouth Bay im ländlichen Norden von Wales. Dort kam uns zum ersten Mal der Gedanke, irgendwann einmal ein altes Haus auf dem Land instandzusetzen. Unser Ferienhaus befand sich am äußersten Zipfel einer hügeligen Landzunge, wo Schafe auf den von Steinmauern umhegten Wiesen grasten. Meiner Mutter gefielen die kleinen Cottages und die Bauernhöfe, die hier und da in der Landschaft auftauchten. »Die Bewohner sind überhaupt nicht reich«, bemerkte sie, »denn ihre Autos sind meist alt. Aber jedes Haus ist ordentlich gestrichen, und die Gärten sind gepflegt. Jedes hat offensichtlich einen Besitzer, der sich kümmert – ganz anders als bei uns.« Je mehr schöne Bauernhöfe und herrschaftliche Anwesen wir sahen, desto trauriger stimmte uns der desolate Zustand der polnischen Landschaft. Polen stand immer noch unter kommunistischer Herrschaft, und es sah nicht so aus, als würde der Kommunismus bald untergehen. Doch vielleicht war das Regime mittlerweile nachlässig genug, um ein Auge zuzudrücken, wenn sich jemand eines alten Schutthaufens annahm. Meine Eltern faßten den Vorsatz, sich in der Nähe von Bydgoszcz (Bromberg), unserer Heimatstadt im Westen Polens, nach einem verfallenen Haus umzusehen.

Einige Monate später bekam ich von einem Freund, der auf Durchreise in London war, ein Videoband. Meine Eltern hatten sich an das Amt für Denkmalschutz von Bydgoszcz gewandt und Hinweise auf geeignete Objekte bekommen. Ein Haus namens Chobielin hatte ihnen am meisten zugesagt. Es lag an einem Fluß, was für meinen Vater, einen begeisterten Angler, besonders wichtig war. Wie die meisten anderen Häuser auf der Liste baufälliger Gebäude war auch dieses nicht viel mehr als eine Ruine. Doch Chobielin wies einige Vorteile auf: Es war nur eine halbe Autostunde von der Stadt entfernt in einer wunderschönen Umgebung außerhalb eines Dorfs gelegen, und es wurde zudem nur von einer einzigen Hausbesetzerfamilie bewohnt. Die Videoaufnahmen waren von schlechter Qualität, ließen aber erkennen, daß Chobielin früher wie ein traditionelles dwór ausgesehen haben mußte.

Über die Geschichte des Anwesens wußten wir nur, was die ansässigen Bauern meinen Eltern erzählt hatten. Demnach hatte Chobielin um die Jahrhundertwende einem Deutschen gehört, der auch den nicht ganz stilgerechten Seitenflügel hatte anbauen lassen. Als dieser deutsche Eigentümer während der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg bankrott ging, kaufte ihm sein polnischer Verwalter das Haus zusammen mit mehreren Hektar Land für einen Apfel und ein Ei ab. Den Gerüchten der Bauern zufolge wurde das Gut nach der Befreiung durch die Rote Armee im Jahre 1945 von den Schergen des Innenministeriums übernommen, die dort wüste Orgien veranstalteten. Als die Schweinereien zu sehr ausarteten, wurde es den Bediensteten des Landguts anvertraut, die es vollends herunterkommen ließen. Angeblich wurde die Spitze der Solidarność nach ihrer Verhaftung an einigen bitterkalten Tagen und Nächten in dem verfallenen Gebäude festgehalten, als im Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt worden war. Entfernte Verwandte der Vorkriegsbesitzer lebten in Kanada und statteten Chobielin sogar hin und wieder einen Besuch ab. Uns wurde jedoch gesagt, daß sie nicht vorhätten, das Haus wiederaufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt war der Kauf von baufälligen Gebäuden bereits seit zehn Jahren erlaubt, allerdings erkundigten sich nur wenige ehemalige Besitzer nach ihren Häusern. Solange der Sozialismus herrschte, trauten sie sich nicht. Die meisten waren schon zufrieden, wenn sich wenigstens jemand um ihr früheres Eigentum kümmerte.

