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Die Dilettanten

Wie sie alle am Fenster sitzen und auf die Straße starren – als ob sie hofften, bald etwas Besonderes zu sehen. Nichts werden sie sehen. Sie kennen die Anforderungen erfolgreichen Fenstersitzens nicht im Mindesten. Sie sitzen da in ihrem unsäglichen Freizeitdress und stieren wie Ochsenfrösche. Manche nehmen dabei sogar Nahrung zu sich, obwohl man die Straße nicht aufmerksam beobachten und sich gleichzeitig mit der Nahrungsaufnahme befassen kann. Das ist unmöglich. Ein ekelerregender Anblick, wie sie am Fensterbrett wiederkäuen! Wie kommen sie überhaupt dazu, mir als gestandenem Fenstersitzer die Stirn bieten zu wollen? Es ist geradezu lächerlich, wie sie mich mit ihrem Dilettantentum konfrontieren. Nur weil die Seuche sie ans Fensterbrett gezwungen hat, sitzen sie da – nicht aus Leidenschaft oder einem Verantwortungsgefühl der Straße gegenüber. Die Seuche hat sie dazu genötigt. Sie wissen nicht, was es mit dem Fenstersitzen auf sich hat – welche Verantwortung man übernimmt, sobald man sich ans Fensterbrett begeben hat. Sie sind stumpf und ohne jedes Fingerspitzengefühl für diese Tätigkeit. Es ist noch nicht lange her, da nannten sie mich einen Taugenichts, jetzt sitzen sie selbst am Fenster. Dabei kennen sie nicht einmal die einfachsten Handlungsweisen, die dazu führen, dass das Fenstersitzen gelingt. Verzweifelt versuchen sie zu verbergen, dass sie keine Ahnung haben, dass sie mit der Situation überfordert sind, dass sie eingesehen haben, wie wenig sie für diese Tätigkeit taugen, dass sie nutzlose Wiederkäuer sind und sich auf die ungewohnte und im Grunde höchst anspruchsvolle Tätigkeit des Fenstersitzens nicht einlassen können. Ich sehe ihnen den Kampf an, den sie im Innern mit sich austragen. Ich sehe ihnen an, dass sie am liebsten jetzt schon, nach zwei Wochen Seuche, das Handtuch werfen möchten, dass sie nahe an der Kapitulation sind, dass sie bald – es ist nur eine Frage der Zeit – in Tränen ausbrechen und mich ergebenst von der anderen Straßenseite aus um Hilfe anflehen werden. Ich solle sie doch bitte vertraut machen mit der Kunst des Fenstersitzens und ihnen genau erklären, worauf es dabei ankommt.

»Einen Teufel werd‘ ich tun. Ich lass‘ euch zappeln!«, murmle ich vor mich hin. Ich werde sie die Verzweiflung über ihre Unfähigkeit bis in jede Zelle ihres Körpers hinein spüren lassen. Sie sollen sehen, wie es ist, wenn man eine scheinbar leichte Tätigkeit wie die des Fenstersitzens jahrelang verlacht und ihr dann plötzlich ohnmächtig gegenübersteht, besser gesagt: gegenübersitzt. Sie sollen weinend zugeben, dass sie der Aufgabe in keiner Weise gewachsen sind.

