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II.

Die aktuelle Logik der Welt

1.

Wie werden wir regiert? Wie funktioniert die „Regierung der Lebenden“?1 Diese Frage stellte Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de France im Frühjahr 1980. Es ging dabei nicht um Fragen von Regierungsformen und Regierungstechniken im Sinne institutionalisierter politischer Herrschaft, sondern grundlegender um die Frage, wie das Verhalten von Individuen und Kollektiven in der entwickelten Moderne gesteuert wird.

Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt das antike Christentum bei Foucault einen entscheidenden, weil extrem folgenreichen und wirkmächtigen Platz ein. Denn das Christentum brachte, so Foucault, nicht nur eine völlig neue Konzeption von Moral in die Weltgeschichte, sondern auch eine völlig neue Form religiöser Organisation auf der Basis einer ganz eigenen Form der Machtausübung und der Steuerung des Einzelnen. Das Christentum, so Foucault, sei die „einzige Religion, die sich als Kirche organisiert hat. Als solche vertritt das Christentum prinzipiell, daß einige Individuen kraft ihrer religiösen Eigenart befähigt seien, anderen zu dienen, und zwar nicht als Prinzen, Richter, Propheten, Wahrsager, Wohltäter oder Erzieher usw., sondern als Pastoren. Dieses Wort bezeichnet jedenfalls eine ganz eigentümliche Form von Macht.“2 Foucault nennt sie denn auch „Pastoralmacht“3.

Die christliche Pastoralmacht hat einige Eigenschaften, die sie von den bis dahin bekannten Machtformen unterscheidet. Sie ist selbstlos im Unterschied zur souveränen Königsmacht, die andere für sich sterben lässt. Sie ist individualisierend im Kontrast zur juridischen Macht, die an Fällen, nicht am Einzelnen interessiert ist, und sie ist totalisierend im Unterschied zur antiken Machtausübung, die sich nur für spezifischen, nicht für umfassenden Gehorsam bis in Intimstes interessiert. Die neue christliche Pastoralmacht bezieht sich mithin auf alles im Leben und auf das gesamte Leben.

Ihr zentrales Bild ist tatsächlich der Hirte, der bereit sein muss, sein Leben einzusetzen für die Schafe, ein Hirte, der jedes einzelne Schaf im Auge haben muss und daher den Verirrten nachgeht und den alles an jedem seiner Schafe interessiert. Der Beichtstuhl ist daher für die Pastoralmacht mindestens so wichtig wie der Altar. Das Wissen des Hirten über jedes seiner Schafe lässt seine Macht groß, invasiv und folgenreich werden, potentiell wirksam in jedem Augenblick. Der Hirte behütet die Einzelnen nicht nur, er kann sie auch – und muss es kraft seines Amtes und Auftrages auch – mittels seines Wissens disziplinieren. Damit hat der Hirte für jedes einzelne Mitglied seiner Herde eine doppelt individualisierte Verantwortung.

Überwachen und Bewachen, Kontrolle und Schutz gehen in der Pastoralmacht eine ganz eigene und unlösbare Symbiose ein. Die Aspekte von Versorgung und Behütung einerseits sowie Disziplinierung und Bewachung andererseits finden zuerst im Bekenntnis bei der Taufe, schließlich in Struktur und Praxis der nach und nach eingeführten individuellen Beichte ihren zentralen Ort. Das Wahrsprechen des eigenen Lebens in Bekenntnis und Beichte ist eine Form des Austausches zwischen Hirt und Herde, die in besonderer Weise von den beiden Polen des Strafens und Belohnens geprägt ist und um einen Diskurs des Geständnisses und des Wissens kreist.

Im Geständnis des Pastorierten zur Wahrheit seines Lebens gegenüber der Gemeinde, später gegenüber dem Pastor, geht es um alles: um das richtige Leben hier und das ewige Heil dort. Es geht buchstäblich um Leben und Tod. „Wir müssen“, so Foucault, „unablässig belegen, was wir sind. Wir müssen uns selbst überwachen, in uns die Wahrheit hervorholen und denjenigen darbieten, die uns beobachten, die uns überwachen, die uns beurteilen und die uns führen, wir müssen den Hirten also die Wahrheit dessen, was wir sind, offenbaren.“4 Das ist die Voraussetzung der Abtötung („Mortifikation“) des alten Ichs, des Ringens mit dem „Anderen in sich“. „Uns mortifizieren und mit dem Anderen ringen“: Mit der „Einführung dieser beiden Komponenten“ durch das Christentum, „die der antiken Kultur völlig fremd“ gewesen seien, bewege sich „das Problem der Subjektivität, das Thema der Subjektivität und [der Verbindung] Subjektivität – Wahrheit [von] der antiken Kultur vollständig weg“5.

Die Pastoralmacht muss möglichst viel, eigentlich alles vom Leben der Pastorierten wissen, der Pastorierte daher tendenziell alles von seinem Leben selbst erkunden, ausleuchten, diskursivieren und gestehen. „Das Christentum gewährleistet das Heil eines jeden, indem es bestätigt, dass er tatsächlich ganz anders geworden ist. Die Beziehung Regierung der Menschen/Manifestation der Wahrheit ist vollkommen neu organisiert. (…) Tatsächlich regiert das Christentum, indem es die Frage der Wahrheit in Bezug auf das Anderswerden eines jeden stellt.“6

Für Foucault schlägt in dieser Selbstthematisierung, im Geständnis der Wahrheit über sich, die Geburtsstunde des modernen Subjekts. Zweierlei macht es aus: die Dopplung von Unterwerfung (sujet) und Selbstbewusstwerdung des Eigenen als starke „Subjektivität“ sowie der dauernde Zwang zu Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung zum Zwecke der Austreibung des „Anderen in sich“, also zur – im Christentum: moralischen – Selbstoptimierung. Die neue Machtform des Pastorats koppelt Wissen, Macht und Subjektivität in einer ganz spezifischen Weise. Das ist es, was Foucault an ihr interessiert, denn diese Kopplung hat nicht nur einen christlichen Ursprung und ihre spezifische Geschichte im Christentum, sondern eine Folgewirksamkeit weit über das verfasste Christentum hinaus.

