Читать книгу Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf - Страница 11

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In den Bestseller-Listen stehen die Bücher von Hans-Olaf-Henkel im Januar und Februar 2010 auf einem der vorderen Plätze, unter den Wirtschaftsbüchern auf Platz eins. Sein sechstes Buch geht weg wie warme Semmeln.

Den Erfolg kann sich Henkel selbst nicht so recht erklären. Für das Buch wird nicht stark geworben. Den Leitmedien der Nation ist es nur Kurzrezensionen wert, einige ignorieren es. Vielleicht liegt es am Titel, meint der bald siebzigjährige Autor. „Die Abwracker“ hat Henkel sein Buch zur Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 genannt. Der Heyne-Verlag hat die Unterzeile hinzugefügt: „Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen“.

Das Buch ist eine scharfsinnige Analyse der Ursachen der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und eine knallharte Abrechnung mit Versagern unter Staatsbankern, Politikern, Spitzenbeamten und Managern. Henkel weist ihnen einen neuen Platz in der Gesellschaft zu: Die Hall of Shame.

Es ist ihm gleich, ob den von ihm Angeklagten die Scham- oder Zornesröte ins Gesicht steigt. Er bekennt sich zu seiner Subjektivität, der Innenansicht einer Krise, die er als Privatmann und als Aufsichtsratsmitglied großer Unternehmen miterlebt hat. Dieses persönliche Erleben der Krise, der Verführungen, der Verantwortungslosigkeit, der Überforderung und Fehlentscheidungen, erzählt im fesselnden Ich-Stil, macht „Die Abwracker“ spannend wie einen guten Kriminalroman.

„Im Auge des Hurrikans“ wollte Henkel das Buch zunächst nennen, aber als die Abwrackprämie fast zum Unwort des Jahres 2009 geworden wäre, fand er „Die Abwracker“ besser. Die politische Klasse kommt darin schlecht weg. Henkel sieht sie in der Verantwortung für das drohende Platzen der „Beschäftigungsblase“, der „Schuldenblase“, der „Sozialversicherungsblase“ und auch dafür, dass sein 13-Punkte-Reformprogramm wohl in der Ablage verschwinden dürfte.

Um „politische Korrektheit“ hat sich Henkel nie geschert, obwohl ihm die Reaktionen auf seine zuweilen provozierenden und polarisierenden Äußerungen nicht gleichgültig sind. Nach dem Erscheinen der „Abwracker“ hat ihn, obgleich er keine E-Mail-Adresse angegeben hat, eine Welle elektronischer Post überflutet. Er hat viel Zustimmung, aber auch üble Beleidigungen erhalten. Henkel tröstet sich damit, dass diejenigen, die ihn verunglimpfen, das Buch nicht gelesen haben.

Henkel liebt es trocken und direkt. Er weiß zuzuspitzen, spricht und schreibt Klar-Text, nicht um Auflage zu machen, sondern um aufzurütteln. Der ehemalige IBM-Top-Manager und frühere Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie ist ein bekennender Neoliberaler. Er ist Verfechter einer wertgebundenen, Regeln setzenden Ordnung, einer Wirtschaftsordnung der verantworteten Freiheit, in der sich Fürsorge für die Gesellschaft und die Freiheit die Waage halten. Ohne marktwirtschaftliche Befreiung können nach seiner Auffassung die Volkswirtschaft und die Gesellschaft nicht gesunden.

Mit dem scharfzüngigen Kämpfer für eine Marktwirtschaft ohne Attribute und Streiter gegen den Neosozialismus liegen viele über Kreuz. Es sind gerade die Reibflächen, die Henkel bietet, die ihn zu einem begehrten Gast in den Talkshows der Nation machen. An diesen Reibflächen lässt sich eine heiße Diskussion entzünden. Das schätzen die Dramaturgen der Shows. Wenn dann noch jemand das Charakterfach des kompromisslosen Marktwirtschaftlers so beherrscht wie Henkel und kämpft wie der letzte Samurai, ist er für die Regie eine Pflichtbesetzung. Es findet sich auch kaum ein anderer Wirtschaftssprecher, der es in der freien Rede mit Henkel aufnehmen könnte. „Der deutsche Vorstandschef“, spottet Henkel, „trennt sich eher von seiner Frau als von seinem Manuskript“.

Manche Menschen tragen einen Kompass in sich. Er hilft ihnen, ihr Leben lang Kurs zu halten. Für Henkel ist dies die Suche nach Freiheit. Sie steckt hinter der Auflehnung des kleinen Jungen gegen seine Mutter, hinter dem Aufbegehren gegen die Internatslehrer, hinter dem Abweichen von vorgezeichneten Karrierewegen. Henkel braucht zur Entfaltung seiner Talente und Fähigkeiten Freiräume so nötig wie Fische das Wasser. „Freiheit ist eine Macht, die nur der entdeckt, der sie sich erarbeitet“, schreibt Henkel in seinen 2001 erschienen Erinnerungen. Er hat seine bei Econ verlegten Memoiren – seinen ersten Bestseller – mit dem Titel „Die Macht der Freiheit“ versehen. Diese Erinnerungen, viele Interviews und Moderationen aus meiner Chefredakteurszeit sowie ein Anfang Februar 2010 geführtes, mehrstündiges Gespräch bilden die Grundlage für dieses Porträt.

Henkel akzeptiert das Etikett des „Freiheitskämpfers“ noch aus einem anderen Grund. Es passt für ihn auch, weil er sich als Mitglied von amnesty international für die Freiheit anderer Menschen engagiert, viele Petitionen geschrieben hat und weil er überzeugt ist, dass Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 2000 hat er statt persönlicher Geschenke um Spenden für ai gebeten. 130 000 D-Mark sind zusammengekommen. Das in dem Wort „Freiheitskämpfer“ mitschwingende Pathos mag er allerdings nicht. Dazu ist er zu sehr Hanseat.