Im Übrigen lässt sich die Tätigkeit des Fenstersitzens nicht im Schnellverfahren erlernen. Ich kann nicht jemanden innerhalb von einer halben Stunde in etwas einweisen, in das ich mich selbst über viele Jahre hinweg mühsam hineinarbeiten musste. Als Autodidakt habe ich das Fenstersitzen durch jahrelanges Training und große Beharrlichkeit erlernt und mir meinen Platz als verantwortungsbewusster Fenstersitzer hart erarbeitet. Nach ersten stümperhaften Versuchen – so konnte ich am Anfang ein Sitzen an der Fensterbank nicht länger als 20 Minuten ertragen – habe ich diese Tätigkeit immer weiter entwickelt und verfeinert. Heute verfüge ich über eine große Ausdauer im Fenstersitzen. Natürlich muss man auch eine gewisse Begabung dafür haben. Selbst wenn man viel Eifer, unerschütterlichen Fleiß, ja Verbissenheit beim Fenstersitzen an den Tag legt, muss man doch, will man in seinem Metier zu den Besten gehören, von Natur aus ein gewisses Talent mitbringen und es mit großer Selbstdisziplin auch tatsächlich an sich ausbilden. Ich bin heute in der Lage, zehn Stunden an der Fensterbank auszuharren, ohne dass mir der Musculus gluteus maximus einschläft. Mein Steißbein ist durch das ständige Training an extreme Anforderungen gewöhnt. Aber entscheidend für den langfristigen Erfolg an der Fensterbank ist trotzdem die mentale Einstellung. Man muss sich auf diese Tätigkeit minutiös vorbereiten, man setzt sich nicht einfach ans Fensterbrett und legt los. Man muss sich innerlich darauf einstellen, dass man gleich viele Stunden scheinbar regungslos am Fenster sitzen wird. Das bedeutet eine große körperliche, aber auch mentale Belastung. Es wird zu einer Belastungsprobe für das Nervenkostüm. Seit vielen Jahren nehme ich deshalb täglich zwei Kapseln Vitamin-B-Komplex zu mir. Das hilft, die gleichförmige, aber anspruchsvolle Arbeit Tag für Tag zu bewältigen. Man darf diese Tätigkeit auf keinen Fall unterschätzen und auf die leichte Schulter nehmen, dann wird man bitter enttäuscht werden und läuft von Anfang an Gefahr, ein schlechtes Ergebnis zu erzielen. Man wird dann am Ende des Tages nicht befriedigend gearbeitet haben und eine innere Leere verspüren. Man muss tatsächlich mit großer Ernsthaftigkeit und Überzeugung an die Sache herangehen. Jede Sekunde am Fensterbrett muss man hochkonzentriert sein. Wie ein Hochleistungssportler stelle ich mich deshalb jeden Morgen ein paar Minuten auf die bevorstehende Aufgabe ein, ehe ich das Fenster öffne und das Kissen auf dem Fensterbrett in die richtige Position bringe. Ein gutes Kissen ist von großer Wichtigkeit für ein erfülltes Fenstersitzen. Überhaupt ist die richtige Ausrüstung das A und O beim Fenstersitzen. Ich bin für meine Tätigkeit an der Fensterbank perfekt ausgestattet. Wenn ich am Fenster sitze, trage ich Unterarmpolster an beiden Armen. Schließlich muss ich mich stundenlang auf die Unterarme aufstützen können. Ich verwende ein atmungsaktives Schaumstoffkopfkissen als Unterlage. Das Kissen liegt über der scharfkantigen Fenstersohle und wird doppelt von einem dicken Baumwollkissenbezug geschützt, damit der Schaumstoff keinen Schaden nimmt. Es kommt darauf an, gutes Handwerkszeug zu haben. Das ist wie in jedem anderen Beruf auch. Wenn man auf irgendeinem Gebiet Höchstleistungen erbringen will, braucht man anständige Arbeitsutensilien. Man muss sich optimal an die Arbeit anpassen, an die spezifischen Anforderungen. Immerhin bewegt man sich beim Fenstersitzen nicht wie ein Tier in seiner natürlichen Umgebung. Im Gegenteil, am Anfang fühlt man sich sehr fremd an der Fensterbank, man hat das Gefühl, dass man mit der Tätigkeit nicht warmwerden wird, man sieht sie womöglich nur als eine Übergangslösung an, bis man wieder etwas anderes machen wird. Aber das ist der Augenblick, in dem man sich der Aufgabe stellen, sie ernst nehmen und sich ihr mit Überlegung und Finesse nähern muss. Dazu gehört die richtige Ausstattung, die ein triumphales Fenstersitzen über lange Zeit erst ermöglicht. Meine Nachbarn sitzen ohne Unterarmschutz mit Dolce & Gabbana T-Shirts am Fenster. Das kann nichts werden. Das sind Amateure, die sich jetzt während der Seuche notgedrungen ein neues Betätigungsfeld haben suchen müssen. Sie erledigen diese Aufgabe nicht aus Berufung und mit einer positiven inneren Einstellung. Sie haben überhaupt kein Gespür für die Aufgabe des Fenstersitzens. Sie kennen die Anforderungen und die Geheimnisse erfolgreichen Fenstersitzens nicht im Mindesten.