Denn die Pastoralmacht, vom Christentum und seiner „Kirche“ (besser: seinen „Kirchen“) entwickelt und eingesetzt, wandert, so Foucault, in der Neuzeit nach und nach aus dem Christentum aus, diffundiert in vielfältige andere Institutionen, vor allem zum nun entstehenden modernen Staat. Er lernt vom Christentum, wie man Menschen regiert. Foucault analysiert diese Prozesse in seinem Spätwerk unter dem von ihm geprägten Begriff der Gouvernementalität.

Foucault versteht darunter „dreierlei“: zum einen „die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat“7. Dann fällt darunter die „Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ‚Regierung‘ bezeichnen kann, gegenüber allen anderen – Souveränität, Disziplin – geführt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat“8. Drittens aber versteht Foucault „unter Gouvernementalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs …, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt für Schritt ‚gouvernementalisiert‘ hat“9.

Der Staat übernimmt nach und nach Überwachen und Bewachen, Sorge und Kontrolle: Die vom Christentum entwickelten Regierungstechniken „säkularisieren“ sich. Die neuzeitliche Gouvernementalität hat mithin, so Foucault, ein „archaische(s) Vorbild“: das „christliche( ) Pastorat( )“.10 Dieses christliche Pastorat verbindet sich im modernen Staat mit anderen, vom Staat selbst entwickelten Regierungstechniken: „Das Pastorat, die neue diplomatisch-militärische Technik und schließlich die Policey sind meines Erachtens die drei großen Elemente gewesen, von denen ausgehend dieses fundamentale Phänomen in der Geschichte des Abendlandes zustande kommen konnte, das die Gouvernementalisierung des Staates gewesen ist.“11 Der Staat selbst ist denn auch „nichts anderes als der bewegliche Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“12, so Foucault. Klaus Lemke hält fest: „Foucaults Regierungsanalyse liegt die historische Annahme zugrunde, daß die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen hervorbrachten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauten.“13

Freilich bleibt ein Unterschied. Die „Regierung von Menschen“ fordert im Unterschied zur christlichen „Regierung der Seelen“ eine eigene, neue Reflexion auf ihre Voraussetzungen, Gegenstände und Ziele. Das ist die Geburtsstunde der „politischen Vernunft“ als eines Begründung- und Orientierungskonzepts jenseits theologischer Prinzipien oder auch individueller Interessen eines Fürsten. Die Säkularisierung der Pastoralmacht betrifft also nicht nur ihre Trägerinstitution, sondern auch ihre Ziele und die Diskurse ihrer Legitimation und Konzeption. Die zentralen Begriffe kirchlicher Pastoralmacht – etwa Heil, Glück, Erlösung – werden dabei nicht ausgetauscht, vielmehr grundlegend neu interpretiert.

Das Ergebnis ist eine Machtformation, die eine in der Geschichte der menschlichen Gesellschaften bislang unerreichte und ungemein erfolgreiche Kombination von Individualisierungstechniken und Totalisierungsverfahren realisiert, und das innerhalb ein und derselben politischen Struktur. Der moderne abendländische Staat integriert die alte christliche Machttechnik der Pastoralmacht in eine neue, effektive politische Form. Die aktuellen, staatlichen wie kommerziellen Überwachungskonglomerate, so wird man Foucault weiterführen können, treiben diese Doppelbewegung von Individualisierung und Totalisierung auf eine neue Spitze.14 Was ist der Beichtstuhl gegen die NSA oder Facebook und Google? „In gewisser Hinsicht kann man den modernen Staat als eine Individualisierungs-Matrix oder eine neue Form der Pastoralmacht ansehen.“15

Die Dopplung von unterworfenem sujet und selbstbewusstem Subjekt verschiebt sich unter der Dominanz der aktuell herrschenden (neo-)liberalen Konzepte immer mehr in Richtung des Pathos eines „freien“ Subjekts. „Wir glauben heute, dass wir kein unterworfenes Subjekt, sondern ein freies, sich immer neu entwerfendes, neu erfindendes Projekt sind“, so Byung-Chul Hans an Foucault anknüpfende Analyse. Sie beschreibt, was neuerdings passiert. „Dieser Übergang vom Subjekt zum Projekt wird vom Gefühl der Freiheit begleitet. Nun erweist sich dieses Projekt selbst als eine Zwangsfigur, sogar als effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung.“16

Denn der aktuell dominierende (Neo-)Liberalismus verwischt die Differenz von Hirten und Schaf, das nun zum „Hirten seiner selbst“ wird oder mindestens werden soll. Das Subjekt wird immer stärker sich selbst gegenüber rechenschaftspflichtig, wird verantwortlich dafür gemacht, seine selbst gesteckten Ziele und darin Zufriedenheit zu erreichen. Inwieweit das Subjekt dennoch weiterhin auch Objekt des Regierens bleibt, obwohl oder gerade weil und indem es sich selbst zum Gegenstand und Mittel der Regierungspraktiken macht, wird noch zu betrachten sein.