Über Henkels Kindheit liegt wie ein dunkler Schatten der frühe Tod des geliebten Vaters. Hans Henkel wird nur 39 Jahre alt. Das Glück, das der Vater mit seiner kleinen Familie und der florierenden Generalvertretung für Papierbedarf hat, endet abrupt. Hans Henkel stirbt im Januar 1945 im Kessel von Budapest. Als Hans-Olaf Henkel Jahre später erfährt, dass sein Vater auf dem Gräberfeld des Budapester Zentralfriedhofes zusammen mit neuntausend deutschen Soldaten bestattet ist, kann er die Tränen nicht unterdrücken. Er besucht den Friedhof und entdeckt den Namen des Vaters auf einer von drei Bronzetafeln. Im Abstand von wenigen Jahren kehrt er immer wieder an das Grab zurück.

Der Vater Hans Henkel war ein Erfolgsmensch, die Mutter, eine nordische, aus einfachen Verhältnissen stammende Schönheit, war es auch. Sie wollte aufsteigen, hatte den Willen zum Glück und fand es in der Ehe mit dem tüchtigen und lebenslustigen Geschäftsmann Hans Henkel. Hans-Olaf, sechs Jahre nach seiner Schwester Karin geboren, ist in seinen ersten Schuljahren alles andere als ein Erfolgsmensch. Das eine Mal fliegt er von der Schule, das andere Mal muss er sie verlassen, weil er nicht mitkommt, dann wieder muss er eine neue Schule besuchen, weil er umzieht. Während seiner Kindheit besucht er sieben Schulen und lebt in drei Heimen.

Mit der Mutter, die nicht weniger erfolgreich als der Vater die Generalvertretung weiterführt, stößt der kleine Hans-Olaf immer häufiger zusammen. Sie ist ihm nicht nur zu exzentrisch, sondern auch zu streng, zu autoritär. Der aufmüpfige Sohn verträgt das nicht. Selbstkritisch räumt Henkel ein, er habe seiner Mutter mit seinen ständigen Widerworten und dem Infragestellen ihrer Autorität häufig Unrecht getan. Die drei Henkel-Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, fühlen sich nicht innig geliebt. Noch heute klingt ihnen die Warnung der Mutter im Ohr: „Schafft euch bloß keine Kinder an.“ Die Kinder sind der Mutter, die schon durch das Geschäft stark gefordert ist, zu einer Last geworden, die sie schwer allein tragen kann. Da sie selbst auf eigenen Füßen stehen muss, sollen auch ihre Kinder früh selbstständig werden. Das Fördern früher Selbstständigkeit ist ein eigentlich Erfolg versprechendes Erziehungsprinzip. Aber Hans-Olaf Henkel, von der Mutter für einundeinhalbes Jahr in ein strenges katholisches Nonnenstift gesteckt, fühlt sich ausgestoßen.

Nach zwei weiteren Schulwechseln und erneuten Auseinandersetzungen meldet die Mutter den Vierzehnjährigen im „Rauhen Haus“ an. Der Name trügt, wie Henkel bald bemerkt. Er rührt nicht von rauen Erziehungsmethoden, sondern von der rauen Außenfassade des ersten Hauses des 1832 gegründeten Wichern-Stiftes her. Aus dem Stift hat sich die Diakonie entwickelt. Das „Rauhe Haus“ gilt als Heim für problematische Kinder. Die Kinder und Heranwachsenden werden dort nach dem Familienprinzip erzogen. Ein Diakon betreut wie ein älterer Bruder jeweils zehn bis zwölf Kinder. Henkel verbringt ein halbes Jahr im „Rauhen Haus“. Die Fürsorge der Diakone tut ihm gut. Der Knoten platzt. Er fühlt sich an die Hand genommen und beginnt zu lernen. Später, auf der Hochschule für Wirtschaft und Politik, wird er bei Ralf Dahrendorf eine Abschlussarbeit mit dem Thema schreiben: „Die soziale Herkunft der Diakone der Inneren Mission und Gründe für den Eintritt in die Diakonie“.

Anderes als zu lernen bleibt ihm auch nicht übrig, denn die Mutter hat ihm Auswege versperrt. Henkel entdeckt, dass ihm im „Rauhen Haus“ mehr Freiheit gewährt wird, wenn er sich anstrengt. Das weckt seinen Ehrgeiz und trägt Früchte. Nach kurzer Zeit steigt er in eine andere Familie auf, in der es weniger streng zugeht. Er wird einer der besten Schüler in der Klasse und darf das Heim verlassen. Es ist ein erstes Erfolgserlebnis, er hatte aus eigener Kraft etwas erreicht. Auf einer Schule im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel macht Henkel die mittlere Reife. Das Abschlusszeugnis fällt durchschnittlich aus.

Erste unternehmerische Erfahrungen sammelt der Kaufmannssohn mit sechzehn Jahren. Die Mutter ist zu ihrem neuen Lebensgefährten, dem Shanty- und Balladen-Sänger Richard Germer, an die Elbchaussee gezogen und hat ihre bisherige Fünfzimmer-Wohnung dem Sohn überlassen. Sie zahlt die Miete weiter. Hans-Olaf, der nur zwei der fünf Zimmer für sich benötigt, kann drei Zimmer untervermieten und von den Einkünften leben. Damit hat die Mutter erreicht, was ihr schon immer wichtig gewesen ist: Den Kindern zu ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen. Hans-Olaf Henkel genießt die Freiheit und lernt, mit Geld umzugehen.