Einige Tage, nachdem ich das Video bekommen hatte, gelang es mir endlich, mit meinen Eltern zu telefonieren.

»Wieviel verlangen sie für das Haus?« brüllte ich in den Hörer.

»Was hast du gesagt?« Die Stimme meines Vaters war durch das Knacken und Rauschen in der Leitung kaum zu verstehen.

»Ich sagte: Wieviel verlangen sie für das Haus?«

»Was? Ich verstehe dich nicht, die Leitung ist so schlecht. Es ist immer das gleiche, wenn es regnet. Hast du gefragt, wieviel sie verlangen?«

In diesem Moment unterbrach uns die polnische Vermittlung: »Sind Sie fertig?«

»Nein, sind wir nicht ...«

Dann war die Leitung plötzlich tot.

Ich schickte einen Brief, in dem ich – ohne den Preis zu kennen – mein Kaufinteresse bestätigte. Sechs Wochen später traf die Eilsendung in Bydgoszcz ein. Wie es so üblich war, erklärte eine angeheftete Notiz, daß die Sendung auf dem Postweg versehentlich beschädigt worden wäre. Der Brief war einfach aufgerissen und hernach in eine Plastikhülle gesteckt worden. Eigentlich hätte ich damals schon wissen sollen, daß das Regime am Ende war: Die Staatssicherheit hatte offenbar wichtigere Dinge zu tun, als ihre Schnüffelei ordentlich zu kaschieren.

Wenigstens theoretisch stand das Gutshaus unter Denkmalschutz. Wie teuer den Kommunisten unser nationales Erbe tatsächlich war, kann man indessen an der Art und Weise ermessen, wie der Kaufpreis festgesetzt wurde: Die Lokalbehörden beauftragten einen Bauunternehmer, den Schrottwert der vor Ort befindlichen Steine, Balken und übrigen verwertbaren Baumaterialien zu schätzen.

In letzter Minute bekam die Sache noch einen Haken. Die Mitarbeiterin der Stadtverwaltung, die bereits seit einem Jahr mit dem ganzen Papierkram betraut war, entsann sich plötzlich: »Haben Sie daran gedacht, daß Sie mit dem Erwerb jeden Anspruch auf Bezugsscheine verlieren?« Sie sah meine Eltern mit mitleidigem Blick an und erwartete wohl, daß sie jetzt einen Rückzieher machen würden. Sicherlich wäre keiner so leichtsinnig, sich seine Marken entgehen zu lassen.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, hatte es andauernd einen »vorübergehenden« Mangel an Luxusartikeln wie Seife, Schuhen, Toilettenpapier oder Wurst gegeben. Jetzt, in den achtziger Jahren, waren sogar Wodka, Zucker und Butter nur noch auf Marken zu bekommen. Die Bauern jedoch – als solcher galt jeder, der mehr als ein Hektar Land besaß – gingen weitgehend leer aus, da angenommen wurde, daß sie Schweine oder Hühner hielten und ihre Produkte gegen alles mögliche tauschen konnten.

»Also gut, dann verzichten wir eben auf Bezugsscheine«, sagte mein Vater. Es war ihm egal, auch wenn er für den Rest seines Lebens Schweine und Hühner aufziehen müßte.

