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1. Die Gesundheitspolizisten der Lüfte

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Wir Geier sind es gewohnt, dass die Besucher uns anstarren wie Aliens aus dem Weltall und uns ungefragt mit ihren Smartphones fotografieren. Dabei haben wir wie die Menschen das Recht am eigenen Bild. Zumindest hätten wir die Fotos gern gesehen, bevor Papierbilder von uns gemacht oder gar veröffentlicht werden. Am Kopf sehen wir manchmal recht strubbelig aus. Da hätten wir uns gern vorher ein wenig gestylt.

Wir schlucken zwar, wenn die holländischen Besucher uns nicht bei unserem ehrbaren Namen „Mönchsgeier“ oder dem wissenschaftlichen „Aegypius monachus“ nennen, sondern „zwarte Gier“ sagen, aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu dem schlechten Spaß, den sich neulich eine Schulklasse erlaubt hat. Die Schüler sind einfach über den Zaun geklettert, obwohl es verboten ist, und haben sich direkt vor unserer Voliere ein kleines Quizduell mit Schimpfworten und Redensarten über Geier geliefert. So, als seien wir vogelfrei und jeder dürfe uns beleidigen.

Wieso sagen viele „Weiß der Geier?“, was soviel heißt wie „Weiß der Teufel?“. Als seien wir Mönchsgeier Teufel. Und warum reden manche von „Finanzgeiern“ oder, wenn ein Geschäft danebengegangen ist, von „Pleitegeiern“? Wir sind nicht profitgierig und nicht für das Scheitern von Geschäftsleuten verantwortlich.

„Sich wie Geier auf etwas stürzen“ soll wohl die uns nachgesagten schlechten Tischsitten oder unsere Gier beschreiben. Aber wenn ihr tagelang nichts zu essen bekämt und mordshungrig wäret, wolltet ihr dann nicht auch, dass euer Magen nicht länger knurrt und ihr endlich etwas zwischen den Zähnen hättet? Ich gebe zu, fair mit anderen zu teilen wäre besser, aber wenn sich unsere Nahrungskonkurrenten wie andere Greifvögel und Füchse nicht daran halten, geht es um das nackte Überleben. Dann ist sich jeder selbst der Nächste. Auch bei euch Menschen wäre das nicht anders. Ich weiß, wir sind keine Sympathieträger.


Die Kasselburg

Der Fluch „Hol dich der Geier“ schmeichelt uns nicht. Aber ob wir so viel Antipathie verdient haben, wie unsere Verleumder zeigen, bezweifele ich. Es ist für unsere Freunde, die Bartgeier, nur ein kleiner Trost, dass man sie heute kaum noch „Lämmergeier“ nennt. Diese Bezeichnung war nichts als üble Nachrede. Die Bartgeier haben weder Lämmer aus Schafherden geschlagen noch Hütejungen angegriffen. Das sind Schauergeschichten, so abscheulich wie die Gemälde, auf denen Bartgeier Menschenbabys aus Kinderwagen rauben. Alles erstunken und erlogen. Ein böser Vorwand, um Bartgeier abzuschießen und in vielen Gegenden auszurotten.

Die Redensart „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich gänzlich ungeniert“ trifft auf uns jedenfalls nicht zu. Wir hungern sehr häufig und leiden bittere Not. Ja, es stimmt, wir Mönchsgeier sind wie die Bartgeier, Gänsegeier und Schmutzgeier alle Aasgeier. Den Namen „Mönchsgeier“ oder „Kuttengeier“ hat man uns gegeben, weil unser graubrauner Federmantel so aussieht wie das Gewand eines Mönchs. Wir Mönchsgeier haben eine Flügelspannweite von fast drei Metern und sind massiger als die Bartgeier, bis zu 12 kg schwer. Große Mönchsgeier sind so groß wie kleine Andenkondore. Wir Mönchsgeier gehören zu den Altweltgeiern, weil wir nur in der alten Welt, in einigen Ländern Asiens und Süd-Europas beheimatet sind. Die Weibchen sind in der Regel größer als wir. Aber deshalb haben wir keine Komplexe. Wer das starke Geschlecht unter uns Mönchsgeiern ist, entscheidet sich wie bei den Menschen erst in der Ehe.

Wir sind Hangsegler, nutzen die Thermik, die Aufwinde und würden Segelflugwettbewerbe gewinnen. Unsere Augen sind so gut wie Adleraugen. Das hilft uns in unserem Job, denn wir räumen die Natur auf. Wir sind die Putzkolonne. Wir „Aasgeier“ beseitigen Tierkadaver. So verhindern wir, dass sich Infektionen, Krankheiten und Seuchen ausbreiten. Dafür sorgen wir - die Gesundheitspolizisten der Lüfte. Wenn wir nicht wären, würden die Menschen, um sich nicht selbst zu gefährden, mit hohen Kosten verendete Tiere entsorgen müssen. Und ob dies so schnell passieren würde wie durch uns Geier, wage ich zu bezweifeln. Man nennt uns auch die „Biobestatter“ oder gar „Hygieneengel der Natur“ (Video V 10). Das gefällt mir besser.

Was ich für euch bin, solltet ihr erst entscheiden, wenn ich euch von meiner Flucht aus einem Greifvogelpark und von meinem abenteuerlichen Leben erzählt habe. Ich lebe mit zwei anderen Mönchsgeiern im Adler- und Wolfspark auf der Kasselburg bei Pelm/Gerolstein in der Eifel (Video V 3).

Warum ich geflohen bin? Ich war damals noch ein junger Geier voller Neugier. Auch Mönchsgeier träumen manchmal und machen sich Illusionen. Besonders dann, wenn sich jene wenigen Geier, die mit den warmen Sommersüdwinden nach Deutschland gesegelt sind, auf den Rückweg nach Südeuropa machen. Eines Herbsttages, die Nächte wurden schon kühl und die Blätter fielen von den Bäumen, stand vor unserer Voliere ein junges hübsches Mädchen. Sie sang mit heller Stimme und voller Sehnsucht das Lied von Reinhard Mey „Über den Wolken“, den Refrain habe ich bis heute nicht vergessen. Er lautet, falls ihr ihn nicht kennt, so: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen. Und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein“.

Von wegen! Auch die Freiheit über den Wolken hat ihre Grenzen. Manchmal für uns tödliche Grenzen. Man nennt uns die „Könige der Lüfte“. Ich will nicht zuviel vorwegnehmen. Ihr werdet noch erfahren, wie dreckig es Königen gehen kann.

Ich gebe zu, ein wenig geflunkert habe ich manchmal. Wenn ihr ehrlich seid, tut ihr es zuweilen auch. Aber was ich euch erzähle, ist nicht reine Fantasie, sondern eine Lebensgeschichte, die der Wahrheit sehr nahe kommt. Wie nah, das könnt ihr entscheiden, wenn ihr die Videos angeschaut habt, die ich im Schlusskapitel nenne. Ich wünsche euch viel Spaß.

Eine Bitte habe ich: Ihr solltet nicht fluchen. Wenn ihr dennoch hin und wieder fluchen müsst, lasst uns Geier außen vor. Wir haben diese Flüche wirklich nicht verdient.

Euer Geier Georg

Schaut doch einmal die Quelle 15 und Video V 4 an

Geier Georg auf der Flucht

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