Am liebsten wäre er nach der mittleren Reife auf die höhere Handelsschule gegangen, um das kaufmännische Abitur zu machen. Aber die Mutter hat dem Sechzehnjährigen schon eine Lehrstelle als Speditionskaufmann bei Kühne und Nagel besorgt. Die Ausbildung bei der international tätigen Speditionsfirma, die häufige Tätigkeit im Hamburger Hafen, das Aufsuchen der Konsulate, wecken in ihm das Fernweh. Es wird ihn Zeit seines Lebens begleiten.

Als das Ende seiner Lehrzeit näher rückt, seine Freunde und Freundinnen das Abitur machen und sich auf ein Studium vorbereiten, nagt es an Henkels Selbstbewusstsein. Er möchte nicht von seinen Freunden überholt werden, will nicht als der hängen gebliebene Mittelschüler gelten, der es nur zu einer Lehre gebracht hat. „Das hat mich unwahrscheinlich gewurmt“, erinnert er sich. Eine verletzungsbedingte Stiefelunverträglichkeit bewahrt ihn davor, zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Henkel wägt zwischen drei sich ihm bietenden Alternativen ab: Entweder bei Kühne und Nagel als kaufmännischer Angestellter zu bleiben, oder das mütterliche Geschäft, den Verkauf von Papierprodukten, zu übernehmen. Darin kann er aber nicht den Sinn seines Lebens sehen. Die dritte eröffnet sich ihm bei der Lektüre der Zeitung. Er hat sich schon als älterer Schüler zu einem gründlichen, vor allem an Politik interessierten Zeitungsleser entwickelt. Henkel entdeckt einen Artikel über ein Institut des zweiten Bildungsweges. Es heißt damals noch „Akademie für Gemeinwirtschaft“, für gemeine Wirtschaft, wie Henkels Freunde lästern. Später wird aus dieser Akademie die Hochschule für Wirtschaft und Politik. 2005 wird die Hochschule, an der viele Gewerkschaftsführer, Politiker wie Björn Engholm und Unternehmenschefs wie Heinz Ruhnau ausgebildet werden, als Fachbereich Sozialökonomie in die Hamburger Universität eingegliedert.

Henkel beschließt, sich um einen Studienplatz an der Akademie zu bewerben, obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist. Das Aufnahmealter liegt bei zwanzig Jahren. Um die 80 Studienplätze bewerben sich 1800 junge Menschen. Das Prüfungsthema für die schriftliche Arbeit lautet: „Nutzen und Fragwürdigkeit des Vorstoßes des Menschen in den Weltraum“. Henkel schildert das Pro und Kontra und kommt zu dem Ergebnis, die Menschen sollten sich auf das Abenteuer einlassen. Später erfährt er, sein Aufsatz sei mit „Sehr gut“ bewertet worden.

Er besteht die schriftliche Prüfung und wird zu einem Gespräch eingeladen. Einer der strengen Herren der Prüfungskommission bemerkt, dass Henkel für die Zulassung zum Studium zu jung ist und weist ihn mit der gut gemeinten Bemerkung ab, er könne in einem Jahr wiederkommen. Für Henkel bricht eine Welt zusammen. Er reklamiert, Alter hin oder her, er habe doch die schriftliche Prüfung bestanden, und protestiert, die Abweisung raube ihm alle Perspektiven. Henkel redet sich in Rage. Dann kommt ihm die rettende Idee, die Unternehmerkarte zu spielen. Trotz mangelnder Erfahrung ist ihm klar, dass die Akademie im Vergleich zu den traditionellen Universitäten unter dem Imageproblem leidet, die Kaderschmiede der Gewerkschaften und der Gemeinwirtschaft zu sein. Unternehmerkinder an der Akademie könnten helfen, denkt sich Henkel, das Image zu korrigieren. Als die Prüfer fragen, was er nach dem Studium machen wolle, gibt er an, das Geschäft seiner Mutter übernehmen zu wollen. Henkel hat die Schwachstelle in der Psyche der Professoren gefunden. Seine Beharrlichkeit imponiert den Herren. Er bekommt einen Studienplatz und wird der jüngste Student der Akademie.

Die Aufnahme an der Akademie für Gemeinwirtschaft wertet Henkel als die entscheidende Weichenstellung seines Lebens. Der Spätentwickler hat eine zweite Chance erhalten, kann ohne Abitur studieren. Diese zweite Chance nutzt er, studiert fleißig, macht 1961 sein Abschlussexamen. Es schließt die allgemeine Hochschulreife ein. Nach einem Gespräch mit der Mutter entschließt sich Henkel jedoch nicht weiter zu studieren, obwohl ihm drei Semester angerechnet worden wären, sondern sich einen guten Job zu suchen.

Nach vielen Jahren fragt er sich, ob es nach dem Studium nicht doch besser gewesen wäre, er hätte sich selbstständig gemacht, das Geschäft der Mutter übernommen und es in ein PC-Geschäft umgewandelt. Mit PC-Firmen lässt sich damals viel Geld verdienen. Er hätte, spinnt Henkel den Faden weiter, das Geschäft dann Ende der neunziger Jahre verkaufen und einige Millionen erlösen können, wie es viele andere getan hätten. Doch die Selbstständigkeit bleibt ein Gedankenspiel. Henkel bewirbt sich bei der Schlieker-Werft, die einen EDV-Spezialisten sucht. Davon versteht er noch wenig, aber bekommt eine Zusage. Er bewirbt sich auch bei Infratest, dem Münchener Umfrageinstitut. Das Institut stellt ihm ein Stipendium in Aussicht. Dann sticht ihm eine ganzseitige Anzeige der IBM ins Auge. Die Computerfirma sucht Kandidaten für ihr Management-Trainingsprogramm. Henkel ist für das Programm zu jung und nicht qualifiziert.

Fünf Trainee-Stellen sind zu vergeben, hundert Bewerber reißen sich darum, erfahrene, hochgebildete, alle weit älter als Henkel. Die zwei Jobs, die er schon in der Tasche hat, machen ihn mutig. Henkel bewirbt sich, obwohl er sich keine Chance ausrechnet. Er möchte die Reisespesen einstreichen.

