Читать книгу Christentum im Kapitalismus - Rainer Bucher - Страница 9
ОглавлениеI.
Abgrenzungen
1.
Der menschheitsgeschichtlich einzigartige Prozess der Entthronung der Religion als umfassender und alternativloser Normierungs- und Orientierungsgröße für den Einzelnen wie die Gesellschaft nahm seinen Anfang im frühneuzeitlichen Westeuropa. Er ist vielfach in seinem historischen Verlauf wie seiner systematischen Struktur analysiert worden, zumeist unter der Kategorie der „Säkularisierung“, zuletzt von Charles Taylor in seinem monumentalen Werk Ein säkulares Zeitalter.1
Es war denn auch der säkulare Staat, der lange Zeit jene Stelle einnahm, welche die Religion aufgeben musste: die Stelle des souveränen Herrschers, der sich vor niemandem rechtfertigen muss, vor dem sich aber alle zu rechtfertigen haben. Der Staat und seine wechselnden Legitimations- und Realisationskonzepte Absolutismus, Liberalismus und Kommunismus bis hin zum Faschismus waren daher das große Problem der Kirchen der Neuzeit. Denn der Staat beanspruchte seit seinem Entstehen Souveränität, reklamierte, eine eigene, unhinterfragbare Gewalt zu sein und der höchste Ort politischer Entscheidungen und Rechtssetzung.
Die Institutionen der Religion mussten sich seither in Beziehung setzen zu dieser staatlichen Souveränität, ein Prozess, der sie massiv umformatierte und ihnen enorme theoretische wie institutionelle Transformationsanstrengungen abverlangte und bisweilen immer noch abverlangt. Die staatlichen Souveränitätsansprüche hatten sich schließlich ausdrücklich gegen die Institutionen der Religion, ihre normativen Ansprüche und ihre reale Macht entwickelt. Jean Bodin hatte seine Souveränitätskonzeption angesichts der konfessionellen Bürgerkriege in Frankreich entworfen, auf der Basis der traumatischen Erfahrung also, dass die Spaltung der Christenheit enorme Gewaltpotentiale freisetzte, eine Erfahrung, die sich später im Dreißigjährigen Krieg noch einmal dramatisch bewahrheiten und verdichten sollte.
Die katholische Kirche konstituierte sich dabei nach und nach analog zum neuzeitlichen Staatsabsolutismus selbst als absolutistischer Staat. Das Theorem hierfür lieferte Robert Bellarmin mit der Souveränitätskategorie der „societas perfecta“. Das hatte den Vorteil der Gleichrangigkeit gegenüber den entstehenden neuzeitlichen Staaten, aber auch den Nachteil, immer im gewissen Sinne etwas Externes zu sein, solange man nicht selber in einem „katholischen Staat“ an der Macht war. Deshalb favorisierte man diese katholischen Staaten und sehnte sie herbei. Als Nachteil erwies sich schließlich auch, dass man sich mit der Übernahme des staatlichen Absolutismus in die eigene Kirchenstruktur massive Entwicklungshemmnisse einhandelte. Man hatte sich geradezu dogmatisch an diese spezifische Regierungsform gebunden und hatte daher deren Legitimationsdefizite und faktischen Nachteile in späteren, gänzlich neuen und anderen Konstellation zu ertragen beziehungsweise mehr oder weniger geschickt zu kompensieren. Das gilt bis heute.
Verschärfend kam hinzu, dass man im 19. Jahrhundert den epochalen Fehler begangen hatte, in Reaktion auf die historischen Relativierungen der Geschichtswissenschaften die eigene, in der frühen Neuzeit entworfene und recht eigentlich auch erst im 19. Jahrhundert wirklich durchgesetzte absolutistische Regierungsform ahistorisch zu essentialisieren, wovon man dann natürlich nur noch sehr mühsam und unter enormem legitimatorischen Aufwand wieder herunterkam. Das II. Vatikanische Konzil, das diesen Versuch darstellt, war denn auch das mit Abstand textproduktivste Konzil der Kirchengeschichte. Nachwehen des antimodernistischen „Dispositivs der Dauer“2, das Geschichtlichkeit – und andere analoge Relativierungen – nur als depotenzierenden Relativismus verstehen konnte, erschüttern die katholische Kirche bis heute.
Die andere große Konfessionskirche der Neuzeit, der Protestantismus, konstituierte sich nicht staatsanalog wie die katholische Kirche, sondern staatsaffin, begriff und entwickelte sich zur Kirche der neuen Staaten. Das hatte den Vorteil, dass man immer à jour war, also kein aggiornamento brauchte, aber auch den Nachteil, dass man in alle Turbulenzen der neuzeitlichen Staats- und Gesellschaftsgeschichte, inklusive deren totalitären Abgründe, verstrickt wurde und sich deshalb immer mal wieder entschuldigen muss. Der Protestantismus schleppt seit seinem Ursprung in den Reformationen des 16. Jahrhunderts die epochale Belastung mit sich, von externer politischer Protektion abhängig zu sein und seine Universalität landeskirchlich verloren zu haben. Die katholische Kirche nutzte dies denn auch sofort kontroverstheologisch aus, um ausgerechnet die nota ecclesiae „katholisch“ ganz gegen ihren ursprünglichen Sinn zu konfessionalisieren.