2.

Wie werden wir regiert? Einerseits sind da die fürsorgliche Pastoralmacht des Staates, sein Recht und seine Überwachungskapazitäten, seine Fürsorge und seine Sanktionsmacht, andererseits aber wirkt da in und hinter all dem die subtile Steuerungstechnik des Kapitalismus. Der aber steuert nicht primär über Gehorsam, auch nicht zuerst über das Pastoralmachtdoppel von Bewachen und Überwachen, sondern über die Steuerung von Sehnsüchten.

Bislang wurde der Kapitalismusbegriff in diesen Überlegungen mit Nancy als „ökonomische Verwaltung der Welt“ definiert und eingeführt. Als ökonomisches System basiert der Kapitalismus auf drei, eigentlich recht einfachen Prinzipien: „Erstens beruht der Kapitalismus auf individuellen Eigentumsrechten und dezentralen Entscheidungen“, die zu „Resultaten“ führen, „sowohl Gewinnen als auch Verlusten, die Individuen zugeschrieben werden“17. „Zweitens findet im Kapitalismus die Koordinierung der verschiedenen wirtschaftlichen Akteure vor allem über Märkte und Preise, durch Wettbewerb und Zusammenarbeit, über Nachfrage und Angebot, durch Verkauf und Kauf von Waren statt. Das ‚zur Ware werden‘, die Kommodifizierung von Ressourcen, Produkten, Funktionen und Chancen ist zentral.“18 Drittens aber „ist Kapital grundlegend für diese Art des Wirtschaftens. Das impliziert Investition und Reinvestition von Ersparnissen und Erträgen in der Gegenwart im Streben nach Vorteilen in der Zukunft.“19 Den Kapitalismus zeichnet, so Jürgen Kocka in seiner Geschichte des Kapitalismus, individuelles Gewinnstreben, Marktkoordination und Zukunftsorientierung aus.

Das bricht mit einigen bis dorthin ziemlich ungeteilt geltenden Logiken. Der Kapitalismus wechselt von der altruistischen Ansprache an die Menschen zum Appell an seinen Egoismus, er ersetzt die konkrete Benennung und Markierung von Herrschaft (Gott/Obrigkeit/Vater) durch eine anonyme (der „Markt“ und die Wirkungen seiner „unsichtbaren Hand“), und er tauscht die klassische legitimatorische Ursprungsorientierung traditionaler Gesellschaften mit einer gegenwartsbasierten Zukunftsorientierung aus: Man muss sich heute anstrengen, damit es einem morgen besser geht – und dieses Morgen kann schnell kommen. Der Kapitalismus befreit damit vom moralischen Zwang zum Altruismus, von herkömmlichen Herrschaftsträgern und von Traditionsorientierung. Er entwickelt darin eine ungeheure Faszination und eine beispiellose Dynamik.

Lange wollte man gerade diesseits des Marxismus glauben, dass dieser fundamentale Bruch mit bisherigen gesellschaftlichen Prinzipien nicht auf das Selbst des Individuums zurückschlägt, sondern durch spezifische Techniken von ihm ferngehalten werden könne. Die Fiktion konnte aufrechterhalten werden, weil die alten Mächte, die religiösen vor allem, aber auch die alten Ethiken im Kontext des Kapitalismus nicht verschwanden, sondern in spezifischen Diskursen und vielfältigen, etwa kirchlichen, pädagogischen und auch militärischen Dispositiven überlebten, ja, wie etwa die katholische Kirche während der Pianischen Epoche, in reaktiver Verhärtung zumindest intern ganz besonders wirkmächtig wurden.

Nimmt man nun aber in strukturalistischer Tradition an, dass das Subjekt nicht das letztlich unberührte und unschuldige Gegenüber der Macht sei, sondern selbst ein Produkt von Machtprozessen, ja, dass das Konzept „Subjekt“ selbst erst in den modernen (Human-)Wissenschaften entsteht und sich zeitgleich mit dem modernen Kapitalismus durchsetzt, dann stellt sich die Lage gänzlich anders dar. Das Subjekt jedenfalls, so Foucault, ist nicht das ganz Andere zur Macht, ist nicht der Ort der reinen Authentizität und Identität, sondern eben etwas, das in spezifischen Machtstrukturen auftaucht und überhaupt erst wird.

Für Foucault sind die Idee eines autonomen Subjekts oder das Ideal einer Gemeinschaft von autonomen Subjekten illusionär. Die Konstituierung von Subjektivität ist Produkt eines schöpferischen Aktes, der je nach Machtkonstellationen aus jeweils anderen Quellen schöpft. Foucault spricht von einer „Serie unterschiedlicher Subjektivitäten“20, die wir sind, die wir jeweils in unseren Machtrelationen aktuell realisieren und deren Summe uns ausmacht. „Diese Serie von Subjektivitäten wird niemals an ein Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ‚der Mensch‘ wäre.“21

In Foucaults Tradition bestimmt Ulrich Bröckling „Subjektivierung als einen Formungsprozess, bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“22. Zwar gilt: „Die Genealogie der Subjektivierung lässt die Unterscheidung von Innen und Außen nicht fallen“. Aber „statt Höhlenforschung oder Innenarchitektur der Seele zu betreiben, fragt sie danach, welche Wissensdispositive und Verfahren Menschen veranlassen konnten und können, ihr Selbstverständnis in dieser Weise topografisch zu bestimmen. Sie untersucht, wie ein Innen sich konstituiert, ohne es immer schon vorauszusetzen.“ Denn das „Innere ist nichts anderes als ein auf sich selbst zurückgewendetes Äußeres – und umgekehrt“23. Das Subjekt ist in dieser Perspektive eine „Entität, die sich performativ erzeugt, deren Performanzen jedoch eingebunden sind in Ordnungen des Wissens, in Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“24. Das Subjekt gibt es „im Gerundivum – nicht vorfindbar, sondern hervorzubringend“25.