Die Bewerber müssen sich einem Test-Marathon stellen. Einer von ihnen hat ein Doppelstudium, ist Diplomkaufmann und Ingenieur, Henkel ist nur Schmalspurkaufmann. Die Tests machen Henkel Spaß, er zeigt Ehrgeiz, will sich gegenüber den Älteren beweisen. Am nächsten Tag wird er zur mündlichen Prüfung gebeten. Die schriftliche hat er bestanden, aber jetzt sieht alles nach einem schnellen Abgang aus. Einer der drei Topmanager, die die Kandidaten, auswählen, entdeckt, dass Henkel mit 21 Jahren für das Programm viel zu jung ist. IBM suche berufserfahrene Leute mit akademischer Ausbildung.

So schnell lässt sich Henkel aber nicht entmutigen. Er verweist auf seine Ausbildung zum Speditionskaufmann und auf seinen Studienabschluss, meistert das Frage- und Antwortspiel psychologisch geschickt und erhält das Angebot, für eine Vertriebslaufbahn ausgebildet zu werden. Für das Management-Traineeprogramm sei er nun einmal zu jung.

Die Vertriebslaufbahn ist die klassische Karriere bei IBM. Aber Henkel lehnt das Alternativangebot ab. Darum habe er sich nicht beworben, er sei wegen des Management-Trainee-Programms gekommen, hält er den konsternierten IBM-Managern entgegen. Um die Situation zu entspannen, fragt einer der Manager nach seinen Hobbys. Henkel antwortet „Musik“. Das stimmt, denn Henkel ist ein Jazz-Fan und auch ein Fan der Beatles. Das sagt er aber nicht, als die Nachfrage kommt „Welche Musik?“ Er sagt Händel. Auf die weitere Frage, was ihm an Händel gefalle, antwortet er: „Händel swingt“. Henkel bemerkt, dass sich das Blatt zu seinen Gunsten wendet, er lobt die Atmosphäre bei IBM und äußert den Wunsch, bei IBM zu bleiben. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Henkel bekommt eine der Traineestellen.

Seinen Eintritt in die amerikanische Firma sieht Henkel als Glücksfall. Bei Siemens, Krupp, VW oder beim Staat wäre er mit seiner Art jämmerlich gescheitert, mutmaßt Henkel. Weshalb die IBM trotz des Strukturwandels, in dem viele Firmen untergegangen sind, überlebt hat, führt Henkel auf wenige Prinzipien zurück. Dazu zählen für ihn der Respekt vor dem Einzelnen, die Ehrlichkeit gegenüber Kunden, das Verbot jeglicher Bestechung und die Unbestechlichkeit der Mitarbeiter und Manager, auch die Verbannung von Alkohol während der Arbeit und bei Veranstaltungen.

Die kastenlose Unternehmenskultur bei IBM, der unkomplizierte, kameradschaftliche Umgang von Topmanagern und Mitarbeitern faszinieren Henkel. Das „Open Door“-Programm erlaubt es jedem Mitarbeiter, sich bei höheren Vorgesetzten bis hin zur Unternehmensführung über den direkten Vorgesetzten zu beschweren, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Einmal im Jahr werden die Mitarbeiter nach Kriterien beurteilt, die Vorgesetzte und Mitarbeiter gemeinsam in einem Beratungs- und Förderungsgespräch erarbeitet haben. Allein die Leistung zählt und zahlt sich aus.

Alle zwei Jahre werden die Mitarbeiter anonym befragt, was sie von den Produkten und von den Vorgesetzten halten. Die Beurteilung durch die Mitarbeiter wird den Managern mitgeteilt. Dabei ist sichergestellt, dass der Vorgesetzte auch nicht indirekt feststellen kann, wer ihn wie beurteilt hat. Das System sorgt dafür, dass Manager, die ihre Mitarbeiter schlecht behandeln, mit Ellbogen oder Tricks arbeiten, nicht nach oben kommen. Das Motivieren und die gute Führung der Mitarbeiter sind wichtige Voraussetzungen, um auf der IBM-Karriereleiter aufzusteigen. Henkel erfüllt sie. Die Leistungs- und Aufstiegskultur von IBM ist wie für ihn geschaffen.

Geplant wird bei IBM auf lange Sicht. Jedes Jahr muss der Jungmanager Henkel dem IBM-Deutschlandchef eine Liste vorlegen. Sie muss fünf Kandidaten benennen, die sein Nachfolger werden sollten. Ferner muss sie den Kandidaten bestimmen, der ihm sofort folgen kann, falls er plötzlich gehen müsste. Im Jahre 1986 und 1988 muss Henkel bereits das Team 2000 vorstellen, wer dann die IBM-Deutschland führen könnte. Einer der von ihm vorgeschlagenen Kandidaten wird später tatsächlich Deutschlandchef der IBM.

Ungeschriebene Verhaltenscodes gibt es auch bei IBM. Kundenbesuche haben im dunklen Anzug, weißem Hemd und Krawatte stattzufinden, die Vertriebsmitarbeiter fahren auch nicht im Sportwagen vor, nur einen Hut müssen sie nicht mehr tragen, als Henkel in die Firma kommt. Wert gelegt wird auf eine gute Allgemeinbildung und auf eine intakte Familie.