Das Problem des Souveränitätsanspruchs des neuzeitlichen Staates löste die eine Konfessionskirche, indem sie sich zum Staat erklärte und bis heute ja denn auch als Völkerrechtsubjekt agiert, die andere, indem sie sich, gerade in Deutschland, dem real existierenden Staat als dessen moralischer Über- oder Unterbau anbot. So problematisch diese beiden Lösungsmodelle auch waren: Sie haben lange funktioniert. Doch damit dürfte es vorbei sein. Offenkundig hat ein neuer Herrscher die Macht übernommen, die Spitzen von katholischer Kirche und deutschem Staat spüren es.
2.
Am 15. Mai 2014 eröffnete der damalige deutsche Bundespräsident und ehemalige protestantische Pastor Joachim Gauck in Wuppertal einen Zukunftskongress der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland). In seiner Rede forderte er von seiner Kirche, es sich nicht zu leicht zu machen in dieser Gesellschaft, vielmehr eine moralische und spirituelle Avantgarde zu sein, eine frische, eigensinnige, von „ihrer Aufgabe zutiefst überzeugte Gemeinschaft“, die „vernehmbar und verstehbar von Gott“3 spreche.
Gut zweieinhalb Jahre vorher hatte Papst Benedikt XVI. vor dem versammelten deutschen Katholizismus in Freiburg angemerkt, dass Macht die Kirche oft korrumpiere und die Vertreibung der Kirche von der Macht in den Säkularisierungsprozessen der Neuzeit auch ihr Gutes gehabt habe. Die Kirche zeige immer wieder die Tendenz, sich in dieser Welt einzurichten und sich den Maßstäben der Welt zu sehr anzugleichen.4
Die Ironie der Konstellationen ist nicht zu übersehen: Da fordert ein deutscher Papst, immerhin das letzte absolute Staatsoberhaupt Europas, ausgerechnet vom deutschen Minderheitenkatholizismus Machtverzicht, und ein evangelischer Pastor als Bundespräsident vom Protestantismus mehr Distanz zum Staat. Der Papst als Oberhaupt eines eigenen Staates und der Pastor als Oberhaupt des deutschen Staates sind noch Figurationen der alten konfessionellen Religion-Staat-Konstellation. Aber offenbar merken beide, dass es damit zu Ende geht.
Sie nennen gute theologische Gründe dafür und auch, warum das Auslaufen dieser Konstellation gar nicht so sehr zu bedauern ist. Nur eine „entweltlichte Kirche“, so Benedikt XVI., könne wirklich offen sein „für die Anliegen der Welt“ und in dieser Welt „die Herrschaft der Liebe Gottes“5 bezeugen. Es ginge in den Kirchen darum, so dann Gauck, uns mit „Maßstäben zu konfrontieren, die oft quer stehen zu dem, was wir uns selber so schön ausgedacht“6 hätten. Das aber sehen beide in der aktuellen Konstellation, die sie selbst doch noch so trefflich verkörpern, gefährdet.
Warum aber trauen sie den eigenen neuzeitlichen Konzepten ihrer Kirchen nicht mehr so recht: der stolzen katholischen staatsanalogen Institutionalität und dem eindrucksvollen Versuch des Protestantismus, zum eigentlichen, besseren Betriebssystem des modernen Staates zu werden? Bei Gauck scheint es die Ahnung zu sein, sich nicht mehr auf dem Festland unhinterfragbarer Sicherheiten, sondern auf dem offenen Meer einer liquid modernity7 zu befinden. Wir „spüren vielleicht noch mehr, als wir wissen“, so Gauck, „dass sich große Veränderungen vollziehen – und dass wir an diesen Veränderungen mitarbeiten müssen, wenn wir nicht nur blinde Passagiere auf einem ferngesteuerten Schiff sein wollen“8. Die Kirche, so dann der Papst in einem bemerkenswerten Stück Exposure-Theologie, müsse sich „immer neu den Sorgen der Welt öffnen, zu der sie ja selber gehört, sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen“9.
Da stellt sich dann freilich die Frage: Wer ist am Ruder dieses ferngesteuerten Schiffs der Gegenwartskultur? Von welchen großen Veränderungen, die eher zu spüren als zu wissen sind, redet man hier? Wem muss man sich „ausliefern“ oder ist man schon ausgeliefert? Wer ist der neue Souverän, der den modernen Staat ablöst und die Kirchen, wie damals zu Beginn der Neuzeit, zu neuen Positionierungen zwingt und in neue Formatierungen treibt? Weil er sie, wie damals die Staaten, sowieso umbaut und die Frage nicht ist, ob die Kirchen und Religionsgemeinschaften das wollen, sondern wie sie sich darin und wie sie sich dazu verhalten?