Die konkreten „Ordnungen des Wissens“, die realen „Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse“ sind nun aber in unseren Breiten und Gegenden derart vom Kapitalismus geprägt, dass das Selbst, so Bröckling, als „unternehmerisches Selbst“ beschreiben werden kann und muss. Das unternehmerische Selbst steht dabei „für ein Bündel aus Deutungsschemata, mit denen heute Menschen sich selbst und ihre Existenzweisen verstehen“. Es besteht „aus normativen Anforderungen und Rollenangeboten, an denen sie ihr Tun und Lassen orientieren, sowie aus institutionellen Arrangements, Sozial- und Selbsttechnologien, die und mit denen sie ihr Verhalten regulieren sollen“26.

Das unternehmerische Selbst ist ein Subjektivierungsprogramm, dessen „Anrufungen“, so Bröckling, nichts weniger als „totalitär“ sind. „Nichts soll dem Gebot der permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes entgehen. Keine Lebensäußerung, deren Nutzen nicht maximiert, keine Entscheidung, die nicht optimiert, kein Begehren, das nicht kommodifiziert werden könnte.“ Bröckling weist dabei auf ein Spezifikum des Kapitalismus hin, das einen der Garanten seines Erfolgs darstellt: „Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen.“27

Spezifische Schlüsselkonzepte sind notwendig, um das Ziel der permanenten Selbstverbesserung zu erreichen. „Kreativität“ und „Innovation“ gehören dazu, „das Erkennen und Ergreifen von Gewinnchancen und die schöpferische Zerstörung, die Platz macht für Neues“28. Hinzu kommen „Empowerment“ als Vertrauen in die eigene Kraft und eine Qualitätsorientierung, die als „Kundenorientierung“ agiert, denn das „unternehmerische Selbst“ muss „sein Humankapital so … vermarkten, dass es Abnehmer für die feilgebotenen Fähigkeiten und Produkte findet. (…) Qualität steht für Kundenorientierung“29.

Das aber bedeutet: Das Leben wird zum Projekt, genauer: zu einer unabgeschlossenen und unabschließbaren Folge von Projekten. Diese höchst tiefgreifende und folgenreiche „Sequenzialisierung der Arbeit (und letztlich des gesamten Lebens) in zeitlich befristete Vorhaben“, diese fundamentale Projektorientierung verlangt „dem unternehmerischen Selbst ein Höchstmaß an Flexibilität“ ab, inklusive eines spezifischen „Modus der Kooperation“ in „Projektteams“30. Das reicht weit und schreibt sich tief ein.

In Projekten zu denken beendet traditionelles, rollengesteuertes Handeln, gibt dem Handeln einen befristeten Zeithorizont und stellt es unter den Anspruch der (eigenen) Planung und Gestaltung. Die klassischen Projekt-Phasen „Projektdefinition“, „Projektplanung“, „Projektdurchführung“ und „Projektabschluss“ sind nichts anderes als die konzeptionelle Operationalisierung der typisch modernen Annahme, dass die Zukunft das Ergebnis des eigenen Handelns sein wird. Andererseits markieren Projekte aber auch die ausgesprochen anstrengende Verpflichtung, die Zukunft zum Problem zu machen, in ihr ein Ziel zu definieren und das eigene Handeln an den Schritten der Zielerreichung auszurichten.

Das Denken in Projekten setzt voraus, das eigene Wollen als entscheidend für Zukünftiges zu bestimmen. Genau das hatte etwa vormodernes religiöses Denken nicht getan. Denn das Zukünftige wurde in ihm bestenfalls als die modifizierte Fortsetzung des immer schon Gültigen und auch ewig Bleibenden gedacht, war Verlängerung einer ursprungslegitimierten Vergangenheit, nicht Gegenstand zukunftsorientierten strategischen Handelns des Menschen. Die Zukunft stand unter der Herrschaft der Vergangenheit und ihres Ursprungs in Gott, zu dem sie zurückkehren würde. Die klassische Moderne kehrte dies um: Sie stellte die Gegenwart unter die Herrschaft der Zukunft, einer utopischen, besseren Zukunft. Sie wurde modellierbar und gestaltbar, wurde zur Aufgabe, zum Entwurf – zum Projekt. Alles wird zum Projekt: Es ist die Form, „die Wirklichkeit zu organisieren – ein Rationalitätsschema, ein Bündel von Technologien, schließlich ein Modus des Verhältnisses zu sich selbst“31. Das aber bedeutet: „Die Form ‚Projekt‘ ist ein historisches Apriori unseres Selbstverständnisses, eine Folie, auf die wir uns – im Guten wie im Schlechten – selbst begreifen und modellieren.“32

