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Vater erzählte wenig von seiner Arbeit, und wenn er seinen Ärger beim Abendessen loswerden musste, hörte ihm Konrad nicht zu und achtete lieber darauf, dass ihm seine Schwester nicht das letzte Stück Fleischwurst vor der Nase wegschnappte. Was kümmerten ihn Vaters Auseinandersetzungen mit Kunden, die mit den gelieferten Heizungen oder Sanitäranlagen unzufrieden waren und reklamierten. Oder sich über das Nichtfunktionieren der frisch eingebauten Sicherheitstechnik beschwerten, bei Vater, der eine Art Vorgesetzter war für die im Außendienst Beschäftigten. Auf komplizierte Schließsysteme und Alarmanlagen hatte sich Vaters Firma neuerdings spezialisiert, was Konrad neugierig machte, denn von Einbruch und Diebstahl handelten die Fernsehkrimis im Vorabendprogramm, die er manchmal sehen durfte.

Weil Vater so etwas wie ein Abteilungsleiter war, hatte er eine Sekretärin, die allerdings auch für andere Vorgesetzte oder Abteilungsleiter arbeitete. Frau Brenninger hieß sie und zählte zu den wenigen Kolleginnen und Kollegen, von denen Vater zu Hause erzählte. Wenn er die Herren Sieloff, Hägele oder Sawitzki erwähnte, dann meistens in ungehaltenem Ton. Als wären das samt und sonders Unfähige, die den Erfolg der Firma beeinträchtigten und die Zeichen der Zeit nicht erkannten. Ganz zu schweigen von Doktor Förster, einem Akademiker, einem Theoretiker, der von der Praxis keine Ahnung hatte und Vater jede Woche Optimierungsideen unterbreitete. Ein Doktor, der kein Mediziner war, das zählte in Vaters Augen nichts.

Mit den Sieloffs, Hägeles oder Sawitzkis wollten Vater und Mutter privat nichts zu tun haben. Allenfalls die Küblers kamen drei-, viermal im Jahr zum Abendessen, wahrscheinlich weil Herr Kübler in einem ganz anderen Bereich arbeitete und mit Vater in der Firma kaum etwas zu schaffen hatte.

Und Fräulein Schneider aus der Buchhaltung. Sie musste Jahre vor Konrads Vater in die Firma eingetreten sein und genoss einen legendären Ruf. Eine Frau, die sich offenkundig nie darum bemüht hatte, einen leitenden Posten zu übernehmen und als stellvertretende Buchhaltungsleiterin zusah, wie diejenigen, die an ihr vorbeigezogen oder von auswärts gekommen waren, alsbald resignierten und die Firma wieder verließen. Männer allesamt, denn es war selbstverständlich, dass ein gestandener Mann der Buchhaltung eines so bedeutenden Unternehmens vorzustehen hat. So zumindest pflegte Fräulein Schneider sich zu erklären, wenn die Geschäftsführer ihr die Leitungsstelle antrugen. Nein, das traue sie sich nicht zu, sie arbeite gern im Windschatten. Zudem sei sie eine alleinstehende Frau mit vielerlei Interessen, die sich von der Berufstätigkeit nicht auffressen lassen wolle. Keiner wusste freilich, ob Fräulein Schneiders treuherzigem Augenaufschlag zu trauen sei.

So blieb sie die ewige Stellvertreterin und erfuhr stillschweigend Wertschätzung von allen Seiten. Ja, manche fürchteten sie, wenn ihr Adlerblick fehlerhafte Rechnungen zurückgehen ließ und sie von der weiteren Zusammenarbeit mit Firmen ohne Zahlungsmoral abriet. Fräulein Schneider offen zu widersprechen wäre niemandem in den Sinn gekommen.

Zu Konrads Vater schien Fräulein Schneider Zutrauen gewonnen zu haben. Vielleicht weil er wie sie von der Schwäbischen Alb stammte, genauer vom Fuße der Schwäbischen Alb. Uns kann man nichts vormachen, betonte sie, wenn einer wie Doktor Förster versuchte, ihnen die Welt zu erklären. Dann lachte sie laut auf, ein dröhnendes, schepperndes Lachen, das so schnell abklang, wie es losgebrochen war, und in einem japsenden Schlucken endete. Wenn Fräulein Schneiders Lachen durch die Kantine oder das Treppenhaus zog, sahen die meisten beiseite und scheuten sich danach zu fragen, wem dieser leicht grollend-hämische Ausbruch galt. Die Gefahr, dass man selbst gemeint sein könnte, war nicht gering.