3.
Souverän ist, wer sich nicht rechtfertigen muss, vor dem sich aber alle zu rechtfertigen haben.10 Absolute Souveränität kommt daher nur Gott zu. Denn auch der absolutistischste Herrscher hat seine eigene Rezeption nicht gänzlich in der Hand. Zu seinen Lebzeiten kann er nur den äußeren Gehorsam kontrollieren, nicht aber die innere Gefolgschaft, und stets muss er daher seinen Sturz fürchten. Nach seinem Tod aber kommt seine Herrschaft bei den nachfolgenden Generationen unter von ihm nicht mehr kontrollierbare Rechtfertigungshorizonte. In spätmodernen Zeiten mit ihren vielfältigen gesellschaftlichen Machtvektoren und Machtdispositiven gibt es absolute Souveränität sowieso nicht, wohl aber relative Souveränität. Irgendjemand steht, wie prekär und also vorläufig auch immer, an der Spitze der Rechtfertigungspyramide. Wer ist es aktuell?
Souveräne Herrscher haben kein Interesse daran, besonders originell zu sein oder schwierig zu identifizieren. Sie müssen es auch nicht, sie wollen und müssen sich zeigen. Souveräne Herrschaft ist aufgespannt in der Polarität von alltäglicher Normalität einerseits, die sie bis an die Unsichtbarkeitsgrenze verschleiert, und ostentativer Sichtbarkeit andererseits, die sich demonstrativ inszeniert. Kommt souveräne Herrschaft unter Konkurrenzdruck, verschiebt sich das Gleichgewicht in der Regel in Richtung Sichtbarkeit. Die Kirchen, die katholische der Neuzeit ganz besonders, entwickelten – oder adaptierten – ausgefeilte Ikonographien, Orte, Strukturen der Sichtbarkeit ihrer Souveränität, das Papsttum in Rom etwa den Petersdom mit seiner Kuppelinschrift Mt 16,18 („Tu es Petrus …“) oder die Tiara, jene dreifache Papst-Krone als Symbol für den „Vater der Fürsten“, das „Haupt der Welt“ und den „Statthalter Jesu Christi“, oder, am anderen Ende der kirchlichen Pyramide, den innen dunklen, außen aber sehr sichtbar im Kirchenraum platzierten Beichtstuhl, der über das Seelenheil der Beichtenden entschied. Die modernen Staaten bedienten sich dann im entsprechenden Fundus der Religionen freizügig, die totalitären Staaten taten dies exzessiv – alle aber im Ganzen bis heute ausgesprochen erfolgreich.
Auf weltpolitischer Ebene ist unschwer zu beobachten, wer die Nationalstaaten unter Druck setzt: die Macht der globalen Märkte und ihrer transnationalen Akteure. Es tobt ein veritabler Kampf. Die Staaten schließen sich denn auch in unterschiedlichsten Formationen zusammen, um in diesem Kampf überhaupt eine Chance zu haben. Dass der nationalistische Rechtspopulismus glaubt, dem globalisierten Finanz-Kapitalismus in einer Retro-Utopie11 entkommen zu können, ist nur einer seiner vielen Irrtümer. Der moderne Staat hatte die institutionalisierten Religionen ihrer Souveränität beraubt, der postmoderne Kapitalismus ist gegenwärtig dabei, nun seinerseits die Staaten ihrer Souveränität zu berauben. Das setzt die diversen älteren religionspolitischen Arrangements zwischen Staat und Kirchen nicht außer Kraft, aber untergräbt sie nach und nach und kontextualisiert sie neu.
Der Kampf um die politische Macht zwischen den globalen Märkten und ihren globalen Akteuren einerseits und den Staaten und ihren Zusammenschlüssen andererseits mag – bei deutlichem Vorteil der Märkte – noch nicht definitiv entschieden sein. Es ist aber auch nicht so sehr dieser Kampf um die politische Vorherrschaft zwischen transnationalen Marktakteuren und den immer weniger souveränen Staaten, der die Stellung der Religionen untergräbt, es ist vielmehr der Kampf um die prägenden Prinzipien von Lebensführung und kultureller Formatierung der Gesellschaften. Dieser Kampf aber dürfte schon entschieden sein. Der Kampf um die Kultur, um die orientierenden Prinzipien der Lebensführung, um das, wonach sich alle richten und wogegen jene, die sich nicht danach richten wollen, opponieren müssen, diesen Kampf hat der globale Kapitalismus bereits gewonnen. Denn alle wollen, was er will, und sie wollen es unbedingt. Und wer etwas anderes will, muss sich gehörig rechtfertigen und wird unter diesem Rechtfertigungsdruck und angesichts der ziemlich aussichtslosen Position, in der er sich befindet, bisweilen gewalttätig.