Doch um die diversen Projekte des privaten (Partnerschaft, Kind, Urlaub) wie des beruflichen Lebens zu meistern, um also das Leben als Projekt zu gestalten, braucht es spezifische Schlüsselqualifikationen, zuallererst Kreativität und Empowerment. Während Genialität im romantischen Ideal noch wenigen vorbehalten war, ist Kreativität eine „Jedermannsressource“33: „Das Attribut ‚kreativ‘ adelt noch die banalsten Tätigkeiten.“34 Vor allem aber: Kreativität ist marktbezogen. „Kreativ ist das Neue, das sich durchsetzt.“35 Empowerment wiederum ist „gleichermaßen Ziel, Mittel, Prozess und Ergebnis persönlicher wie sozialer Veränderungen“36. Ziel ist es, durch Handeln die Selbstbestimmung und Mündigkeit der Adressaten sowie des Handelnden zu vergrößern. „Es gibt in dieser Perspektive keine Schwächen, sondern nur in die Latenz abgedrängte Stärken.“37 Das „positive Denken“ diverser Coaches vermarktet solches Empowerment zu Höchstpreisen.

Und es gibt immer etwas zu verbessern. Es geht darum, in einem „panoptische(n) System wechselseitiger Beobachtung und Beurteilung“ eine „Dynamik permanenter Selbstoptimierung in Gang“38 zu setzen. Qualität kann stets verbessert werden: die Geburtsstunde des „Total Quality Management“ und des „360°-Feedback“. Bereits getroffene Entscheidungen müssen konsequent überdacht und wenn nötig revidiert werden. Das „unternehmerische Selbst“ hält, wie jeder Unternehmer, stets Ausschau nach neuen Möglichkeiten, eine zentrale Eigenschaft des Unternehmers ist die Findigkeit. Da jede Handlung eine Auswahl zwischen mehr oder minder attraktiven Optionen darstellt, ist das Nutzen von Gewinnchancen aber natürlich immer spekulativ und mit Risiken verbunden, da sich solches Kalkül auf eine Zukunft bezieht, die zwar abgeschätzt, aber nicht restlos erkannt werden kann.

Das unternehmerische Selbst kann sich mithin nur sehr bedingt auf vorliegende Pläne stützen, es muss sich bewähren gerade in dem, was noch nicht erprobt ist. Wie jeder Unternehmer trägt es enorme Risiken. „Nur weil viele den Ausgang ungewisser Handlungen oder Ereignisse falsch einschätzen, können jene, die dabei eine glücklichere Hand haben, Gewinne realisieren.“39 Auch der Konsum muss dabei übrigens als unternehmerische Tätigkeit verstanden werden, als Einsatz der knappen Ressourcen Zeit und Geld mit dem Ziel optimaler Befriedigung. Der Mensch steht unter ständigem Entscheidungszwang. Genau das aber macht ihn regierbar: „Wenn der Einzelne seinen Nutzen zu maximieren sucht, kann man seine Handlungen steuern, indem man deren Kosten senkt oder steigert und so das Kalkül verändert.“40

Die dunkle Seite des unternehmerischen Selbst wird deutlich: „die Unabschließbarkeit der Optimierungszwänge, die unerbittliche Auslese des Wettbewerbs, die nicht zu bannende Angst vor dem Scheitern“41. Wenn dann gar „Marktmechanismen gegenstrebige Impulse entweder absorbieren oder marginalisieren und das unternehmerische Selbst“ schließlich gar „mit der Norm konfrontieren, nicht konformistisch zu sein“42, wird es nur scheinbar tragikomisch, es treibt die Optimierungsspirale nur eine Windung höher. Depressive Erschöpfung, Ironisierung und passive Resistenz stellen nach Bröckling gängige Reaktionen darauf dar.

Das unternehmerische Selbst kann die Ansprüche, gerade jene, die es an sich selbst stellt, nie einlösen, es lebt im ständigen Vergleich mit anderen und in der Gefahr, ausgesondert zu werden. „Das Gefühl der Unzulänglichkeit … ist chronisch, die einschlägigen Therapien versprechen nicht Heilung, sondern Krisenabfederung durch gute Wartung.“43 „Im pharmakologischen Befindlichkeitstuning“ schließlich „hält der Selbstoptimierungsimperativ noch jene in seinem Bann, die an ihm verzweifeln.“44 Wer ironisch auf die Situation reagiert, enttarnt ihre Absurdität, spitzt die Widersprüchlichkeiten zu „und zieht so ins Lächerliche, was er nicht ändern kann“45. Aber selbst der Müßiggang ist mittlerweile „marktgängig geworden“46: Auch für die Abkehr von Erfolg und Reichtum gibt es Ratgeber.

3.

Die Regierungstechnik des kulturell hegemonial gewordenen Kapitalismus appelliert nun aber nicht nur an das unternehmerische Kalkül im Selbst, so sehr es dem Individuum auch vorspiegelt, auf dieser Ebene souverän zu agieren, und seinen sujet-Status verschleiert. Die kapitalistische Regierungstechnik arbeitet noch auf einer verborgeneren und schwerer zu erhellenden Ebene: jener der Gefühle und Sehnsüchte der Regierten. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint also nicht nur, dass sich die Logik und die Mechanismen des Marktes in immer mehr gesellschaftliche Teilsysteme ausbreiten und deren Eigenlogiken unterwandern und überformen, was natürlich offenkundig der Fall ist und wofür die Universität mit ihrem akademischen Kapitalismus,47 die öffentliche Verwaltung mit dem new public management48 und der Spitzensport paradigmatisch stehen.