Henkel hat sein Trainee-Programm noch nicht beendet, als er davon Wind bekommt, dass die IBM auf der Weltausstellung 1964 in New York einen eigenen Pavillon mit modernster Technologie errichten will und junge IBMler für die Betreuung ausländischer Gäste sucht. Vom Fernweh gepackt bemüht er sich, mehr schlecht als recht Englisch sprechend, um den Job. Den angereisten Amerikaner, der die Kandidaten bestimmt, treibt er listenreich so in die Enge, dass dieser gar nicht anders kann, als ihm den Job anzubieten. Im Februar 1964 betritt er zum ersten Mal das Land seiner Sehnsucht, das Land des von ihm geliebten Jazz, das Land der Kennedys und der IBM. Die fast unbegrenzte Freiheit des Landes zieht ihn in ihren Bann. Als der IBM-Pavillon schließt, weiß Henkel, die USA sind sein Land. Zurück in Deutschland wird er in eine Abteilung für Computer Services gesteckt.

In Sindelfingen langweilt sich Henkel. Als der für Indien zuständige Gebietsmanager nach Sindelfingen kommt und einen Mitarbeiter für die Installation eines Stücklistenprozessors sucht, bewirbt sich Henkel. Er erhält den Job in Kalkutta vor allem, weil er mittlerweile fließend Englisch spricht. Von Stücklistenprozessoren hat er keine Ahnung. Diese eignet er sich in einem Crashkurs an. In seinen Memoiren schildert Henkel, wie er für die Inder zum Computerheld aus Germany wird. Als Hero von seinen Mitarbeitern gefeiert wird er, als er auf dem Ganges Wasserski läuft. Die Skier sind Bretter, die ihm ein Tischler angefertigt hat. Ein indischer Guru hatte zuvor behauptet, er könne auf Wasser laufen, war aber kläglich in den Fluten untergegangen. Henkel hatte daraufhin erklärt, er könne, was dem Guru misslungen ist. Das hatte sich schnell herumgesprochen. Tausende Menschen jubeln ihm zu, als er als der erste Mensch auf dem Ganges mit seinen Skiern über das Wasser gleitet. Wasserskilaufen kann Henkel bereits. Nur die Kühe, die mit aufgeblähten Bäuchen an ihm vorbei treiben, und die Asche der Verbrannten, die von den Feuerstätten in den Fluss geweht wird, setzen ihm zu.

Eigentlich hätte Henkel nach Sindelfingen und Böblingen zurückkehren müssen, aber wieder weiß er einen Zufall zu nutzen und landet als Country General Manager in Ceylon. 1969 hilft dann alles Sträuben nichts mehr, er muss nach Deutschland zurückkehren, erhält aber eine interessante Aufgabe. Er soll in München ein weltweit operierendes Beratungszentrum für die Fertigungsindustrie aufbauen. Mit seinen Mitarbeitern entwickelt Henkel ein Konzept, das COPICS genannt wird. Es soll als Basis für die Anwendungsentwicklung in der Fertigungsindustrie dienen. Er stellt es der Konzernmutter in den USA vor und empfiehlt, COPICS zu programmieren. Die Software sollte dann in den IBM- Computern eingesetzt werden.

IBM, noch ganz eine weltweit führende Hardware-Company, lehnt das ab, steht auf dem Standpunkt, die Kunden sollten sich die Anwendungen selbst programmieren. Ein Riesenfehler, kommentiert Henkel die Ablehnung. Er kann sich nicht durchsetzen.

Vier seiner Kollegen machen sich daran, auf eigene Rechnung Standardanwendungen zu entwickeln. Sie werden SAP-Milliardäre. Henkel ist zwar über die Konzernmutter frustriert, steht auch auf dem Sprungbrett, aber hat nicht den Mut, sich wie seine Kollegen selbstständig zu machen. Das Risiko ist ihm zu groß. Er hat bereits zu viel bei IBM zu verlieren. Kein anderer IBM-Manager ist in jungen Jahren so weit gekommen wie er. Außerdem hat er Familie mit Frau und Tochter.

Ein sozialer Aufsteiger ist Henkel nicht. Er ist in einer großbürgerlichen, gut situierten Hamburger Kaufmannsfamilie aufgewachsen, die zunächst in einer Villa in einem besten Hamburger Stadtteile und dann in einer herrschaftlichen Wohnung lebt. Er ist ein Bildungs- und Karriere-Aufsteiger. Er ist ein besonders cleverer Unternehmer seines Lebens, immer auf der Suche nach Chancen voranzukommen, sei es bei der Aufnahme in die Akademie, bei der Bewerbung bei IBM, beim Job im IBM-Pavillon in New York, in Indien und in Ceylon. Er hat eine Nase für Chancen, findet sie und nutzt sie entschlossen, mit einem starken Selbstvertrauen und einem Schuss Kühnheit. Von Typologien, wie sie Persönlichkeitsforscher bilden, hält Henkel nichts. Er erkennt sich aber in gleich drei Persönlichkeitstypen wieder: in dem Wettkampf-Typ, der besser als andere sein will; im ergebnisorientierten Typ, den gute Leistungen zu noch besseren motivieren, und in dem wachstumsorientierten Typ, der aus Fehlern und Rückschlägen lernt. Fehler habe er immer wieder gemacht, bekennt Henkel und zu verlieren, habe er nie gelernt. „Ich entdecke die Fehler anderer Leute“, sagt er, „weil ich mich darin selbst wieder erkenne. Das bezieht sich auf fast alles: auf Eitelkeit, Gefallsucht und Pingeligkeit“.

Auch sein nächstes Karriereziel hat der IBM-Nachwuchsmanager schon bestimmt. Er will Leiter einer IBM-Geschäftsstelle in Deutschland, am liebsten in seiner Vaterstadt Hamburg werden. Im Spaß sagt er gegenüber Freunden, er wolle einmal IBM-Generaldirektor von Deutschland werden. Noch erscheint das wie ein Traum.