»Was wollt ihr eigentlich, ihr Amateure – habt ihr nix Besseres zu tun?« Meine Abneigung gegen diesen fahrlässigen Dilettantismus kennt inzwischen keine Grenzen. Glücklicherweise ist noch kein Amateur an der Häuserfront gegenüber am Fenster zu sehen, wenn ich am Morgen meine Arbeit aufnehme. Wenn ich mich bereit mache, ist die Luft noch rein, mein Revier liegt noch frei und unbefleckt vor mir. Während ich die Unterarmpolster anlege, gehe ich im Geiste noch einmal alles durch: wie ich es schaffe, ohne Verspannungen im Rücken und ohne Konzentrationsschwäche durch den Tag zu kommen. Wenn das Kissen am offenen Fenster richtig auf dem Fensterbrett liegt und die Unterarmpolster angelegt sind, bereite ich mich auch körperlich auf die bevorstehende Herausforderung vor. Körper und Geist müssen eine Einheit bilden, das ist der Schlüssel zu einem gelungenen Tag am Fensterbrett. Ich muss Körper und Geist in guter Form halten, nur so kann ich in einem langen Arbeitstag bestehen. Bevor ich also starte und ans Brett gehe, stelle ich mich vor das geöffnete Fenster und atme mehrmals tief durch, bewege meine Arme beim Einatmen wie ein indischer Yogi nach oben, über dem Kopf berühren sich die Handflächen, dann atme ich ganz ruhig aus und die Arme senken sich langsam wieder, die Ellbogen nach außen gedreht, die Unterarme kommen in eine waagrechte Position vor der Brust. Das ist die ideale Ausgangsposition zum Fenstersitzen. Erst dann gehe ich ans Fensterbrett und starte in den Arbeitstag. Jetzt bin ich optimal vorbereitet und fühle mich jeder Herausforderung gewachsen. Selbst Wind und Wetter können mich nicht davon abhalten, meinen Platz am Fenster einzunehmen und die Arbeit gewissenhaft und konzentriert auszuführen. Wenn der Regen schräg aufs Haus prasselt, dann schütze ich mich durch eine spezielle, Wind und Regen abweisende Arbeitsjacke. Auch das Kissen erhält dann einen wasserfesten Bezug. Natürlich ist an solchen Tagen viel weniger los auf der Straße, es gibt nur wenig zu beobachten. Jetzt, während der Seuche, ist das ganz unabhängig vom Wetter immer der Fall. Das heißt jedoch nicht, dass ich in meiner Motivation und Konzentration nachlassen darf. Es ist durchaus möglich, dass selbst bei einem Hundewetter oder in der Krisensituation, wenn alle Menschen in den sicheren vier Wänden ausharren, etwas vorfällt auf der Straße. Dann muss man als Fenstersitzer aufmerksam und voll bei der Sache sein. Eine kleine Nachlässigkeit, eine kleine Unaufmerksamkeit kann den Erfolg eines ganzen Tages zunichtemachen.

»Nicht nachdenken und abschweifen, sondern konzentriert beobachten!«, so feuere ich mich immer wieder selbst an. Auch Eiseskälte im Winter ist für mich kein Grund, meine Arbeit zu quittieren und blau zu machen, die Arbeit Arbeit sein zu lassen und eine schöne Zeit in der warmen, gemütlichen Stube zu verbringen. Das kommt nicht in Frage. Denn zu den Eigenschaften eines ernsthaften Fenstersitzers zählen vor allem ein hohes Pflichtbewusstsein und ein starkes Verantwortungsgefühl. Ich könnte es mir sehr wohl auch einfach machen und den einen oder anderen Tag den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und sagen: »Sollen doch die anderen mal für alles sorgen und aufpassen!« Das widerstrebt mir zutiefst. Eine solche Einstellung wäre untragbar, das könnte ich vor mir selbst nicht verantworten. Ich könnte morgens nicht mehr in den Spiegel schauen, die Schuldgefühle würden mich innerlich zerreißen. Hinzu kommt noch, dass über die Jahre eine besondere Beziehung zu meiner Arbeit entstanden ist, eine besondere Beziehung zu der Straße, für die ich Verantwortung trage – es ist MEINE Straße, die Straße ist zu einem Teil von mir geworden, ihr guter Zustand und die Ruhe und Ordnung, die auf ihr herrschen, liegen mir am Herzen. Natürlich muss man dann höllisch aufpassen, über die Jahre nicht auszubrennen. Man muss eine innere Balance finden, die es einem erlaubt, auch eine so fordernde Aufgabe wie die des Fenstersitzens, eine Aufgabe, welche die Geduldsfähigkeit jeden Tag auf eine harte Probe stellt, voll und ganz anzunehmen und schließlich zu meistern.