Es geht vielmehr auch darum, „wie die Marktperspektive unsere Gefühlswelt beeinflusst“49. Die amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hatte bereits 1983 mit The Managed Heart. Commercialization of Human Feeling als eine der ersten eine empirisch basierte Studie dazu vorgelegt. Ihr Fazit: „Wir übertragen die Regeln und Muster unserer Gefühlsarbeit aus dem Leben auf dem Markt auf unsere nicht-marktförmigen Lebensbereiche. Wir leben unser nicht-marktförmiges Leben so, als ob wir einkaufen, Waren erwerben oder wegwerfen.“50

Russell Hochschild unterschied dabei noch „gespielte Gefühle“ von „realen Gefühlen“, das „wahre Selbst“ vom „falschen Selbst“51. Sighard Neckel weist in seiner Einleitung zur deutschen Neuauflage ebenso vornehm wie zu Recht darauf hin, dass diese Unterscheidung einige „kompliziertere Probleme“ aufwerfe. Denn auch „authentische Emotionen“ seien „soziale Konstrukte“, die von „gesellschaftlich erlernten Bewertungsmustern und Ausdrucksregeln schon mitgeprägt worden sind.“ Emotionen werden, so Neckel, „daher von feeling rules nicht erst nachträglich überformt“, sondern diese feeling rules „gehen bereits in die Konstitution unserer Gefühlswelt ein“52. Der „emotionale Kapitalismus unserer Zeit“, so Neckel, „steht ganz im Zeichen einer Optimierung der Gefühle zugunsten persönlicher Durchsetzungskraft und des Erfolgs im Marktwettbewerb. Aus der emotionalen Selbstfindung, die einst die postmaterialistische Phase der kulturellen Liberalisierung propagierte, wurde das emotionale Selbstmanagement, dem nichts wichtiger ist, als mentale Ressourcen für die Erlangung sozialer Vorteile zu nutzen.“53

Eva Illouz hat in ihren Studien zum „emotionalen Kapitalismus“54 diese Forschungslinie aufgegriffen und weitergetrieben. „Der emotionale Kapitalismus“, so dann Illouz, „ist eine Kultur, in der sich emotionale und ökonomische Diskurse und Praktiken gegenseitig formen.“55 Diese gleichstufige Wechselseitigkeit zu betonen ist wichtig. Denn sie bringt jene „breite Bewegung (hervor), die Affekte einerseits zu einem wesentlichen Bestandteil ökonomischen Verhaltens macht, andererseits aber auch das emotionale Leben … der Logik ökonomischer Beziehungen und Austauschprozesse unterwirft“56. Liebe in Zeiten des Kapitalismus ist eben Liebe in Zeiten des Kapitalismus – und nicht einfach Liebe.

Was für die Liebe, dieses scheinbar Innerste des spätmodernen Menschen, in Zeiten des Kapitalismus gilt, das gilt nun aber auch für die Religion und den Glauben in Zeiten des Kapitalismus: Sie werden von jenem geprägt, zutiefst und zuinnerst. Denn die Priorität, die Macht, die Dominanz liegen beim Kapitalismus. „Der heutige Hyperkapitalismus löst die menschliche Existenz gänzlich in ein Netz kommerzieller Beziehungen auf. Es gibt keinen Lebensbereich mehr, der sich der kommerziellen Verwertung entzöge. Der Hyperkapitalismus macht alle menschlichen Beziehungen zu kommerziellen Beziehungen.“57

Der kulturell hegemoniale Kapitalismus ist souverän, nicht zuerst, weil er sich, wie der Staat, des äußeren Machtapparates bemächtigt, sondern weil er sich der Menschen auf einer viel wirksameren Ebene bemächtigt, jener, die sie zu dem macht, was sie sind: Er bemächtigt sich ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, ihrer Ängste und Nöte. Er formt bereits Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute und dann befriedigt er sie, er gibt all dem Sprachen, Bilder und – Erfüllung: und das konkret und fassbar.

Der kulturell hegemoniale Kapitalismus arbeitet im Übrigen exakt dort, wohin sich auch die Kirchen gerettet hatten, als der moderne Staat ihnen als Souverän die äußere Macht nach und nach nahm: auf jener Sehnsuchts- und Gefühlsebene, die man christlich Frömmigkeit nennt. Der Protestantismus schrieb sie tief in die Person und ihr Gewissen ein, der Katholizismus in seine nachreformatorisch medial immer subtiler aufgerüsteten Räume und Sozialformen, über die er dann deren Bewohner und Bewohnerinnen regierte.

Der Kapitalismus freilich ist so klug, sich weder ans protestantische Gewissen noch an kirchenanaloge Sozialformen zu heften, so sehr er bekanntlich mit den Formen, Diskursen, Techniken und Medien der Religionen spielt und diese nutzt. Aber festlegen lässt er sich nicht, dazu ist er zu anti-essentialistisch. Die Strategien der Wunschproduktion, Sehnsuchtserfüllung und Kontingenzbewältigung des kulturell hegemonialen Kapitalismus sind effizienter, flexibler, anschaulicher, adressatenorientierter, liquider als jene der Kirchen. Sie sind auch nicht traditionsbehindert.

Der Kapitalismus ist, wie sein zentrales Medium, das Geld, die anti-essentialistische Formation überhaupt. Schon Georg Simmel hatte in seiner Philosophie des Geldes 1900 zur Rolle des Geldes im Kapitalismus festgehalten: „Indem sein Wert als Mittel steigt, steigt sein Wert als Mittel, und zwar so hoch, daß es als Wert schlechthin gilt und das Zweckbewußtsein an ihm definitiv haltmacht. Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zu einem Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“58 Für Simmel folgen aus diesem anti-essentialistischen Radikalrelativismus Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung.