Mancher seiner Vorgesetzten hat bereits seine schützende Hand über Henkel gehalten, sein großer Mentor wird Kaspar Cassani. Der Schweizer ist in diesen Jahren Vizepräsident der IBM-Europa in Paris. Henkel und Cassani kennen sich aus einer Zusammenarbeit in einer Taskforce. Auch hat Henkel Cassani bei einer Präsentation von COPICS in München beeindruckt. „Er schien geradezu einen Narren an mir gefressen zu haben“, schreibt Henkel in seinen Erinnerungen.

Eine entscheidende Weichenstellung kündigt sich an. Cassani beginnt den zehn Jahre jüngeren Henkel zu fördern, holt ihn zu sich nach Paris und betraut ihn damit, sein Sorgenkind, die Telefonanlage IBM 3750, die ein Flop zu werden droht, zu einem Erfolg zu führen. Henkel gelingt dies. Er rechtfertigt das Vertrauen, das Cassani in ihn gesetzt hat und wird zum Director of Operations befördert. In seinen Erinnerungen zeichnet Henkel von Cassani das Bild einer großen, bescheidenen Persönlichkeit, eines vorbildlichen, ehrgeizigen, zuweilen allerdings auch etwas rechthaberischen und zu selten lobenden Managers. Für Henkel wird Cassani beides: sein Vorbild und sein Vorgänger als Chef der IBM- Europa.

Neben Griechenland und dem Nahen Osten gehört auch Afrika zu dem neuen Verantwortungsbereich des Directors of Operations in Paris. 1978 klettert Henkel in der IBM-Hierarchie nach oben, wird Director of Operations für eine Reihe mitteleuropäischer Länder. Henkel reüssiert mit dem Konglomerat aus über 80 Ländern, für das er zuständig ist. Es ist vom Umsatz und Ertrag bedeutender als Deutschland. Er ist zu dieser Zeit bereits Vicepresident IBM-Europe. Cassani, mittlerweile Europa- Chef der IBM, gerät unter Druck. Die Konzernmutter akzeptiert nicht, dass in Deutschland weniger verdient wird als in anderen Ländern, erwartet, dass die Ergebnisse besser werden. Sie will Aktionen sehen. Cassanis Aktion liegt darin, der Zentrale Henkel als Troubleshooter für die IBM-Deutschland zu empfehlen. Henkel startet in Stuttgart als stellvertretender Vorsitzender, nach kurzer Einarbeitungszeit wird er Chef. IBM gewinnt unter Henkels Führung die an Nixdorf verlorenen Marktanteile zurück, klettert auf Platz fünf der in Deutschland meist geschätzten Unternehmen und auf Platz drei der am besten gemanagten Unternehmen. Nur im Wettbewerb mit SAP bleibt IBM zweiter Sieger. Bei den immer preiswerter werdenden PC spürt IBM den schärfer gewordenen Wettbewerb. Einen langfristig folgenschweren Fehler macht Henkel, als er an dem IBM-Betriebssystem OS2 festhält und Bill Gates abblitzen lässt, der ihn bei einem Besuch in Stuttgart bewegen will, Windows zu übernehmen.

Friedrich Wilhelm Sparberg, der aus dem in dem Konzern wenig geachteten Finanzbereich zum Chef der IBM-Deutschland aufgestiegen ist, wird 1985 von der US-Zentrale in Armonk ersetzt. Die deutschen Umsatz- und Ertragszahlen sind hinter den weltweiten IBM-Ergebnissen zurückgeblieben. Diese schlechteren Ergebnisse spiegeln allerdings zum großen Teil nur die deutschen Standortnachteile wider. Henkel meint in der Rückschau, es sei etwas unfair gewesen, Sparberg dafür verantwortlich zu machen. Er wolle auch nicht von sich behaupten, er sei besser gewesen als die Manager in der zweiten Reihe hinter Sparberg. Aber er habe einen guten Ruf in der Zentrale gehabt. Man habe ihm zugetraut, wieder Schwung in die IBM-Deutschland zu bringen.

Henkel macht die deutschen Standortnachteile, die hohen Lohn- und Lohnzusatzkosten, die hohen Steuern, die Mitbestimmung, die starren Flächentarifverträge, die 35-Stunden-Woche zu seinem Top-Thema. Henkels öffentliche Kritik über nicht mehr akzeptable Steuerlasten hat Erfolg. Stoltenberg, damals Finanzminister, sorgt dafür, dass durch ein Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA, die IBM und andere Firmen, auch deutsche Firmen mit Niederlassungen in den USA, von hohen, doppelt zu zahlenden Steuern befreit werden. In einer nervenzehrenden Auseinandersetzung mit der IG Metall erreicht er, dass IBM aufgrund einer Ausnahmegenehmigung den Vier-Megabit-Chip in Baden-Württemberg an sieben Tagen in der Woche produzieren darf. Die deutschen Standortnachteile kann Henkel jedoch nicht beseitigen. Er muss ein IBM-Werk umstrukturieren, drei andere aus Kostengründen schließen.

Die IBM-Zentrale räumt Henkel als Deutschlandchef große Freiheiten ein. Ohne Rückversicherung tritt er aus dem Arbeitgeberverband aus, verlegt den juristischen Sitz der deutschen IBM wieder nach Berlin, strukturiert das Werk in Hannover um. Die IBM-Europa steht hinter ihm, die Mitarbeiter sind wieder motiviert und die Wiedervereinigung sorgt für eine Sonderkonjunktur. Das ist ein Glücksfall für ihn. Die blendenden Ergebnisse werden Henkel gutgeschrieben. Mit hanseatischem Understatement hält er in seinen Erinnerungen fest: „Unter den gegebenen Voraussetzungen fiel der Erfolg allerdings so leicht, dass selbst Mickymaus als Chef der IBM Deutschland ihn hätte erzielen können“.

Das Deutschland-Geschäft boomt, aber der IBM-Konzern insgesamt gerät in eine Krise. Die Aktionäre machen dafür den damaligen IBM- Chef John Akers verantwortlich. Henkel befürchtet, mit Akers einen wichtigen Verbündeten zu verlieren.