Bestimmt man den „Kultur“-Begriff nicht als emphatischen Begriff sich abgrenzender Selbstdefinition, sondern nüchterner als kritischen (Selbst-)Beobachtungsbegriff, mithin „als Kommunikation der Beobachtung der Form von Handlungen, Rollen und Systemen“12, und definiert man „Hegemonie“ als die weitreichende faktische Überlegenheit einer Größe gegenüber konkurrierenden, grundsätzlich gleichen gleichrangigen Größen im Feld, so dass diese anderen Akteure nur eingeschränkte Möglichkeiten besitzen, ihre eigenen Vorstellungen und Interessen durchzusetzen,13 dann kann dem Kapitalismus umfassende kulturelle Hegemonialität zugeschrieben werden.14 Kulturell imperial ist der Kapitalismus nach dieser Definition übrigens nicht. Er wäre es, wenn alternative Lebensentwürfe ihre Alternativ- und Gleichrangigkeitsansprüche mit den kapitalistischen Lebensführungsprinzipien nicht mehr länger aufrechterhalten könnten und ihre Chancenlosigkeit eingestehen müssten. Nicht zuletzt die meisten Religionen, aber etwa auch neomarxistische Konzepte sehen sich aber auf Augenhöhe mit der dominanten kulturellen Größe Kapitalismus. Ob sie es sind, mag hier erst einmal offenbleiben.
Der Kapitalismus ist seit längerem mehr als nur eine spezifische Weise, die Ökonomie zu organisieren, weit mehr. Er soll hier, in Anschluss an eine Formulierung von Jean-Luc Nancy, als die „gewinnorientierte(.) Verwaltung der Welt“15 bestimmt werden. Klassische kapitalistische Prinzipien, wie etwa Ich-bezogene Wettbewerbsorientierung, umfassende Kommodifizierung und extrinsische Motivationsanreize, sind dabei aus dem schon länger kapitalistisch operierenden ökonomischen Sektor in die allgemeine Lebensführung und ihre gesellschaftlichen Manifestationen, also in die Kultur, gewandert. Man wird davon ausgehen müssen, dass der Kapitalismus zu einem hegemonialen kulturellen Muster menschlicher Existenz geworden ist.
Er dominiert und determiniert mit seinen Mächten zunehmend nicht nur die Nationalstaaten, die sich ihm gegenüber verhalten müssen, er dominiert und determiniert zunehmend auch die Muster menschlicher Lebensführung und deren kulturelle Institutionalisierungen und innerpsychische Codierungen. Der Kapitalismus verwaltet tatsächlich die Welt: die innere wie die äußere. Erkennbar ist das nicht zuletzt gerade daran, dass er die religiösen Institutionen als heilsorientierte Verwalter der Welt dabei ist abzulösen, was wiederum daran erkennbar ist, dass zunehmend und beileibe nicht nur in Westeuropa gilt: Nicht der Kapitalismus muss sich vor den Religionen, sondern die Religionen müssen sich vor der kapitalistischen Kultur rechtfertigen. Diese Rechtfertigung, wie im religiösen Fundamentalismus, gewaltsam zu verweigern ist nur eine paradoxe Variante dieser Konstellation.
So sehr die vom Kapitalismus produzierte Dynamik, Buntheit, Vielfalt den üblichen grauen Vorstellungen von Verwaltung zu widersprechen scheinen, so sehr ist diese bunte Außenseite doch genau dies: die Außenseite eines Innen, das auf keinen Fall sein zentrales Ziel, die Gewinnorientierung, verfehlen darf. Das zentrale Konzept des Kapitalismus ist die individuelle Gewinnorientierung, also die Frage: Was nutzt es mir? Diese Frage durchdringt alles und alle, vor ihr müssen sich alle und alles rechtfertigen. Es ist die Frage des neuen Souveräns. Verwaltung aber ist die Organisation des Bestehenden, über das hinaus es nichts anderes geben soll und darf, Verwaltung ist dadurch ausgezeichnet, nicht über sich hinaus denken zu dürfen und zu können. Kapitalismus ist die gewinnorientierte Verwaltung des Bestehenden, die verschleiert, wie statusfixiert sie ist, die im bunten Leerlauf des letztlich immer Gleichen doch auch nur eben selbstreferentielle Verwaltung ist. Wahrscheinlich ist der spätmoderne Kapitalismus jene Form der Phantasielosigkeit, die es geschafft hat, diese perfekt zu verschleiern. Dass die im Kapitalismus in Gang gesetzten kulturellen und technologischen Entwicklungen hinter dem Rücken der Akteure freilich seit einiger Zeit eine Eigendynamik produzieren, die vor ihnen als unvorhergesehenes, unvorhersehbares Ereignis wieder auftaucht, das ist dann eine ganz andere Frage. Manchmal kommen Verwaltungen eben auch nicht mehr zurecht.
4.