Auf der Basis dieser Überlegungen kann der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus präzisiert werden. Der Begriff kulturelle Hegemonie wurde bekanntlich von Antonio Gramsci geprägt. Bei ihm besitzt dieser Begriff in marxistischer Tradition eine stark normative, anti-kapitalistische Stoßrichtung. Er bezeichnet bei Gramsci jenen vorherrschenden gesellschaftlichen Konsens, den die kapitalistische Klasse über diverse zivilgesellschaftliche Institutionen wie das Bildungssystem, die Künste, die Kirchen, die Medien, auch das Erziehungssystem herstellt, um seine Herrschaft als legitime, ja als einzig wirklich mögliche zu plausibilisieren. Ernest Laclau und Chantal Mouffe kritisieren daran zu Recht spezifische „essentialistische Elemente“59, so das Festhalten am Klassenbegriff als Identifikation der hegemonialen (und anti-hegemonialen) Akteure und auch die damit unmittelbar verbundene Annahme, dass „jede Gesellschaftsformation sich um ein einfaches hegemoniales Zentrum herum strukturiert“60. Ihre poststrukturalistische Überarbeitung und Radikalisierung von Gramscis Hegemonietheorie lösen diesen Essentialismus auf und bestehen darauf, dass „das Soziale … ein unendlicher Raum ist, der auf kein ihm zugrundeliegendes einheitliches Prinzip reduziert werden kann“61. Laclau/Mouffe bestehen zudem darauf, dass eine „hegemoniale Formation … auch das (umfasst), was sich ihr entgegensetzt, insofern die entgegengesetzte Kraft das System der grundlegenden Artikulation dieser Formation als das von ihr Negierte akzeptiert, der Ort der Negation jedoch durch die inneren Parameter der Formation selbst definiert ist“62.

Auf der Basis dieses anti-essentialistischen Hegemonie-Begriffs soll der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus über das bisher Gesagte hinaus entwickelt werden. Er meint nicht die kulturellen Strategien, mit denen der Kapitalismus seine Alternativlosigkeit in der Zivilgesellschaft platziert, er meint auch nicht, dass nur eine, nämlich die kapitalistische Lebens- und Denkweise existiert, und schon gar nicht, dass diese im Klassenkampf überwunden werden kann, insofern Klassen die exklusiven Träger kultureller Hegemonialität und ihrer Überwindung wären.

Der Begriff des kulturell hegemonialen Kapitalismus meint vielmehr jenen gesellschaftlichen Zustand, in dem kapitalistische Prinzipien wie die Simmelsche Entgrenzung, Quantifizierung, Entsubstantialisierung und Rationalisierung, anders gesagt: Wettbewerb, Verdinglichung,63 Kommodifizierung, Monetarisierung, extrinsische Motivationsanreize, dichte Rückkopplungsnetze und, damit verbunden, jenes berühmte Verdampfen „alles Ständische(n) und Stehende(n)“64, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, wo all diese ungeheuer erfolgreichen Dynamisierungsprozesse, die ja auch Befreiungsprozesse aus den ständischen Schalen des Geschlechts, der Nation, der Religion, der Geburtsfamilie sind, wo all diese große Versprechen des Formalen und Effektiven und Dynamischen, die der Kapitalismus gibt, sozial so dominant geworden sind, dass sie sich tief ins Selbst einschreiben, dass sie dieses Selbst wenn nicht umfassend determinieren, so doch dominieren und seine grundlegende Ordnung bestimmen. Kulturell hegemonialer Kapitalismus meint nicht, zumindest nicht zuerst und nicht nur, wie bei Gramsci, die Hegemonie der kapitalistischen Klasse und ihrer Interessen in den Feldern der Kultur, sondern die Konsequenzen dieser Art von Hegemonie für die Subjektbildungsprozesse des Einzelnen.

Der kulturell hegemoniale Kapitalismus schreibt damit die aktuelle Logik der Welt, denn Innerstes und Äußeres korrespondieren in ihm. Es gibt anderes, der Hegemon ist nicht imperial, und weder das Soziale noch das Selbst sind geschlossene Systeme. Aber der kulturell hegemoniale Kapitalismus setzt die geltende Ordnung im Sozialen und, jenem korrespondierend, jene des Selbst. Denn ein unkorrumpierbares, dekontextualisiertes Selbst ganz im eigenen Inneren ist eine idealistische Fiktion.

4.

Wie wir regiert werden, hat Folgen auch im Außen der Gesellschaft. Hartmut Rosas Buch zu den Zeitstrukturen in der Moderne65 lässt da keine Illusionen und endet mit einer ziemlich desaströsen Alternative: Angesichts der „totalen Mobilmachung“66 der modernen kapitalistischen Zivilisation drohe die Alternative von „finale(r) Katastrophe“ oder „radikale(r) Revolution“67. Diese fatale Alternative ist die Konsequenz einer kulturellen und gesellschaftlichen Diagnose, die „soziale Beschleunigung“ als zentrales, letztlich einziges68 Differenzkriterium moderner Gesellschaften ansetzt und schließlich zu einer apokalyptischen Prognose wird: Wir alle rasen dem eigenen Untergang entgegen.69