Er erhält das Angebot, Vorstandschef eines weltweit renommierten deutschen Großunternehmens zu werden. Der Vertrag enthält jedoch eine Klausel, eine Art Maulkorberlass, die Henkel nachdenklich stimmt. Seine Ankündigung, möglicherweise die IBM zu verlassen, alarmiert die Zentrale. IBM-Boss Akers verspricht, Henkel bald zum Chef der IBM Europa zu ernennen. Henkel entschließt sich, bei IBM zu bleiben und dem deutschen Unternehmen abzusagen.

Lou Gerstner, Akers Nachfolger an der IBM-Spitze, löst das Versprechen ein, Henkel zum Chef der IBM Europa zu befördern. Henkel trägt nun die Verantwortung für neunzigtausend Mitarbeiter. Gerstner dramatisiert nach Henkels Einschätzung die Krise der IBM durch eine riesige Abschreibung, aber er zerschlägt die IBM nicht, wie es viele Analysten erwarten, sondern führt eine neue, zentralisierte Organisationsstruktur ein, die der Globalisierung besser entspricht. Henkel muss diese vertikale, hierarchische Verantwortungsstruktur, die die Länderchefs entmachtet, in Europa durchsetzen. Anders als Gerstner es in seinem Memoiren darstellt, habe er diese neue Struktur nicht boykottiert, sondern nur einige Auswüchse nicht mitgemacht. Dies habe ihm Gerstner jedoch als Obstruktion ausgelegt, wehrt sich Henkel gegen die Boykottvorwürfe.

Nach einundeinhalb Jahren ist die IBM so umstrukturiert, dass Henkel in der Produktion nichts mehr zu sagen hat. Immer mehr Entscheidungen laufen an ihm vorbei, werden im IBM-Hauptquartier in Armonk getroffen. Henkel fragt sich, was er in Paris, in der IBM-Europa-Zentrale eigentlich noch macht. Immer öfter schaut ihm jemand aus der Zentrale über die Schulter, immer häufiger muss er kurzfristig an Meetings und Präsentationen in Armonk teilnehmen. Henkels großes Reich der Freiheit schrumpft zu einem Kleinstaat. Henkel: „Ich glaube, ich habe schon einmal auf jedem Sitz in jeder Concorde gesessen“. Seine eigenen Termine kann er immer seltener wahrnehmen. Das erste Mal in seiner IBM- Karriere ist er unglücklich. Das merkt man ihm an. Es macht ihm zu schaffen, dass das Bild des mächtigen IBM-Europa-Chefs der Realität immer weniger entspricht.

An einem Frühlingstag im Jahre 1994, Henkel sitzt in einem Meeting in Armonk, wird er aus der Sitzung herausgerufen, um einen wichtigen Anruf entgegen zu nehmen. Tyll Necker, damals zum dritten Mal Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie, ist am anderen Ende der Leitung. Henkel und Necker kennen sich von vielen Gelegenheiten. Necker sitzt auch im Aufsichtsrat der IBM-Deutschland. Er fragt Henkel, ob dieser sich vorstellen könne, sein Nachfolger zu werden. Henkel ist überrascht und amüsiert, nennt das zunächst eine reichlich verrückte Idee, bittet um Bedenkzeit und verspricht eine Antwort in einer Woche. Schließlich hat er bislang noch nie eine Funktion in einem Verband innegehabt und war zudem noch Manager einer amerikanischen Firma. Andererseits ist weithin bekannt, dass Henkel einer der härtesten Kritiker der deutschen Standortschwächen ist. Er hat auch schon Vorträge vor BDI-Gremien gehalten.

Henkel vermutet, dass ihn Edzard Reuter, der damalige Daimler-Benz- Chef, bei Necker ins Spiel gebracht hat. Reuter hätte ihn gern als DASA-Chef in seinen Konzern geholt, schätzte seine internationale Erfahrung und seinen Mut, die Standortschwächen beim Namen zu nennen. Allerdings ist Necker bei seinem Angebot an Henkel nicht mehr so frei wie es scheint. Es spricht einiges dafür, dass Necker auf Vorschlag des damaligen BDI-Hauptgeschäftsführers von Wartenberg das Präsidentenamt bereits dem Chef der Hamburger Holsten-Brauerei und Präses der Handelskammer Hamburg, Klaus Asche, angeboten hatte. Das weiß aber Henkel nicht. Er ruft Necker nach einer Woche an und sagt zu, wundert sich jedoch darüber, dass eine freudige Reaktion Neckers ausbleibt. Necker hatte wohl gehofft, interpretiert Henkel Neckers Verhalten, dass er von selbst absagen oder die Botschaft erhalten würde, die Präsidentschaft laufe auf einen anderen zu. Das geschieht aber nicht. Im Gegenteil, Henkel hat schon die Zentrale in Armonk von dem ehrenvollen Angebot unterrichtet und eine Auseinandersetzung mit Gerstner in Kauf genommen. Die Trennungsgespräche mit der IBM-Mutter verlaufen für Henkel enttäuschend. Es bleiben ihm nur ein Teil seiner angesammelten Optionen und die für IBMer übliche Pension. Zugleich legt IBM Wert darauf, dass er seinen Sitz im Aufsichtsrat der deutschen IBM und im Beirat der IBM-Europa behält. Das Ausscheiden bei IBM ist für den 1. Januar 1995 vereinbart, damit er sich im November 1994 der Wahl zum BDI- Präsidenten stellen kann.

Schon seit einigen Wochen hat Henkel keinen Kontakt zu Necker. Eines Morgens traut er seinen Augen nicht. Die Wirtschaftswoche verkündet, Neckers Nachfolger sei gefunden. Klaus Asche werde für die BDI-Präsidentschaft kandidieren. Necker habe gehofft, kommentiert Henkel die peinliche Situation, das Problem würde sich von selbst lösen: „Sein Fehler war, keine schlechten Nachrichten übermitteln zu können“.