Seit es den Kapitalismus gibt und ganz besonders seit er nach langem Vorlauf in den italienischen Stadtstaaten des Spätmittelalters in der europäischen Neuzeit immer dominanter wurde, hatte die katholische Kirche etwas gegen ihn. Nur in den Zeiten des Kalten Krieges nach dem II. Weltkrieg, im Bündnis mit dem kapitalistischen „Westen“ gegen den real existierenden atheistischen Kommunismus, war das zumindest auf der politischen Oberfläche anders.16 Seit aber der real existierende Kommunismus verschwunden ist und spätestens seit ein offen kapitalismuskritischer Lateinamerikaner Papst geworden ist, ist es auch damit wieder vorbei. Die traditionelle anti-kapitalistische Frontstellung der katholischen Kirche hat im Wesentlichen drei Gründe: einen kulturellen, einen ethischen und einen sozialen. Sie beziehen sich allesamt auf zentrale Strukturelemente des Kapitalismus.
Kulturell bemerkte gerade die katholische Kirche natürlich sehr schnell, dass, wie das Kommunistische Manifest in einer schönen Metapher festhält, im Kapitalismus „alles Ständische und Stehende verdampft“ und „alles Heilige“ irgendwann „entweiht“17 wird. Als Trägerinnen von ihnen selbst als ewig und unwandelbar angesehener, von ihnen auch gesellschaftlich legitimierter und sanktionierter Traditionen, Bindungen und Ordnungen wurden die Kirchen durch den Kapitalismus bedroht. Dass der Kapitalismus nach und nach die alten vormodernen, religiös legitimierten ständischen Ordnungen erodierte, dass er die Jahrhunderte alten normativen und sozialen Schalen der Religion, der Nation, der Geburtsfamilie und zuletzt selbst jene des Geschlechts in einem zuerst langsamen, dann nach und nach sich beschleunigenden Liquidierungsprozess verflüssigte, dass ihm wörtlich „nichts heilig“ ist, außer er sich selbst, das hat gerade die katholische Kirche früh notiert und heftig kritisiert. Im Kapitalismus wuchs ein mächtiger und schließlich siegreicher Konkurrent heran, immer erfolgreicher bei der Prägung von Individuen und Sozialwesen, ebenbürtig an Kraft und Stärke und mindestens ebenso virtuos. Man erkennt diese Gegneridentifizierung nicht zuletzt daran, dass sich die Kirchen nicht scheuten, ihren eigenen Zentralbegriff in denunziatorischer Absicht auf die Zentralkategorie des Kapitalismus anzuwenden und das Geld als den „Gott Mammon“ zu geißeln: eine echte, wenn auch eher ungewollte Anerkennung von Gleichrangigkeit.
Die ethische Kritik am Kapitalismus seitens der christlichen Kirchen entzündet sich bis heute am persönlichen Egoismus, am individuellen Streben nach Reichtum und Erfolg als Triebfeder kapitalistischer Dynamik. Was praktisch in allen Kulturen und Ethiken zurückgedrängt, eingedämmt, ja verurteilt wurde, die Orientierung zuerst und zuvorderst am eigenen, noch dazu ganz direkt materiell-quantitativ definierten Vorteil, wird im Kapitalismus zum Prinzip und zur Forderung an den Einzelnen, gerinnt schließlich in der Vorstellung vom Menschen als homo oeconomicus.
Es dauerte lange und bedurfte diffiziler Argumentationen und mehrerer Anläufe, um diese neue egoistische Ethik in die bislang gültigen religiösen altruistischen Ethiken einzupassen. Die berühmteste und populärste Strategie bestand schließlich darin, den individuellen Egoismus über seine von ihm unbeabsichtigten, aber erhofften, manchmal auch tatsächlich eintretenden positiven Nebenfolgen für alle („Die Flut hebt alle Boote“; „Trickle-down-Effekt“) oder zumindest für einige („Schaffung von Arbeitsplätzen“) in einem utilitaristischen Kalkül ethisch zu rechtfertigen.
Ein anderer argumentativer Weg balancierte das individuelle berufliche Vorteilsstreben im Ganzen des eigenen Handelns mit demonstrativem individuellen Altruismus aus: Der durch den Egoismus erarbeitete materielle Erfolg sollte dann Basis individueller Wohltätigkeit werden. Man weist dann darauf hin, dass nicht wenige Reiche Teile ihres Vermögens wieder gemeinnützig für wohltätige Zwecke ausgeben: Bill Gates, der reichste Mann der Welt, ist das berühmteste Exempel hierfür, angeblich hat er bereits 35 Milliarden Dollar gespendet. Dieser individuellen protestantischen Wohltätigkeitsethik steht auf katholischer Seite eine mehr der Institution als der Person vertrauende Variante gegenüber, etwa der „rheinische Kapitalismus“, der einen stattlichen Teil des Einkommens der Erfolgreichen über Steuern, Sozialabgaben und andere Mechanismen an als „bedürftig“ Definierte umverteilt.