Moderne „und nichtmoderne Gesellschaften“ lassen sich nach Rosa „ganz unabhängig von ihrer historischen Einordnung systematisch und trennscharf unterscheiden“, insofern in modernen Gesellschaften nur noch „dynamische“ und eben nicht mehr „adaptive“ Stabilisierung70 möglich sei: Sie „gewinnen Stabilität gleichsam in und durch Bewegung“. Insofern „diese Bewegung“ aber mit der „Trias Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung“ dann „genauer als eine Steigerungsbewegung bestimmt werden“71 könne, ist die „wahrscheinlichste( ) Möglichkeit“ unter den Zukunftsszenarien moderner Gesellschaften das „ungebremste( ) Weiterlaufen in einen Abgrund, der logisch durch das endgültige Zusammenfallen der Antinomien von Bewegung und Beharrung und durch die Realisierung … des rasenden Stillstandes als Kehrseite der totalen Mobilmachung, empirisch aber vermutlich lange vorher entweder durch den Kollaps der Ökosysteme oder durch den endgültigen Zusammenbruch der modernen Sozial- und Werteordnung unter dem Druck der wachsenden Beschleunigungspathologien und der Macht ihrer dadurch begünstigten Feinde bezeichnet wird“72.

Rosa beschreibt das sehr konkret. Den „Verlust der Fähigkeit, Bewegung und Beharrung zu balancieren“, so Rosa, „wird die moderne Gesellschaft schließlich mit der Erzeugung nuklearer und klimatischer Katastrophen, mit sich rasend schnell ausbreitenden neuen Krankheiten oder neuen Formen des politischen Zusammenbruchs und der Eruption unkontrollierter Gewalt bezahlen, die insbesondere dort zu erwarten stehen, wo die von den Beschleunigungs- und Wachstumsprozessen ausgeschlossenen Massen sich gegen die Beschleunigungsgesellschaft zur Wehr setzen“73.

Das ist plausibel und ja auch schon zu beobachten. Wir leben in Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus, der seine Energien im Kampf gegen die Globalisierung, offenkundig auch ein Codewort für „Beschleunigung“, gewinnt, und der verspricht, die Vorteile der kapitalistischen Dynamisierung genießen zu können, ohne deren kulturellen Verunsicherungsund politischen wie finanziellen Gerechtigkeitskosten bezahlen zu müssen. Es stellen sich denn auch tatsächlich („linke“ wie „rechte“) Massen und nicht die konservativen Eliten gegen die Beschleunigungsgesellschaft und ihre diversen Zumutungen. Die Ahnung, dass der kapitalistische gesellschaftliche Entwicklungsprozess in seiner spätmodernen Phase sich letztlich doch als unsteuerbar erweist, diffundiert gegenwärtig rasant in die letzten Winkel spätmoderner Gesellschaften. Man spürt jetzt auch außerhalb der Eliten, dass die in Gang gesetzten technologischen und kulturellen Entwicklungen komplex interagieren und unsere kognitiven Einsichts- und politischen Steuerungsfähigkeiten immer öfter übersteigen. Systemtheoretisch gewendet: „Die Beschreibung von Komplexität entzieht sich den Beschreibungsroutinen, die wir üblicherweise haben.“74

Bevor aber alle zivilisatorische Entwicklung in der ökologischen und sozialen Katastrophe endet, durchleben, so Rosa, die Individuen im entwickelten Kapitalismus nicht nur eine Phase des „rasenden Stillstands“ (Virilio), in dem sich alles ständig ändert, aber gleichzeitig nichts wirklich verändert, sondern auch eine fundamentale „Entfremdung“. Rosa rehabilitiert diesen etwas aus der Mode gekommenen marxistischen Begriff. Denn für Rosa markiert er jenes Versprechen, das die Moderne gibt und doch nicht hält, das Versprechen, ihre dramatischen Reichweitensteigerungen menschlichen Weltzugriffs würden zu gelingendem, glücklichem Leben führen. Dem sei aber, so Rosa, ganz und gar nicht so. Die kapitalistische Steigerungsdynamik spätmoderner Gesellschaften führe vielmehr geradewegs in den Zustand der Entfremdung, führe zur „Schließung der Weltporen“75. „Entfremdung“ definiert dann jenen „Zustand, in dem die ‚Weltanverwandlung‘ misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint“76.

Denn „unter steigerungskapitalistischen Verhältnissen“77 nehme die moderne Strategie der „(Welt-)Reichweitenvergrößerung“78 notwendig „die Form der Kapitalakkumulation in einem umfassenden Sinne an: Subjekte zielen darauf, Welt erwerbbar zu machen (ökonomisches Kapital), sie zugleich wissbar, beherrschbar und nutzbar werden zu lassen (kulturelles Kapital) und dabei die eigene Weltreichweite durch Zugang zu den Kapitalien und Positionen anderer zu erweitern (Sozialkapital)“79. Das trifft sich mit Ulrich Bröcklings Analysen des „Formungsprozess(es)“ des Einzelnen in kapitalistischen Zeiten, „bei dem gesellschaftliche Zurichtung und Selbstmodellierung in eins gehen“80. Ist es bei Bröckling der Zwang zu ständiger Selbstoptimierung, der im Mittelpunkt steht, so sind es bei Rosa die „stummen“, resonanzlosen Weltbeziehungen, die diese Formation ausmachen. Es gilt eben: „Das Innere ist nichts anderes als ein auf sich selbst zurückgewendetes Äußeres – und umgekehrt.“81

Christentum im Kapitalismus

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