So erwarben wir schließlich ein kaputtes Haus mit einigen Hektar Land in der Nähe einer Großstadt für weniger als tausend Pfund. Um genau zu sein, kostete uns die Übertragungsurkunde 6 849 899 Złoty, zu einer Zeit, als der inoffizielle Wechselkurs des Dollars 5500 Złoty betrug. Anfang 1989, als der Kaufvertrag geschlossen und das Geld überwiesen wurde, war das keine geringe Summe. Das durchschnittliche Monatseinkommen der Polen lag bei etwas mehr als 100 000 Złoty. Wir haben sicherlich zuviel bezahlt, nämlich den Gegenwert von einigen polnischen Autos, und das, obwohl das Kultusministerium damals empfahl, vergleichbare Objekte in ähnlich schlechtem Zustand für den symbolischen Betrag von einem Złoty zu veräußern. Dabei wurde der tatsächliche Wert von Chobielin durch den Umstand geschmälert, daß immer noch eine Familie ehemaliger Hofbediensteter dort wohnte. Theoretisch oblag es den Behörden, ihnen eine Ersatzwohnung zu stellen. In der Praxis konnte man jedoch nichts gegen Hausbesetzer ausrichten, und so wurde uns allmählich klar, daß wir ihnen, um sie zum Auszug zu bewegen, am Ende eine Wohnung kaufen mußten.

Es hätte noch Jahre dauern können, bis ich endlich eine Chance bekommen hätte, Chobielin selbst zu besichtigen. Mit meinem Asylgesuch in Großbritannien hatte ich gegen das kommunistische Gesetz verstoßen, und so war mir die Einreise nach Polen unmöglich geworden. Im Februar 1989 beobachtete ich den Rückzug der Sowjetarmee aus Kabul, und trotzdem schien es mir bis zum Ende des Kriegs, den ich dem »Reich des Bösen« persönlich erklärt hatte, noch ein langer Weg zu sein. Schließlich bedurfte es aber nur noch eines kurzen Endspurts. Bereits im August saß ich auf den Zuschauerrängen des polnischen Parlaments und erlebte die Inauguration des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens seit dem Krieg. Genau wie die Afghanen hatten wir endlich triumphiert, doch im Gegensatz zu ihnen war es mir vergönnt, die Früchte des Sieges zu kosten.

Ein paar Wochen nach meiner Rückkehr aus Angola sprach ich in London mit einem polnischen Konsul. Derselbe Herr hatte mir einige Jahre zuvor erklärt, daß die Regierung es begrüßen würde, wenn eine unerwünschte Person wie ich ihre polnische Staatsbürgerschaft aufgäbe. Diesmal war er jedoch höchst zuvorkommend: »Paszporcik będzie w try miga« – »Wir werden ihnen in null Komma nichts einen hübschen kleinen Paß ausstellen«.

Vierzehn Tage später war ich in Westberlin und passierte die Mauer Richtung Osten. Im Morgengrauen erreichten mein Vater und ich die polnische Grenze. Zum ersten Mal erblickte ich Polen als Erwachsener. In einem Dorf sahen wir im Vorbeifahren, wie eine in Weiß gekleidete Frau die Fensterläden eines Geschäfts öffnete. Davor hatte sich schon eine fröstelnde Warteschlange gebildet. In einem anderen Ort machte ein Polizist in seinem Wagen ein Nickerchen, das müde Haupt gegen die Kopfstütze gelehnt, ohne Interesse für die Radaranlage, die am Straßenrand postiert war. Er regte sich überhaupt nicht, obwohl wir mit Sicherheit das Tempolimit überschritten hatten. Milchfahrer fuhren mit ihren Fuhrwerken an den Bauernhöfen vorbei und luden mit gekrümmtem Rücken die auf Holzgestellen bereitstehenden Milchkannen auf. Wild dreinschauende Männer, die immer noch oder schon wieder betrunken waren, torkelten über die Straße.