Die radikalste Variante einer Einpassung der Egoismusorientierung des Kapitalismus in die bestehenden altruistischen religiösen Ethiken besteht schließlich dann darin, letztere radikal zu drehen und den beruflichen und finanziellen Erfolg als direkten Ausweis göttlicher Erwählung und Gnade zu definieren und damit zu legitimieren. Dieses Konzept hat sich im Katholizismus nie wirklich durchgesetzt, auch nicht im deutschen lutherischen Protestantismus, wohl aber in gewissen süd- und nordamerikanischen Freikirchen.18 Vielleicht mit Ausnahme dieses radikalen „Wohlstandsevangeliums“ steckt in all diesen Einpassungsversuchen des neuen kapitalistischen Egoismus in die alte altruistische religiöse Ethik aber immer der Stachel der Rechtfertigung: Man spürt den Gegensatz von kapitalistischem Gewinnstreben und christlicher Ethik und erkennt an, dass man sich für das kapitalistische Streben nach Gewinn, Reichtum und Vorteilen rechtfertigen muss.
Bleibt noch eine dritte Kritikschiene, der Verweis auf die manifesten Ungerechtigkeits- und Verelendungseffekte, die der Kapitalismus in seiner Geschichte immer wieder produziert hat und bis heute produziert. Spätestens als die beginnende Industrialisierung Europas im 19. Jahrhundert unübersehbar Massenelend bei gleichzeitigem exorbitantem Reichtumszuwachs einiger weniger schuf, wurde die strukturelle Ungerechtigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus christlicher Perspektive verurteilt, ganz besonders durch die katholische Kirche, hier verbunden mit kulturpessimistischer Kritik an der Auflösung alter Ordnungen und der religiösen Säkularisierungstendenz der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaften.
Es entstand eine ganze neue theologische Disziplin, die Christliche Soziallehre, die als ordnungsfixierte, tendenziell anti-liberale Sozialmetaphysik begann und sich nach dem II. Vatikanum zur menschenrechts- und gerechtigkeitsorientierten Sozialethik mit deutlich kapitalismuskritischer Grundtendenz auf regionaler wie globaler Ebene hin entwickelt hat. Es entstanden im europäischen Christentum beider großer Konfessionen zudem soziale Bewegungen, die sich für die Verarmten in konkreter Tat und schließlich auch politischem Engagement einsetzten. Auch forderte man, etwa in der Christdemokratie, die Einhegung des kapitalistischen Egoismus durch rechtliche Vorgaben und Rahmenregelungen seitens des Staates.
Diese drei kirchlichen Kritikstränge am Kapitalismus – an seinen Auflösungseffekten traditioneller Bindungen, seinem inhärenten Egoismusstreben und seinen Verelendungsfolgen – sind einschlägig und sie bleiben höchst relevant. Sie bilden jedoch nicht das zentrale Thema dieses Buches.
5.
Dafür gibt es einen klassischen wissenschaftlichen Grund: Die Ströme dieser Kritik am Kapitalismus fließen mittlerweile wieder breit, ergänzt seit einiger Zeit durch die Analyse seiner lokalen, regionalen und globalen ökologischen Folgen.19
Sie treffen auch reale Phänomene. Doch das ist nicht der Hauptgrund, warum die hier vorgelegten Analysen nicht unmittelbar an die bekannte christliche Kapitalismuskritik anschließen. Dieses Buch leitet vielmehr die Vermutung, dass es mit der herkömmlichen christlichen Kritik am Kapitalismus noch nicht getan ist, und dies vor allem deshalb, weil diese klassischen Kritiklinien zwar gute Argumente und einige empirische Plausibilitäten für sich haben, wahrscheinlich aber einen zentralen Durchbruch des Kapitalismus vernachlässigen.
Zudem schließen theoretische und selbst politische Opposition noch lange nicht faktische Amalgamierung aus. Wenn der kulturell hegemoniale Kapitalismus der neue Souverän unserer Gesellschaft ist, dann schreibt er sich tief auch in die Religionen und Kirchen ein. Er ist dann viel weniger ein Außen, ein Gegenüber, das man als solches analysieren, kritisieren und bekämpfen kann, als es die theoretischen und institutionellen Kontroversen vermuten lassen. Solche Strategien der Distanzierung würden dann eher verdecken, was doch der Fall ist: Der kulturell hegemoniale Kapitalismus operiert in einem selbst. Ein Außen zu ihm ist diskursiv relativ leicht, aber faktisch nur sehr schwer möglich. Gerade die Oppositionsstellung übersieht leicht das Wichtigste: den realen Kapitalismus im Eigenen.
Natürlich liegt es angesichts der beschriebenen Kritiklinien der Kirchen am Kapitalismus nahe, manichäisch zu urteilen und christliche und kapitalistische Existenz („Man kann nicht zugleich Gott dienen und dem Mammon“) strikt zu dichotomisieren. Man verortet sich dann diskursiv jenseits der kapitalistischen Realitäten und Versuchungen, hat in vielem Recht und doch nicht gesehen, was doch offenkundig der Fall ist: Man ist ziemlich unentrinnbar selbst Teil der kapitalistischen Kultur. Da ist dann jene andere Variante der Exterritorialisierung der Probleme christlicher Existenz in kapitalistischer Kultur fast schon ehrlicher, wenn auch in ihren Folgen problematischer, welche diese Differenz schlicht nivelliert, sich also der eigenen kapitalistischen Existenz erfreut und etwa den Kirchen entsprechende Anpassungsstrategien empfiehlt.
