Читать книгу Der Corona-Mann - Rainer M. Rupp - Страница 6
ОглавлениеDie Stuhlgänger
Gerade vor ein paar Tagen ist es vorgekommen, dass plötzlich eine 12er-Toilettenpapierpackung, 4-lagig, direkt unter meinem Fenster vorbeigeschwebt ist. Fast zu spät habe ich sie bemerkt. Aus dem Nichts heraus war sie von links aufgetaucht und als sie mein Fenster passiert hatte, bemerkte ich erst die zwei Beine unter dem Toilettenpapier. Sie gehörtem jemandem mit dicken Waden, der auf dem Kopf gleich drei übereinandergeschichtete 12er-Toilettenpapierpackungen balancierte, wie ich dann bemerkte. Die Packungen hingen nach hinten runter und verdeckten seinen Rücken, so dass ich tatsächlich nur die Füße und Waden des Hamsterkäufers sehen konnte. Als ich den federnden Gang der Person musterte, fiel mir automatisch das Wort ‚Stuhlgang‘ ein und ich rief der Person hinterher: »Wünsche einen guten, von Erfolg gekrönten Stuhlgang!« Die Person drehte sich kurz zur anderen Straßenseite, konnte aber aufgrund des vorne überragenden Toilettenpapierdachs nicht nach oben schauen, entdeckte niemanden und setzte ihren Gang beschleunigt fort. Ich vermute, dass eine schwere Diarrhoe ihr Eile gebot. Wenn es demnächst vielleicht tatsächlich kein Toilettenpapier mehr zu kaufen gibt – trotz aller Gegenbeteuerungen der Regierenden, die man im Fernsehen hören kann –, könnte das den Untergang des Abendlandes noch beschleunigen. Ich habe schon darüber nachgedacht, mir bei einem eklatanten Toilettenpapier-Engpass ein Zubrot zu verdienen und ein Schild außen ans Fensterbrett zu hängen, für jeden auf der Straße gut sichtbar: ‚Klopapier günstig abzugeben, nur einmal benutzt, 1 Euro pro Blatt.‘ Allerdings befürchte ich, dass mich dann sehr viele Leute von der Straße hoch mit Bestellungen zubrüllen würden. Es könnte sogar zu einem Massenauflauf kommen. Die Leute würden bei so einem Angebot alle Abstandsregelungen vergessen, nur noch die eigene Gier nach Toilettenpapier würde sie antreiben. Dann müsste ich natürlich die Polizei einschalten, die mir die zukünftige Verwendung des Schildes jedoch untersagen würde. Im schlimmsten Falle könnte sie mir sogar die Ausübung des Fenstersitzens verbieten. Ich würde mich damit also selbst ruinieren. Das Risiko ist zu groß und deshalb verzichte ich lieber auf das Zubrot. Die Nachbarin am Fenster unter mir, Frau Holderbach, hatte meine Reaktion auf den Toilettenpapierhamsterkäufer mitbekommen, beugte sich über ihr Fensterbrett nach vorne und überstreckte den Hals, indem sie den Kopf nach oben drehte und zu mir hochkreischte:
»Das ist ja eine Scheiße mit dem Klopapier – was sind das für Leute, die Klopapier hamstern?« Ich antwortete ihr, indem ich mich ebenfalls vorbeugte: »Das sind Leute wie Sie und ich – aber regen Sie sich nicht auf, Frau Holderbach, wenn so ein Arschloch Klopapier hortet. Denn Sie wissen doch: Arschlöcher müssen immer zuerst mit Klopapier versorgt werden! Nein, im Ernst, Frau Holderbach, es ist einfach so, dass die Seuche die Persönlichkeit eines Menschen deutlich zum Vorschein bringt und offenbart, dass viele in der analen Phase steckengeblieben und auf anale Ereignisse fixiert sind und diesen Ereignissen mit einer gewissen Faszination, mit Staunen oder sogar Vorfreude entgegensehen, andererseits aber große Angst vor einem unkontrollierten Stuhlgang haben. Dieser Widerspruch stellt für viele Zeitgenossen eine unüberbrückbare Ambivalenz in ihrer Existenz dar, die durch den unmäßigen Kauf von Toilettenpapier nicht zu lösen, sondern allenfalls zu vertuschen wäre. Die Vorstellung, dass sich ein Stuhlgang ankündigt und es kein Toilettenpapier im Haus gibt, bedeutet für die meisten Menschen, die in der analen Phase steckengeblieben sind, ein echtes Horrorszenario, denn sie können den Widerspruch zwischen Begeisterung und Angst nicht auflösen. Sie sind innerlich Zerrissene. Im Grunde liegt diesem Phänomen ein Paradoxon zugrunde. Wenn man das als eine Geschichte erzählen wollte, so würde sie in einer Aporie enden!«
Der vollkommen sprachlosen Frau Holderbach stand der Mund offen und ich habe noch Sekunden nach meiner Rede in ihren weit geöffneten Rachen blicken können und bei dieser Gelegenheit alle Plomben sowie kariösen Zähne registriert und gezählt und die Zahlen dann auf meiner Liste vermerkt, nachdem ich mich unverzüglich wieder in meine ursprüngliche Grundposition am Fensterbrett begeben hatte, um mich nach dieser kurzen Konversation wieder den Ereignissen auf der Straße zuzuwenden.
Trotzdem ist das Wehklagen von Frau Holderbach nachvollziehbar und vollkommen berechtigt. Umso mehr, als ich in den darauffolgenden Tagen viele übereinandergeschichtete Toilettenpapierpackungen durch meine Straße habe wandern sehen. Sie bewegen sich wie auf dem Rücken von Blattschneiderameisen unter meinem Fenster vorbei. Ein Strom von Toilettenpapierhamsterern schiebt sich inzwischen durch meine Straße. Eine lästige Ameisenstraße ist hier entstanden. Es gibt kaum etwas, was mich nach 12 Jahren Fenstersitzen noch erschüttern oder in Erstaunen versetzen kann, aber diesen Anblick von Dutzenden von Blattschneiderameisen, die Toilettenpapier in ihren Bau schleppen, musste ich erst einmal einordnen und verstehen. Am Anfang habe ich den Blattschneiderameisen unter dem schwebenden Toilettenpapier noch einen wohlgemeinten Ratschlag hinterhergerufen – sie sollen einfach weniger essen, das würde automatisch die Häufigkeit des Stuhlgangs reduzieren und einen Hamsterkauf überflüssig machen. Aber ich bin schnell davon abgekommen, meine Ratschläge liefen ins Leere, am Ende folgten die Ameisen nur ihrem Instinkt.