Während der Fahrt versuchte ich mir vorzustellen, wie die Landschaft vor dem modernen architektonischen Durcheinander ausgesehen hatte. In einem Dorf verrieten nur noch eine zerbrochene Steintafel und ein Engelsflügel aus Gips, die aus dem Laub hervorschauten, was der kleine Hügel neben der Straße einmal gewesen war: ein deutscher Friedhof. Auf einem Hof ruhte der Neubau einer asbestbeschichteten Scheune auf Grundmauern aus Granit, die der einstige Eigentümer für die Ewigkeit errichtet hatte. Ab und zu ließ ich meinen Blick über kleine Straßen mit Kopfsteinpflaster gleiten, die von der Hauptstraße ins Gestrüpp führten, und manchmal erspähte ich dabei das ramponierte Portal eines noch erhaltenen Gutshauses oder auch nur einen Haufen Steine, wo einst ein solches Haus gestanden hatte.

Drei Stunden hinter der Grenze erreichten wir unsere Heimatgegend in der Nähe meiner Geburtsstadt Bydgoszcz. An der Bushaltestelle von Jarużyn, einer von Unkraut überwucherten, mit obszönen Sprüchen bekritzelten Betonhütte, bogen wir von der Hauptstraße ab. Die letzten Kilometer legten wir auf einer unbefestigten Straße zurück, über Schlaglöcher ruckelnd und in eine dichte Staubwolke gehüllt. Wir näherten uns Chobielin.

Der Grundriß des alten Gutshofes war noch erkennbar. Wir fuhren an der Schmiede mit ihrem schiefhängenden Dach vorbei. Vor einer Ansammlung von Scheunen und Häuschen – den alten Wirtschaftsgebäuden – winkten uns Kinder mit schwarz verschmierten Gesichtern zu. Plötzlich wurden sie aber scheu, steckten sich den Daumen in den Mund und schauten weg. Dann fuhren wir wieder in den Schatten auf eine lange Allee von hohen Kastanien, die wie ein abgenutztes Gebiß hier und da Lücken aufwies. Steine, die früher einmal ein Kopfsteinpflaster gebildet hatten, schlugen unter meinen Füßen an die Aufhängung des Wagens. Wir befanden uns auf der Zufahrt zum eigentlichen Gutshaus.

Von einem kleinen Hügel aus konnten wir den Park sehen. Knorrige Eichen und Ulmen in sanften Grüntönen erhoben sich inmitten eines leuchtenden, mit Klatschmohn gesprenkelten Maisfelds – wie alte Männer inmitten ihrer blonden Enkel. Bald darauf brummten wir durch einen dunklen Tunnel aus Bäumen, deren Kronen zusammengewachsen waren. Wir mußten anhalten, um Felsbrocken und Äste aus dem Weg zu räumen. Am Ende des Tunnels drang Licht durch das Blätterwerk. Wir traten hinaus ins helle Tageslicht, und da lag, etwa hundert Meter enfernt auf einer Anhöhe zwischen Park und Fluß, eine malerische Ruine.

In den grellen Strahlen der Morgensonne hob sich deutlich ein spitzes Dach mit Pfannen in der Farbe reifer Orangen gegen den Hintergrund sattgrüner Baumwipfel ab. Die Mauern bestanden aus verwitterten Ziegelsteinen von altmodischer Größe, die nur noch zum Teil von grauem Putz überzogen waren. Vier quadratische Säulen, an denen ebenfalls der Putz bröckelte, stützten einen geländerlosen Balkon, aus dem ein wildes Gestrüpp hervorwuchs. Links vom Portal waren die Fensterscheiben zerbrochen, und Vögel flogen ein und aus, doch auf der rechten Seite hingen noch Vorhänge. Darüber waren einige Dachziegelreihen durch Zinkplatten ersetzt worden. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf, und es roch nach Heizkohle. Die Ruine war also noch immer bewohnt.

Der Blick auf das Haus wurde von etlichen Holzschuppen verstellt, die an die Außenmauern und an die Überreste des Eingangstors angebaut waren. Zudem hatte jemand das ursprüngliche Gutshaus um einen eckigen Seitenflügel im Stil eines herrschaftlichen Stadthauses erweitert, so daß das Gebäude wie eine riesige Dampflokomotive aussah.