Am ehesten noch schließen die vorliegenden Überlegungen an jene christliche Kritiktradition am Kapitalismus an, die dessen kulturelle Konsequenzen problematisiert. Dies soll hier dann freilich jenseits der katholisch lange üblichen, sowohl in einer konservativen wie progressiven Variante existierenden kulturpessimistischen Einfärbung geschehen. Denn die hier vorgelegten Untersuchungen gehen davon aus, dass es aktuell und auf absehbare Zeit kein leicht zu erreichendes Jenseits, keinen „Ort außerhalb“ des Kapitalismus und seiner spezifischen Kultur gibt. Das war noch vor kurzem, etwa vor 1989, anders, als linke, staatskommunistische Alternativmodelle mit freilich sehr begrenzter und zum Schluss rapide sinkender Attraktivität existierten, und es war vor 1933 anders, als rechte, kulturkonservative Konzepte bis hin zu Entwürfen einer „Konservativen Revolution“20 durch die europäischen Faschismen noch nicht desavouiert worden waren.
Wir erleben zwar nicht das „Ende der Geschichte“, wohl aber auf absehbare Zeit die alternativlose Vorherrschaft des kapitalistischen Gesellschaftsmodells. Ernsthaften Widerstand organisieren gegenwärtig nur noch Fundamentalismen in allen Religionen, speziell aber im Islam. Religiöse Fundamentalismen sind Widerstandsnester vor allem gegen die kulturelle Hegemonie des Kapitalismus, und viele religiöse Fundamentalismen verstehen sich auch ausdrücklich so. Ihr Widerstand gilt den Auflösungs- und Emanzipationseffekten alter ständischer Ordnungen, speziell im Bereich der Geschlechterbeziehungen, bisweilen zielen sie aber auch auf die Ungerechtigkeitseffekte und die Egoismusorientierung des Kapitalismus. Dass, so etwa im Islamismus, Selbstmordattentate die bevorzugten Mittel dieses Kampfes sind, zeigt, wie aussichtslos er ist, ganz zu schweigen von der abstoßenden Brutalität und Grausamkeit, mit welcher der religiöse Fundamentalismus ihn führt. Der gesellschaftliche Rückweg in vormoderne religiöse Bindungskulturen führt, nachdem die kapitalistischen Freiheiten gekostet wurden, notwendig in brutalste Unterdrückungsregime.
Es hilft nicht wirklich weiter, die Existenzprobleme des Christentums im Kapitalismus diskursiv zu exterritorialisieren und so zu tun, als ob er die anderen, aber nicht einen selber beträfe. Es wäre nicht nur eine bemerkenswert unsolidarische Strategie gegenüber allen jenen, die vom Kapitalismus affiziert sind; die Herrschaft des Kapitalismus ist vor allem zu alternativlos und zu invasiv, als dass dies möglich wäre. Es führt übrigens auch nicht viel weiter, den Kapitalismus und seine kulturellen Effekte zu totalisieren und zu dämonisieren. Dann wäre es nicht nur nutzlos und jedenfalls folgenlos, sich die Mühe zu machen und ein Buch über diese Konstellation zu schreiben, man müsste auch davon ausgehen, dass die kapitalistische Kultur selbst das noch in sich aufnehmen und für sich nutzen würde.
Nun ist es ohne Zweifel eine der herausragenden Eigenschaften des Kapitalismus, tatsächlich auch seine Gegner für sich einzusetzen: eher wenig subtil, indem er sie kauft, subtiler, indem er deren Widerstandsenergie umleitet und zur eigenen Optimierung und Innovation nutzt. Aber: Schon rein theologisch betrachtet, ist der Kapitalismus immer noch ein irdisch’ Ding, auch wenn er sich zunehmend mit religiöser Aura umgibt und in religiösen Codes formatiert und wenn er auch tatsächlich immer tiefer eindringt ins Konstitutionssystem menschlicher Existenz. Er ist dennoch nicht Gott, mag er sich noch so sehr viele der ehemals von Religionen ausgefüllten Funktionen aneignen. Wenn er aber nicht Gott ist, dann mag er dominant und mächtig sein, allmächtig aber ist er nicht. Die Allmachtsbehauptung und jene Alternativlosigkeit ist schon eine seiner Macht- und Verführungsstrategien, so etwa, wenn er den Menschen als homo oeconomicus des permanent kalkulierenden Eigeninteresses definiert.