Bei IBM zu bleiben, wäre für Henkel nur mit einem Gesichtsverlust möglich gewesen. Eine solche Blamage will er vermeiden und so nimmt er die Herausforderung einer Kampfkandidatur an. Es gelingt ihm, sich der Findungskommission des BDI, die den neuen Präsidenten ausguckt, vorzustellen. Die Kommission lehnt Henkel ab, aber er weiß, dass die eigentliche Vorentscheidung von den sieben BDI-Vizepräsidenten getroffen wird.

Auch für den Bundeskanzler Helmut Kohl ist es nicht gleichgültig, wer an der Spitze des BDI steht. Er hat sich häufig über Necker geärgert und befürchtet vom Regen in die Traufe zu kommen, wenn sich der BDI für Henkel entscheiden sollte. Henkel erfährt, wie das Kanzleramt zugunsten Asches und gegen ihn in dem Findungsprozess interveniert. „Die Zeit von Juni bis September 1994“, schreibt Henkel in seinen Memoiren, „war vermutlich die härteste Zeit meines Lebens. Ich hatte die Stelle aufgegeben, auf die ich jahrzehntelang hingearbeitet hatte, und mich im Gegenzug zum Spielball eines mir unzugänglichen Gremiums gemacht, das über mein Schicksal entschied.“

Henkel sucht einige Vizepräsidenten auf, die er gut aus seiner IBM-Zeit kennt. Er gewinnt schließlich unter den Vizepräsidenten eine Mehrheit. Diese kippt das Votum der Findungskommission und schlägt mit einer Mehrheit von einer Stimme Henkel als BDI-Präsidenten vor. Asche erfährt durch Necker erst davon, als er von einer Kreuzfahrt aus Asien zurückkehrt. Der Bauereichef ist empört, zieht seine Kandidatur zurück. Die Mitgliederversammlung wählt Henkel mit 95 Prozent der Stimmen. Nach seiner Wahl durch die Mitgliederversammlung sucht Henkel Asche auf und spricht sich mit ihm aus. Er bleibt für sechs Jahre Präsident des BDI. Hundert Prozent der Stimmen erreicht er auch bei den folgenden Wahlen nicht.

Der Kampf um das Ehrenamt des BDI ist für ihn eine Frage der Selbstachtung gewesen. Die mit dem Amt verbundene Chance, in Deutschland etwas zu bewegen und Reformen anschieben zu können, haben ihn gereizt. Keiner konnte ihn mehr zum Rapport bestellen. Henkel genießt die Freiheit, die Aufgabe macht ihm Spaß. Der BDI wird sein Hobby. Als Ziel, für das er häufig bis in die Nacht arbeitet, nennt Henkel „die wettbewerbsfähige Gesellschaft“, die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit Deutschlands. Dafür nimmt er 14- bis 16-stündige Arbeitstage in Kauf. Dafür setzt er sich auch nach seinem Ausscheiden aus dem BDI-Spitzenamt als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft in den Jahren von 2001 bis 2005 und immer wieder in Talkshows ein. Er zieht eine positive Bilanz seines BDI-Hobbys. Er habe manchen Unsinn verhindert, einige Reformen erreicht, aber es bleibe noch vieles zu tun. Henkels wichtigstes Anliegen bleibt sein Eintreten für ein effektiveres politisches Entscheidungssystem.

Die Wissenschaftsorganisation „Leibniz-Gemeinschaft“ hat Henkel zum Abschied überrascht. Sie hat den „Hans-Olaf-Henkel-Preis für Wissenschaftspolitik“ ausgelobt und eine neue, in den Bergen Sulawesis lebende Schmetterlingsart nach ihm benannt, die „Bracca olafhenkeli“. Die Flügel des schönen Falters fallen durch ein Leopardenmuster auf. Das Muster könnte eine Anspielung auf Eigenschaften Henkels sein: Leoparden sind wegen ihrer Stärke und ihres Mutes in vielen Kulturen zum Symbol für Krieger und Herrscher geworden.

Hans-Olaf Henkel hat nach seinem 55zigsten Lebensjahr seine Ehrenämter, das Präsidentenamt beim BDI, das Präsidentenamt bei der Leibniz-Gemeinschaft und die Null-Euro-Honorar-Professur an der Universität Mannheim zu seinem Beruf gemacht, er hat für seine „Hobbys“ gelebt. Ein „workaholic“ ohne Zeit für die Familie, für die von ihm geliebte Jazzmusik, für das Schachspielen und das eigene Segelboot ist er nie gewesen.

Sein kostbares Jazzarchiv zählt mehr als 500 Vinylscheiben. Einige stammen noch aus der Zeit, als er 16 Jahre alt war, für Nat King Cole und Earl Bostic schwärmte und für seine Freunde in seiner Wohnung einen Jazz-Salon, das „Studio 48“, einrichtete und ein Jahr später durch die Jazzlokale auf St. Pauli zog. Fasziniert von einer Beatle-Muse lässt er sich damals von der Angebeteten zu einer Pilzkopf-Frisur überreden. Bald tragen auch die auf der Reeperbahn spielenden Beatles diese Frisur. Henkel ist dem Jazz treu geblieben. Seit März 2008 lädt er jeden Sonntag auf Jazz-Radio 101,9 von 12 bis 13 Uhr zum „Jazzbrunch“ ein. Die Sendung ist beliebt, nicht nur wegen Henkels gutem Musikgeschmack. Manche hören sie nur wegen der Zwischentöne, wegen Henkels Frozzeleien und frechen Sprüche.

Die Chancengesellschaft

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