Das Grundstück vor dem Haus war mit Müll übersät. Glasscherben knirschten unter meinen Schuhen, als ich mir zwischen rostenden landwirtschaftlichen Geräten, Faßdauben, einem Trog, einem Metalleimer ohne Boden, Drahtstücken, alten Reifen und Trümmern des alten Zauns einen Weg auf das Haus zu bahnte.

In diesem Moment schlüpften zwei kleine Köter durch ein Loch in der Balkontür hinaus und fingen wütend zu kläffen an. Eine aufgescheuchte Gänseschar floh gackernd in eine der Hütten am Zaun.

Durch den Lärm alarmiert, erschien eine Bäuerin mit einer Teigrolle in der Hand im Portal. Sie trug eine Schürze und war fast ebenso breit wie groß. Die grimmige Entschlossenheit in ihrem Gesicht wich einem verkniffenen Lächeln, als sie sah, warum die Hunde anschlugen und die Gänse verschreckt waren.

»Dzień dobry panie Sikorski«, grüßte sie meinen Vater, als wir näherkamen.

»Dzień dobry pani Erlichowa«, erwiderte er. »Dies ist mein Sohn.« Er sah mich an. »Er ist eben erst aus England zurückgekommen. Er wollte als erstes hierherfahren.«

Nachdem sie mich mit einem kurzen, strengen Blick von Kopf bis Fuß gemustert hatte, sagte sie: »Witamy młodego pana dziedzica.« Willkommen, junger Herr. Auf ihrem dicklichen Gesicht bildete sich ein breites, etwas übertriebenes Lächeln. War es der Ausdruck einer gewissen Unterwürfigkeit, oder machte sie sich über mich lustig? Es war schwer zu sagen.

Bei meinem ersten Besuch in Chobielin, am ersten Tag meiner Rückkehr nach Polen, war ich mir nicht sicher, wie ich auf korrekte Art und Weise Zutritt zu meinem eigenen Haus erbitten sollte. Es war vielleicht mein Haus, aber es war Frau Erlichs Heim.

»Darf ich?«

»Aber bitte.« Frau Erlich machte eine feierliche Geste, offenbar dankbar darüber, gefragt zu werden, und trat zur Seite.

Ich drückte eine schwere Messingklinke herunter, und die massive Holztür öffnete sich. Bevor meine Augen sich an das Dunkel in der Halle gewöhnt hatten, hörte ich über meinem Kopf Vogelgezwitscher. Unter der Decke befand sich an einem Haken, der einst einen Kronleuchter getragen hatte, ein Nest. Ein Lichtstrahl, der durch ein Fenster in die Halle drang, fiel genau auf eine Büchse mit brauner Farbe, die auf der Holztreppe abgestellt war. Der Pinsel, der noch darin steckte, war steinhart. Dichte schwarze Spinnweben verhüllten die kümmerlichen Überbleibsel eines Sicherungskastens. Stromkabel, deren Kupferenden mit grober Hand zusammengedreht waren, hingen frei von einem Brettchen herunter.

Die Bäuerin folgte mir ins Haus und nahm das Vorhängeschloß von einer Flügeltür, in die jemand die Nummer 7 eingeritzt hatte. Wir betraten das frühere Wohnzimmer. In der Mitte stand eine große Holzkiste mit faulem Obst. Ein aus der Wand gerissener Lichtschalter baumelte an den Drähten. In einer Ecke lag ein hüfthoher Trümmerhaufen. Kachelscherben deuteten die Stelle an, wo einmal ein Ofen gestanden hatte. Der Raum war stockfinster. Die Verandatür war zugemauert worden.

Die Bäuerin führte mich durch die übrigen Räume. Keine einzige Tür verfügte über die Originalklinken. Messing war durch Aluminium ersetzt worden, oder man hatte Löcher in die Türen gebohrt, um sie mit einfachem Draht zu verschließen. Überall dasselbe: zertrümmerte Öfen, herausgerissene Dielen, Spinnweben in den Ecken, abblätternde Farbe, Hühner.

