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9. Kapitel
ОглавлениеLucie saß in ihrem Zimmer bei den Hausaufgaben, als sie das Telefon klingeln hörte. Normalerweise rannte sie gleich los, um als Erste am Apparat zu sein. Sie telefonierte unheimlich gerne und die meisten Anrufe waren sowieso für sie.
Sie hatte sogar schon mal ihre Eltern gefragt, ob sie nicht ein eigenes Telefon bekommen könne, dann würde sie die anderen nicht so häufig stören.
Ihr Vater hatte sich nur an den Kopf gelangt und gemeint: »Wenn du weniger telefonieren würdest, würdest du uns auch nicht so oft stören.« Damit war das Thema wieder vom Tisch.
Heute war ihr aber nicht nach Telefonieren zu Mute. Ihre Stimmung war wieder gesunken und sie machte lustlos ihre Hausaufgaben.
»Oh Gott.« Ihre Mutter stieß einen kurzen Schrei aus, der Lucie aufhorchen ließ.
»Wie ist denn das passiert?«
Lucie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Das Telefon stand auf einem kleinen Tisch neben dem Schrank. Ihre Mutter hatte sich einen Stuhl herangezogen. Ihre Miene war erschüttert.
Lucie wurde ganz mulmig zumute. Plötzlich hatte sie ein ungutes Gefühl im Magen.
Als ihre Mutter den Hörer aufgelegt hatte, sagte sie nur: »Ramon wurde heute Morgen verletzt auf der Koppel gefunden.«
Wie eine Wilde radelte Lucie zum Reitstall. Ihr T-Shirt war klatschnass. Sie achtete nicht auf Äste oder Schlaglöcher, als sie durch das Waldstück raste. Sie hatte großes Glück, dass sie nicht stürzte.
Von weitem erkannte sie bereits das Auto des Tierarztes sowie einen Polizeiwagen.
Beim Reitstall angekommen ließ sie ihr Fahrrad fallen und rannte hinein.
Die Box von Ramon war leer. In der Halle war auch niemand. Sie stürzte nach draußen. Auf der Koppel neben der Halle standen einige Personen. Auf dem Boden vor ihnen lag ein Pferd.
Als sie die Menschenmenge erreicht hatte, erkannte sie Ramon am Boden. Sein Körper war teilweise mit einer Decke zugedeckt. Der hintere Teil war blutverschmiert. Dr. Merz hatte ihm einen großen Verband angelegt. Der Verband war rot vom Blut, ebenso die Wiese neben seinem Körper.
»Was ist passiert?«, fragte Lucie entsetzt.
Kirstens Mutter, die ebenfalls in der Gruppe stand, legte ihr den Arm um die Schulter und wollte sie von dem verletzten Tier wegführen. Doch Lucie ließ sich nicht wegdrängen.
Sie kniete neben Ramons Kopf nieder und streichelte ihn.
Seine Augen blinzelten schwach. Er brauchte eine Weile, bis er sie erkannte.
Als sie anfing, leise mit ihm zu reden, schnaubte er. Er bewegte sich, als ob er versuchen wollte aufzustehen.
»Nicht bewegen«, sagte Lucie und sah ihm in die Augen. »Ich bin ja bei dir. Du wirst wieder gesund werden.«
Lucie liefen Tränen über ihr Gesicht.
Kirstens Mutter kniete sich neben sie.
»Man hat ihn heute Morgen hier gefunden. Er war vergangene Nacht draußen auf der Koppel. Mit noch vier anderen Pferden. Wir wissen nicht, was passiert ist.«
»Was ist mit den anderen?«
»Die sind wohlauf und in ihren Boxen.«
»Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Wir warten auf den Krankentransport. Er wird Ramon in die Stadt in die Pferdeklinik bringen, wo er operiert werden muss. Es ging ihm heute Morgen so schlecht, dass wir ihn noch nicht transportieren konnten. Dr. Merz hat seinen Zustand stabilisieren können. Es ist aber nach wie vor sehr kritisch mit ihm.«
Lucies Augen waren rot und tränenunterlaufen. Sie schaute Kirstens Mutter verzweifelt an.
»Wer macht so etwas?«
»Wir wissen noch nicht, wie es passiert ist. Die Polizei untersucht den Fall.« Kirstens Mutter drückte Lucie an sich.
»Wo ist eigentlich Kirsten?«, fragte Lucie und warf einen schnellen Blick auf die umstehenden Personen.
»Die ist beim Klavierunterricht. Sie weiß noch nichts davon.«
Der Wagen aus der Tierklinik kam mit einem großen Pferdeanhänger und hielt neben der Koppel. Der Fahrer wendete und fuhr den Anhänger rückwärts auf die Wiese, so nah wie möglich an das verletzte Pferd heran.
Der schwierigste Teil stand ihnen noch bevor. Ramon musste alleine in den Wagen gehen. Er war viel zu schwer, um von den umherstehenden Menschen hinein getragen zu werden. Ein Kran wäre notwendig gewesen, es war aber keiner verfügbar.
»Achtung, bitte«, sagte Dr. Merz. »Ramon muss jetzt in den Anhänger. Machen Sie bitte Platz.«
Kirstens Mutter hatte ihm bereits das Halfter angelegt. Sie hofften, dass sie ihn durch vorsichtiges Ziehen zum Aufstehen bewegen konnten. Für Ramon würde es unheimlich schwer werden aufzustehen. Niemand wusste, wie lange er schon verletzt in der Koppel gelegen hatte. Er hatte viel Blut verloren, so gut wie nichts getrunken und die Hitze des Tages machte alles noch anstrengender.
