Читать книгу Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier - Rainer Moritz - Страница 5
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ОглавлениеSelten, dass ihm seine Mutter schrieb. Zu Ostern oder zu seinem Geburtstag vielleicht, wenn er nicht auf Besuch kam. Als er an einem Januarmorgen den Brief zwischen dem Prospekt eines Pizza-Lieferdienstes und einer Mitteilung der Hausverwaltung herausfischte, erkannte er ihre Handschrift gleich. Die runden, zierlichen Bögen, die sich auf dem quadratischen Umschlag zu verstecken schienen, das Hellblau des Kugelschreibers, der auf dem Sekretär seiner Mutter seit Jahr und Tag an derselben Stelle lag, die schräg aufgeklebte Briefmarke und das „Dipl.-Ing.“ vor seinem Namen … unnötig, nach einem Absender zu suchen. Und zwecklos wäre das zudem gewesen, denn seine Mutter empfand es als unnötige Zeitverschwendung, ihre Adresse auf Umschlägen zu hinterlassen. Auf ihren gefütterten Umschlägen selbstverständlich, eine andere Sorte verwendete sie nicht, als ob die Briefe im kalten Briefkasten gewärmt werden müssten. Niemanden gehe es etwas an, dass sie jemandem einen Brief schreibe, und den Postboten zweimal nicht. Auf den Absender grundsätzlich zu verzichten brachte den Vorteil mit sich, dass keiner ihr vorwerfen könne, die Angabe vergessen zu haben.
Sie vergaß viel, was nichts mit ihrem fortgeschrittenen Alter zu tun hatte. Nein, Mutter, bei dir ist das kein Anzeichen von ersten Demenzerscheinungen, schusselig warst du schon als junge Frau und als Mädchen vermutlich auch. Sie schüttelte unwirsch den Kopf, wenn ihre Kinder so mit ihr sprachen. Ich hab halt immer viel zu tun, fix muss es gehen, da kann man nicht an alles denken, und die wichtigen Sachen vergesse ich nicht, keine Sorge.
Es hatte keinen Zweck, ihr zu widersprechen. Seine Schwester und er sahen sich an, und jedem fiel etwas anderes ein: die Badesachen, die im Urlaubskoffer fehlten, die Hefe, die es zum Kuchenbacken gebraucht hätte, oder die nicht abgelösten Preisschilder auf den Weihnachts- und Geburtstagspäckchen.
Er blieb im Hausflur stehen, ärgerte sich über die trübe Deckenleuchte, die seit Wochen flackerte, und riss den Umschlag mit einem Ruck auf. Ein Zeitungsausschnitt fiel zu Boden, die Karte mit dem in altmodischer Kursivschrift eingedruckten Namen seiner Mutter bekam er gerade noch zu fassen: „Lieber Konrad! Heute stand diese Todesanzeige in der Zeitung. Vielleicht interessiert sie dich. An Fräulein Schneider erinnerst du dich, oder? An Weihnachten hast du sie immer besucht. Und dann wurde sie sogar berühmt. Melde dich mal wieder. Mutti.“
Fräulein Schneider … ja, Fräulein Schneider aus der Mörikestraße, natürlich! Er hob das Stück Zeitung auf, eine Anzeige im kleinstmöglichen Format, aufgegeben von der Firma für Industrie- und Baubedarf, für die sein Vater ein halbes Leben gearbeitet hatte. Man betrauere den Tod von Fräulein Elfriede Schneider, die bis zu ihrem Ruhestand siebenundzwanzig Jahre in der Buchhaltung des Unternehmens gearbeitet habe, und werde ihr ein ehrenvolles Andenken bewahren. Am 23. Dezember war sie verstorben, im Alter von achtundneunzig Jahren, wie Konrad ausrechnete. Ein pflichtbewusstes Erinnern ihres alten Arbeitgebers. Anzeigen von Verwandten oder Freunden schien es nicht gegeben zu haben, die hätte ihm seine Mutter mitgeschickt. Die Beerdigung musste schon stattgefunden haben. Ob sie auf dem Hauptfriedhof begraben worden war?
Er lehnte sich an die grünweißen Fliesen des Hausflurs und begann zu lächeln. Wann hatte er zum letzten Mal an Fräulein Schneider gedacht? Fräulein, ja, Fräulein, komisch, dass man selbst in der Todesanzeige nicht auf diese ganz aus der Mode gekommene Anrede verzichtet hatte. Als ob die Firma es selbst nach so vielen Jahren nicht wagte, von einer Frau Elfriede Schneider zu reden, als fürchtete man ihren Zorn noch aus dem Jenseits. Es gefiel ihm, an sie zu denken, er brauchte sich nicht anzustrengen, um ihr Gesicht vor sich zu sehen. Sein Körper straffte sich, er fühlte sich ein Vierteljahrhundert jünger, er meinte, kurze Hosen an seinen Beinen zu spüren, obwohl Fräulein Schneider ihn nie in kurzen Hosen zu Gesicht bekommen hatte. Wie einfach es war, seine Erinnerung anzuknipsen, selbst bei dem flackernden Licht im wie immer zugigen Hauseingang …
Fräulein Schneider, eine ungewöhnliche Frau, nicht zu vergleichen mit denen aus der Nachbarschaft. Das Fräulein Schneider, wie die Eltern sagten. Als wäre sie ein Neutrum oder zumindest ein Unikum gewesen. Das Fräulein Schneider freut sich, wenn du kommst. Und bedank dich schön …