»Sehen Sie doch, was die gemacht haben!« Sie zeigte aufgeregt auf ein großes Loch in der Decke des Eßzimmers. Ein wuchtiger, völlig verrotteter Balken schwebte bedrohlich über unseren Köpfen. Die Hausbesetzer, die oben gelebt hatten, seien daran schuld, meinte sie empört. Wasser drang durch die Ritzen und zerfraß das Gebälk. Ohne die Stützen im Eßzimmer wären das Dach und das ganze obere Stockwerk längst eingestürzt.

Die Außenmauern waren ebenfalls beschädigt. Ein Riß in einer der Seitenmauern, der an manchen Stellen armdick war, zog sich von der Dachspitze bis zur Mitte des Erdgeschosses. Die Linde neben dem Haus war aller Wahrscheinlichkeit nach der Übeltäter. Ihre Wurzeln waren unter die Fundamente gewachsen und hatten die Mauer angehoben. Die komplette Mauer müßte abgerissen und Stein für Stein wieder aufgebaut werden.

Sogar der Keller – ein Labyrinth aus kühlen Kammern mit gemauerten Wänden und gewölbten Decken – drohte zusammenzubrechen. Manche Schlußsteine hatten sich gelokkert. Entfernte man aber nur einen einzigen Stein, könnte die ganze Decke oder gar ein Teil des Hauses einstürzen. Und auch wenn sich die Gewölbe reparieren ließen, die Kellerräume waren tief und der Fluß sehr nahe. Nach dem Einbau einer Zentralheizung würden die Wände Wasser ziehen und könnte die Nässe zur Gefahr werden. Die Sicherung der Fundamente würde viel Zeit und Geld in Anspruch nehmen.

Das Grundstück machte einen nicht weniger jämmerlichen Eindruck. Vom Pförtnerhaus, einem hübschen kleinen Gebäude, in dem noch bis 1982 Leute gewohnt hatten, war nur noch das Gemäuer übrig. Alle Fenster- und Türrahmen waren herausgerissen worden. Ein rostiges Stahlseil war um die Dachbalken geknüpft – offenbar hatte jemand versucht, der Ruine den Rest zu geben.

Das Rauschen des Wassers wurde lauter, als ich mich dem Fluß näherte. Am gegenüberliegenden Ufer ragte ein Klinkerbau hoch – die alte Mühle. Als ich nähertrat, sah ich, wie ein Junge von einem Pfeiler kopfüber in den Wasserfall sprang. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf und ließ sich stromabwärts in seichteres Wasser treiben. Die Mühle stand gerade noch; die Dachbalken im neugotischen Stil bogen sich schon deutlich durch. Wie ich später erfuhr, wurde sie von einer Karpfenzucht als Lagerhaus genutzt. An den Pfeilern im Fluß waren früher Turbinen befestigt. Ein paar riesige Eisenräder standen, mit einer Rostschicht und zahlreichen Spinnweben bedeckt, an die Mühle gelehnt, stumme Zeugen der nicht unbeachtlichen Erfindungsgabe früherer Zeiten.

Direkt gegenüber vom Eingangsportal, auf der anderen Seite der Straße, die uns zum Haus geführt hatte, wuchs ein Fichtenwäldchen an der Stelle des Friedhofs. Alte Mauerreste deuteten darauf hin, daß er in der Vergangenheit mehrmals erweitert worden sein mußte, um den aufeinanderfolgenden Generationen der Besitzer Chobielins Platz zu bieten. Vom Eisengeländer, das ihn einmal eingegrenzt hatte, war keine Spur mehr übrig. Außerdem hatten die frömmlerischen Bauern die Kapelle zerstört und die Gräber geplündert. Was blieb, waren Grundgerippe aus Granit und Vertiefungen im sandigen Boden. Die Grabsteine – die aus schwarzem Marmor gehauen waren, wie wir später erfuhren – waren zu Wiederverwendungszwecken abtransportiert worden. Man mochte gar nicht wissen, was mit den menschlichen Überresten geschehen war. War es überhaupt eine so gute Idee, sich in der Nähe von Grabschändern niederzulassen?