Spezifische Befreiungswirkungen des Kapitalismus sollen auch nicht übersehen werden. Was die Kirchen lange verurteilten und später beklagten, die Befreiung aus den vormodernen ständischen Schalen des Geschlechts, der Religion, der Geburt, das stellt sich unter der Perspektive von Menschenrechten und Menschenwürde als Fortschritt dar. Die Lage ist mithin ambivalent. Die Emanzipation der Frauen von männlicher Dominanz etwa, also die Auflösung der Zwangskopplung von Frauenbiographien an Männerbiographien, sie wäre ohne die vom kapitalistischen Modernisierungsprozess getriebene Integration der Frauen in den Arbeits- wie den Konsummarkt ein reichlich wirkungsloses idealistisches Postulat geblieben. Immerhin bildete das Konzept „Natürliche Gleichheit aller Menschen und natürliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern“ so etwas wie den „paradoxe(n) Kanon des 19. Jahrhunderts“, der „bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch selbstverständlich bleibt“21. Diese Selbstwidersprüchlichkeit wurde weder vom Menschenrechtspathos der Aufklärung noch gar von der christlichen Nächstenliebe angetastet; es war die kapitalistische Marktintegration ehemals marktferner gesellschaftlicher Gruppen, neben den Frauen gilt dies etwa auch für die Landbevölkerung und ältere Menschen, die deren traditionellen Abhängigkeitsverhältnisse lockerte. Diese Gruppen waren es freilich auch, die, gerade im katholischen Bereich, am längsten noch kirchliche Partizipation pflegten.22
6.
Wenn man sich als christlicher Theologe weder auf orthodoxkommunistische noch auf konservativ-reaktionäre alternative Gesellschaftsmodelle zurückziehen will, noch das Problem des Kapitalismus durch Exterritorialisierung verdrängt, so als ob man selber von ihm nicht betroffen wäre, aber auch nicht einfach ein Dokument der Kapitulation produzieren möchte, das durch Totalisierung und Dämonisierung des kulturell hegemonialen Kapitalismus vor ihm in die Knie geht, und zudem als praktischer Theologe auch nicht einfach nur die christliche Tradition in irgendeiner Weise verstehbar und plausibel halten will in kapitalistischer Zeit, wie es die Aufgabe der Systematischen Theologie ist und begnadeter Prediger und Predigerinnen: Was ist dann noch möglich?
Es bleibt, was sich eröffnet, wenn man die Frage nach dem Christentum im kulturell hegemonialen Kapitalismus stellt und dabei nicht meint, die Kritik des Kapitalismus wäre schon eine hinreichende Antwort. Es bleibt der schmale Grat zwischen Distanzierung und Affirmation, zwischen Entsolidarisierung und Sich-Einpassen ins kapitalistische Dispositiv, zwischen Kritikgewissheit und gleichzeitiger Übernahme kapitalistischer Prinzipien und Muster.
Sollen diese Gefahren vermieden werden, braucht es einige Analysen. Diese betreffen den kulturell hegemonialen Kapitalismus selbst, seine Strukturen und Wirkungsweisen. Sie betreffen die Formatierung der religiösen Landschaft im Kräftefeld des Kapitalismus und die Reaktionsmuster der wissenschaftlichen Theologie in diesem Kräftefeld. Dann aber kann Ausschau gehalten werden nach Konzepten, mit dem so beschriebenen Problemfeld von Christentum und Kapitalismus umzugehen. Solche Konzepte finden sich, nicht zuletzt in im engeren Sinne nicht-theologischen Diskursen postmoderner Neo-Marxisten. Doch auch das Archiv der christlichen Praktiken und Diskurse wird exemplarisch befragt werden und eröffnet praktischtheologische Überlegungen eines vielleicht weiterführenden Umgangs mit dem kulturell hegemonialen Kapitalismus.
Eine Voraussetzung ist dabei freilich nicht zu umgehen: Die bisherigen Konstellationen des Christentums sind an ein wirkliches Ende gekommen. Die radikale Dekonstruktion des Christentums im kulturell hegemonialen Kapitalismus muss ohne Wenn und Aber realisiert und akzeptiert werden und auch die Hilflosigkeit, die sich daraus ergibt. Weder bloße „optimierte“ Weiterverwaltung, das geläufige Konzept der Kirchen, noch die Resignation vor der Möglichkeit, dass die christliche Tradition auch in der Gegenwart noch eine Differenz setzt, die einen wirklichen Unterschied ausmacht, sind theologisch mögliche Strategien.
Dass die Ausführungen dieses Buches vorwiegend jene Region im Blick haben, in der und für die sie geschrieben sind, mit der aber auch alles begann, wurde bereits im Vorwort angemerkt und auch, dass sie von einem katholischen Theologen geschrieben wurden. Der vergleichende Blick wird freilich bisweilen über Europa und die katholische Kirche hinausgehen. Denn der globale Kapitalismus umstellt, umgibt und durchdringt alles. Aus seiner Perspektive, aus der Perspektive des nun herrschenden Souveräns, sind die internen Differenzierungen seines Vor-Vorgängers relativ nachrangig, wie übrigens auch dessen legitimatorischen Diskurse. Beides trifft nicht ganz zufällig übrigens auch für die meisten Christinnen und Christen23 zu: ein unübersehbarer Beleg, wer regiert.