Selbst Dr. Merz konnte nicht sagen, ob er überhaupt noch in der Lage war zu laufen. Seine Verletzung sah sehr schlimm aus. Ramon musste auf jeden Fall in die Pferdeklinik, um dort weiter untersucht zu werden. Dann erst konnte eine genauere Diagnose gestellt werden. Kirstens Mutter zog an Ramons Halfter und Dr. Merz gab ihm einen vorsichtigen Klaps auf den Rücken.
Ramon schnaubte kurz, bewegte sich aber nicht. Sie zog noch einmal fester an der Leine. Sie hatten keinen Erfolg. Mehrere Male versuchten sie noch verschiedene Dinge. Einmal dachten sie schon, dass Ramon jetzt aufstehen würde. Aber nach einer größeren Bewegung fiel er wieder in seine vorherige Lage zurück.
»Was sollen wir tun?« Dr. Merz sah Kirstens Mutter fragend an.
Kirstens Mutter überlegte kurz, dann ging sie zu Lucie.
»Willst du mal mit ihm reden? Vielleicht kannst du was erreichen. Er muss unbedingt in den Wagen.«
Lucies Augen waren immer noch voller Tränen. Sie war bleich im Gesicht, so dass ihre Sommersprossen viel stärker zum Vorschein kamen. In ihrem Gesicht war die Sorge um Ramon zu erkennen.
Langsam ging sie auf ihn zu und kniete sich neben seinen Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Gesichtszüge wirkten angespannt.
Er muss starke Schmerzen haben, dachte Lucie.
Ramon erkannte sie und Lucie spürte, dass er sich etwas entspannte. Sie fuhr sich mit einer Hand über die Augen, um die Tränen abzuwischen.
»Ramon, mein Lieber.« Erneut flossen Tränen aus Lucies Augen. Sie wischte sich noch einmal mit der Hand über das Gesicht. »Es ist wichtig, dass du jetzt in den Wagen gehst.« Lucie drehte ihren Kopf in Richtung des Anhängers. In den Augenwinkeln erkannte sie, dass Ramon mit seinen Augen ihrem Blick kurz folgte.
»Du musst unbedingt ins Krankenhaus, damit man dich dort wieder gesund pflegen kann.« Ihre Hand streichelte dabei leicht über seinen Hals. Die Berührungen beruhigten Ramon. Man sah ihm an, dass er sich weiter entspannte. »Bitte, du musst jetzt aufstehen und dort hineingehen. Dann kannst du dich wieder hinlegen.«
Sie fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare.
»Wir wollen doch bald wieder zum Springen gehen.«
Sie lächelte ihn an und kraulte ihn an seiner Mähne. Dann gab sie ihm einen zärtlichen Klaps auf den Hals und stand langsam auf. Sie nahm die Leine in die Hand und zog daran.
Ramon hob den Kopf etwas an, legte ihn aber gleich wieder auf den Boden.
»Ramon, bitte«, sagte Lucie. Die Verzweiflung war ihrer Stimme anzumerken.
Sie zog noch einmal an der Leine. Ramon bewegte sich nicht.
Lucie zitterte am ganzen Körper. Sie lies die Arme hängen. Was sollte sie machen? Wenn Ramon nicht von alleine aufsteht, kann er nicht in die Pferdeklinik gebracht werden.
Kirstens Mutter kam langsam auf sie zu. Sie wollte Lucie gerade in den Arm nehmen, da hörten sie beide einen tiefen Atemzug von Ramon. Er hob seinen Kopf und Lucie sah sofort, dass er versuchte, aufzustehen.
»Ja, Ramon. Komm, du schaffst es.«
Aber er fiel wieder auf die Seite zurück. Schon der Versuch musste ihn unheimlich viel Kraft gekostet haben. Er legte seinen Kopf wieder auf den Boden.
»Probier es noch einmal, Ramon.« Lucie zog an der Leine. Seine Augen sahen zu ihr auf. Sie schauten sich beide eine Zeit lang in die Augen. Dann nickte Lucie leicht mit dem Kopf. Ramon hob seinen an und stand mit letzter Kraft auf. Er schaffte es. Lucie hatte Angst, dass seine Beine einknicken könnten. Aber Ramon blieb stehen.
In Lucies Gedanken erschien für kurze Zeit das Bild des neu geborenen Ramons. Wie er auf seinen dünnen Beinen in der Pferdebox die ersten Gehversuche machte und dabei mit unsicheren Schritten auf seine Mutter zuging.
Es gelang Ramon, sich auf den Beinen zu halten und langsam führte ihn Lucie in den Anhänger, wo er sich sofort wieder hinlegte. Sein Fell war schweißgebadet. Lucie nahm eine Hand voll Stroh und striegelte über seinen Körper.
»Ich bleibe bei dir«, sprach Lucie mir ruhiger Stimme, »du wirst bald wieder ganz gesund werden.«
»Komm bitte, Lucie. Wir müssen den Anhänger schließen und gleich losfahren«, sagte Dr. Merz.
Kirstens Mutter stand an der Rampe und streckte Lucie ihre Hand entgegen.
»Kann ich mitfahren?«, fragte Lucie.
»Du kannst bei mir mitfahren. Ich fahre mit in die Klinik.«
Lucie stand auf und ging die Rampe herunter.
Dr. Merz und der Fahrer des Wagens schlossen den Anhänger und fuhren los.
»Danke«, sagte Kirstens Mutter und nickte Lucie mit einem leichten Lächeln zu.
Sie stiegen in den Wagen und fuhren dem Pferdetransporter hinterher.