»Meine Güte, war es früher nicht schön hier?« Die Bäuerin seufzte, und ihre Augen wurden glasig, als sie an die alten Zeiten zurückdachte. »Hier standen einmal zwei Kastanien, eine auf dieser und eine auf der anderen Seite der Treppe.« Sie zeigte uns die beiden Kuhlen neben dem Portal. Im Schatten dieser Bäume fuhren einst die Kutschen auf einer gepflasterten Rampe vor. »Sie haben sie aber gefällt, weil sie Brennholz brauchten.« Das »sie«, womit die Hausbesetzer gemeint waren, sprach sie voller Verachtung aus. Im Garten, so erzählte sie, hatte es seltene Bäume gegeben, viel Rasen, Werkstätten, ein Kutschenhaus und auch ein großes Loch im Boden, das mit Granit ausgelegt war – der Eiskeller.

»Ich nehme an, Sie wollen es abreißen und die Steine anderweitig nutzen?« Ihr verschmitzter Blick verriet mir, daß es dies war, was sie eigentlich wissen wollte. »Wenn Sie das vorhaben sollten ... wir haben nichts dagegen.«

»Ich hatte eher vor, es wiederaufzubauen.«

Sie schien überrascht. »Das ist auch gut. Wenn Sie uns eine Ersatzwohnung geben, aber eine schöne gefälligst, in einem Hochhaus und nicht in irgendeiner Bruchbude, dann sind wir hier im Nu ausgezogen.« Die Fronten waren klar. Schon bald sollte ich die Entdeckung machen, daß das polnische Gesetz eine Zwangsräumung so gut wie ausschloß.

Frau Erlich war im Grunde nur vernünftig. Ein nüchtern denkender Mensch würde sagen, daß Chobielin ein hoffnungsloser Fall war, den man lieber heute als morgen dem Erdboden gleichmachen sollte, bevor noch irgendein Unglück geschah. Gab es überhaupt etwas zu retten? Jeder Immobilienmakler hätte das Unternehmen lächerlich gefunden. Es wäre einfacher, zeitsparender und billiger gewesen, ein ähnliches Gebäude im Neubau zu errichten.

Doch für mich war die Instandsetzung von Chobielin viel mehr als eine Investition in eine Immobilie. Manchmal kamen mir Zweifel, und ich betrachtete es als eine fixe Idee – als meine eigene Art und Weise, gegen Windmühlen zu kämpfen. Doch dann hoffte ich, daß es mein persönlicher Beitrag zum Wiederaufbau Polens sein würde und ein letztes Gefecht gegen die Kommunisten. So wie ich sie früher mit einem Teleobjektiv, einem Computer und ein oder zwei Garben aus einem Maschinengewehr bekriegt hatte, würde ich ihrem Erbe von nun an mit Ziegelsteinen, Mörtel und Hochglanzlack zu Leibe rücken. Ich wollte wenigstens ein kleines Fleckchen polnischen Bodens von dem Schmutz säubern, den die Kommunisten im buchstäblichen und übertragenen Sinne hinterlassen hatten. Hatte ich mich früher nicht zwingen lassen, ihre glorreiche Zukunft mitaufzubauen, so wollte ich nun ein Stückchen polnischer Vergangenheit erhalten. Meine größte Befriedigung wäre, so sagte ich mir, wenn in einigen Jahren meine Gäste nach Chobielin kämen, sich umsähen und glauben würden, der Kommunismus hätte diesen einsamen Ort durch eine seltsame Fügung verschont.

* Aus: Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen, übersetzt von Walter Panitz, Berlin (O.), Aufbau Verlag, 1955.

Das polnische Haus

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