Bevor ich ans Fensterbrett gehe und den Tag beginne, überprüfe ich noch einmal routinemäßig den korrekten Stand des Schemels vor der Fensterbank. Er muss exakt 26 cm vor dem Heizkörper stehen, damit ich noch bequem meine Oberschenkel zwischen Hocker und Heizkörper klemmen kann und die Kniescheiben in die Windungen des Heizkörpers einrasten. Zu viel Spiel darf dabei aber nicht sein, denn sonst rasten die Kniescheiben nicht richtig ein. Ich prüfe auch die korrekte Lage der beiden Sitzkissen auf dem Schemel, ein etwas größeres kommt direkt auf dem Hocker zu liegen, darauf ein kleineres, strafferes. Es hat sich im Laufe der Zeit herausgestellt, dass diese Kombination die beste ist, um nicht zu schnell zu ermüden und gleichzeitig die Rückenmuskulatur nicht zu sehr zu unterstützen und ihr dadurch alle Arbeit abzunehmen. Wenn alles seine Ordnung hat, schwinge ich mich in einer eleganten, mir ganz natürlichen Bewegung auf den Hocker, lasse die Kniescheiben einrasten und beginne meinen Tag an der Fensterbank. Ich habe die Unterarme vor die Brust genommen und die Ellbogen auf das Kopfkissen gestützt, das auf der Fensterbank platziert ist. Breitbeinig sitze ich nun auf dem Hocker, die Sitzhöhe stimmt exakt, über Stunden kann ich jetzt Augen und Ohren offenhalten.

Meistens erstelle ich eine Tagesliste beim Fenstersitzen. Ich führe genau Buch darüber, wie viele Menschen auf der Straße vorübergeeilt, wie viele LKW, Autos, Motorräder und andere Fahrzeuge an diesem Tag an meinem Fenster vorbeigerauscht sind. Mein Rekord steht bei 189 Fußgängern und 5169 Fahrzeugen – davon 3843 PKW, 1218 motorisierte Zweiräder, 37 Fahrräder, 49 LKW und 22 Busse. Es erfordert viel Geschick und eine vortreffliche Koordination zwischen Augen-, Kopf- und Schreibbewegungen, um alles unter Kontrolle zu haben, keine Fehler zu machen und trotzdem noch auf ein ungewöhnliches Ereignis vorbereitet zu sein und sich nicht davon überrumpeln und aus der Ruhe bringen zu lassen. Natürlicherweise hat sich bei mir dadurch über die Zeit eine starke Nackenmuskulatur entwickelt, denn ich muss, bin ich beispielsweise einem Motorradfahrer mit den Augen gefolgt, sofort umschalten und in der Gegenrichtung ein Auto ins Visier nehmen können, das gerade in meine Straße einbiegt. Unter Umständen öffnet dann im selben Moment noch jemand im Gebäude gegenüber im 5. Stock die Balkontür und ich muss blitzschnell den Kopf anheben, um das zu beobachten, gleichzeitig könnte direkt unter mir jemand aus dem Haus treten und die Straße überqueren, obwohl das gerade eingebogene Auto beschleunigt und auf den Fußgänger zurast. Ich muss also in der Lage sein, aus dem Stand heraus meine Blickrichtung zu ändern, die Kopfposition neu zu justieren, mich vor- und wieder zurückzubeugen – auch das Ende der Straße muss ich immer im Blick behalten, sowohl links als auch rechts. Deshalb kommt meiner Nackenmuskulatur eine wichtige Rolle bei der Ausübung meiner Tätigkeit zu. Sie schützt die Halswirbel, die durch die ständigen Drehbewegungen stark gefordert sind, vor einer verfrühten Abnutzung. Kommt es beispielsweise zu einer abrupten Drehbewegung von rechts nach links, weil vielleicht auf der linken Seite eine Person plötzlich aufgeschrien hat, dann kann die Nackenmuskulatur die unwillkürliche Drehung meines Halses abfedern und ein mögliches Schleudertrauma verhindern. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Lockerheit. Man darf es nicht zu Muskelverspannungen kommen lassen, sonst ermüdet man zu schnell, der Nacken verkrampft sich und man bekommt Probleme, die im schlimmsten Fall – arbeitet man nicht rechtzeitig dagegen an – zu einer Berufsunfähigkeit führen können. Eine lockere, gut ausgebildete Nackenmuskulatur ist das Erfolgsgeheimnis. So verfüge ich über eine ausgesprochen entspannte und gleichzeitig kräftige Nackenmuskulatur wie sie auch ein Schiedsrichter beim Tennis besitzt. Tatsächlich ist meine Tätigkeit mit der eines Tennisschiedsrichters vergleichbar. Auch ein Schiedsrichter beim Tennis muss in Bezug auf seine körperliche Fitness immer auf der Höhe sein und die Nackenmuskulatur auch abseits des Tennisplatzes im Training halten. Denn er muss, wenn das Spiel beginnt, sofort in der Lage sein, den Ballwechsel akribisch zu verfolgen und schnelle Drehbewegungen zu machen. Mit den Augen alleine schafft man das nicht, der ganze Kopf muss sich mit dem Ball mitbewegen. Wenn man bedenkt, dass ein Tennisspieler von hoher Qualität einen Tennisball auf bis zu 260 km/h beschleunigt, so kann man sich leicht vorstellen, wie sehr die Nackenmuskulatur des Schiedsrichters gefordert ist, wie schnell er reagieren muss. Im Grunde genommen muss er dem Ball immer einen Deut voraus sein, sein Gehirn berechnet den Punkt, an dem der Ball auf den Platz aufschlagen wird, schon im Voraus und seine Augen haben dort den Punkt bereits im Visier, wenn der Ball noch unterwegs ist, damit sie präzise erfassen können, ob der Ball beispielsweise über das Ziel hinausgeschossen und außerhalb des Spielfeldes, nach der Begrenzungslinie aufgekommen ist. Das kann man guten Gewissens als eine Meisterleistung des Schiedsrichters werten. Die Fähigkeit zu schnellen Kopf- und Augenbewegungen, eine starke Nackenmuskulatur, eine entspannte Haltung, äußerst bewegliche Halswirbel, vorausschauendes Denken und ein hohes Konzentrationsvermögen sind die Kennzeichen, die einen ausgezeichneten Tennisschiedsrichter genauso charakterisieren wie einen herausragenden Fenstersitzer.

Aber nicht nur der Kopf bewegt sich, mein ganzer Körper ist in ständiger Bewegung, sogar mehr als bei einem Tennisschiedsrichter. Im Grunde hat das Fenstersitzen als eine Sportart zu gelten. Anders als beispielsweise beim Schachspielen ist auch der Körper immer in Bewegung, würde man bewegungslos bleiben, wäre man schon nach kurzer Zeit ein körperliches Wrack, man könnte nicht mehr arbeiten. Man kann das Konzentrationsvermögen eines Fenstersitzers dem eines Schachspielers gleichsetzen, aber der Fenstersitzer ist dem Schachspieler, was die Physis angeht, weit überlegen. Durch eine bestimmte Technik, indem ich mein Körpergewicht im Sitzen auf die eine Seite des Musculus gluteus maximus verlagere und nach einer gewissen Zeit auf die andere Seite, vermeide ich eine auf Dauer schädliche einseitige Belastung durch unbewusstes, unkontrolliertes Sitzen. Der Körper darf beim Fenstersitzen niemals in eine Routine verfallen und über Stunden in nur einer Stellung verharren. Der Körper muss immer in Bewegung bleiben. Natürlich sieht man anhand meiner Kopfbewegungen, die für einen guten Fenstersitzer ja charakteristisch sind – der Kopf befindet sich immer in einer Drehbewegung –, dass ich noch am Leben bin. Aber auch der Rest des Körpers ist ständig in Bewegung, selbst wenn das ein Außenstehender nicht ohne Weiteres wahrnehmen würde. Ein schlechter Fenstersitzer ist vor allem daran zu erkennen, dass er wie leblos am Fenster sitzt und auf eine Stelle starrt – er wirkt wie ein ausgestopftes Tier an der Fensterbank. Würde mich jemand von hinten bei der Arbeit beobachten, beispielsweise am Türrahmen meiner Wohnungstür lehnend – was eine absurde Vorstellung ist, da niemals jemand meine Wohnung betritt –, so würde er, wäre er aufmerksam genug, die minimalen, aber entscheidenden Bewegungen meines Körpers bemerken – winzige Gewichtsverlagerungen im Musculus gluteus maximus oder ein leichtes Anspannen und wieder Entspannen der Oberschenkelmuskulatur. Selbst wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Mein Körper ist ständig in Bewegung. Das ist das Beste, um auch einer möglichen Analthrombose vorzubeugen. Eine Analthrombose ist die Berufskrankheit des Fenstersitzers. Wenn man nicht aufpasst und seinen Körper nicht ständig in Bewegung hält, dann kann es zu einer Analthrombose kommen. Ehe man sich’s versieht, ist man berufsunfähig und kann nicht mehr sitzen. Natürlich lässt sich meine Tätigkeit dann immer noch im Stehen ausführen, das wäre denkbar. Manchmal leiste ich das Fenstersitzen kurzzeitig auch im Stehen, um etwas Abwechslung in den Alltag zu bringen und einer Venenthrombose in den Beinen vorzubeugen. Aber es hat sich herausgestellt, dass ein Fenstersitzen im Stehen nicht dieselben Ergebnisse bringt wie das klassische Fenstersitzen. Die Konzentrationsfähigkeit leidet, wenn man zu lange steht. Das mag damit zusammenhängen, dass man nur im Sitzen die nötige innere Ruhe aufbauen kann, die für das Fenstersitzen unbedingt erforderlich ist. Im Stehen wird man fahrig und nervös, man ist immer irgendwie auf dem Sprung, während man im Sitzen seine innere Balance finden kann und viel mehr bei der Sache ist. Es gibt ja schließlich auch keinen stehenden Buddha. Einen echten Buddha stellt man sich immer als einen sitzenden Buddha vor. Außerdem gehört es zur Berufsehre, dass man als Fenstersitzer am Fensterbrett sitzt und nicht steht. Umso wichtiger ist es, während des Sitzens den Körper ständig in Bewegung zu halten und diese kleinen Bewegungen in den unterschiedlichsten Muskelgruppen zu einer Gewohnheit werden zu lassen, sie zu verinnerlichen, so dass man überhaupt nicht mehr darüber nachdenken muss und sich allein auf das Fenstersitzen konzentrieren kann. So ist es auch mit der Nackenmuskulatur. Man muss sie während der Arbeit immer wieder lockern, das geschieht bei einem erfahrenen Fenstersitzer ganz automatisch. Natürlich ist meine Nackenmuskulatur während der Seuche weniger gefordert als sonst, denn aufgrund der Kontaktsperre sind weniger Menschen auf der Straße unterwegs. Ich muss deshalb gerade jetzt darauf achten, nicht aus der Übung zu kommen und die Nackenmuskulatur in Form zu halten. Manchmal ist man versucht, sich einen faulen Lenz zu machen, die Nackenmuskulatur bildet sich zurück und plötzlich passiert etwas auf der Straße und man kann dem Geschehen nicht schnell genug folgen. Man fühlt sich dann wie jemand, der nach sechs Wochen den Gips an seinem Bein abgenommen bekommt und dieses dann nicht mehr zum Laufen einsetzen kann, weil es fast die Hälfte seiner Muskulatur eingebüßt hat. Deshalb darf man als Fenstersitzer bei weniger Aufkommen auf der Straße nicht nachlässig werden und die Sache schleifen lassen. Wenn wenig passiert, könnte man sich in trügerischer Sicherheit wiegen und wäre versucht, unaufmerksam zu werden. Das ist ein typischer Anfängerfehler beim Fenstersitzen.

Der Corona-Mann

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