Fräulein Schneider galt nicht nur als Expertin in Buchhaltungsfragen. Sie verstand auch etwas von Automobilen und wurde von den Chefs um Rat gefragt, wenn es um die Anschaffung neuer Dienstwagen ging. Welchem Mercedes-Modell solle man den Zuschlag geben und in welcher Ausstattung? Fräulein Schneider fuhr einen himmelblauen Käfer Cabrio 1303 mit Weißwandreifen, der, wie Konrads Vater erzählte, jedes Mal Aufsehen erregte, wenn sie ihn in vorderster Reihe auf dem Firmenparkplatz abstellte und betont langsam ausstieg. Im Sommer trug sie eine aus der Zeit gefallene dunkelbraune Lederkappe, die unter dem Kinn festgeschnallt wurde. Sie sah damit aus wie eine Figur aus einem Heinz-Rühmann-Film, Bruchpilotin Schneider, wie einige sie hinter vorgehaltener Hand nannten.

Und nicht zuletzt hatte sie sich einen exzellenten Ruf als Fachfrau für Fußballfragen erworben. Dass die sich dafür interessiert, hatte Konrads Mutter kopfschüttelnd angemerkt, als sie hörte, wie die Männer in der Firma sich montags mit der Buchhalterin über die aktuellen Bundesligaergebnisse und die Höhepunkte der unteren Ligen unterhielten. Dem Fräulein Schneider kann man nichts vormachen, hieß es, sie hatte alle Tabellen und Aufstellungen selbst der niedersten Klassen parat und wusste genau, was von diesem Spieler und jenem Trainer zu halten war. Und vor allem ging sie bei jedem Wind und Wetter zu den Heimspielen ihres Clubs, des Vereins für Rasenspiele. Einen Regenschirm in der Hand, einen Fanschal um den Hals, stieg sie um die Mittagszeit in den Bus, um rechtzeitig ihren Platz im Kassenhäuschen einnehmen zu können.

Fräulein Schneider verkaufte Eintrittskarten. Mitglieder, Rentner und Schüler ermäßigt, sie achtete sorgfältig darauf, dass keiner sie beim Wechselgeld über den Tisch zog. Ihre Kasse stimmte immer, und wenn um 15 Uhr das Spiel angepfiffen wurde, faltete sie das Rollo herunter und stürmte zu ihrem Stammplatz in der Ostkurve, wo sie von einer Handvoll Männer, die sie nur auf dem Sportplatz sah, mit lautem Hallo begrüßt wurde. Längst hatte die eingeschworene Truppe Fräulein Schneider in ihren Kreis aufgenommen. Wer am Anfang über die korpulente Frau mit Schal gelächelt hatte, gab das spätestens auf, wenn sie eine knifflige Abseitsentscheidung fachkundig erklärte und so die Besserwisser zum Schweigen brachte. Allzu viele waren es nicht mehr, die die Spiele des Vereins sehen wollten. Die Übriggebliebenen verloren sich im Rund des inzwischen viel zu großen Stadions, zu lange, über zehn Jahre, lag die glanzvolle Ära des Vereins zurück. Damals, als man fast in der höchsten Spielklasse antrat und im Pokal zum Schrecken der Großkopfeten, der Spitzenclubs aus der Bundesliga, geworden war. Natürlich besaß Fräulein Schneider schon zu diesen seligen Zeiten eine Dauerkarte und hätte eher alle Wein- und Volksfeste ausgelassen als eine Partie ihrer Rasenspieler.

Fräulein Schneider und der Fußball, das war eine lang anhaltende Liebesbeziehung. Am Kartenschalter lernte Konrad sie kennen, als er mit acht oder neun Jahren erstmals allein ins Stadion ging. Schau, ob du das Fräulein Schneider siehst. Und sie war leicht zu erkennen, denn in den anderen Häuschen saßen ausschließlich Männer, Rentner meistens. Fräulein Schneider lachte auf, wenn sie Konrad erkannte, winkte ihm durch die Plexiglasscheibe zu, schob ihm augenzwinkernd eine Eintrittskarte hin und dazu ein Zwei-Mark-Stück. Fußball ohne Bratwurst, das geht nicht, sagte sie, viel Spaß, Junge, auf dass wir heute die Punkte einfahren. Seinen Eintritt bezahlte sie offenbar aus eigener Tasche. Wahrscheinlich verstand sie das als Nachwuchsförderung. Und dass er der Sohn eines Arbeitskollegen war, der widerspruchslos ihre buchhalterischen Anmerkungen akzeptierte und zudem vom Fuße der Schwäbischen Alb stammte, war für sie ein gutes Omen – und auch für ihren Verein. Überdies galt es zu verhindern, dass der Junge zum Lokalrivalen überlief, unbedingt.

Fräulein Schneider und das Weihnachtsturnier

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