Читать книгу Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf - Страница 8
ОглавлениеAls der Soziologieprofessor Michael Hartmann 2002 die Ergebnisse seiner Erforschung der Spitzenkarrieren in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft präsentierte und sie unter dem provozierenden Titel „Der Mythos von den Leistungseliten“ veröffentlichte, saß der Schock tief. Hartmann hatte die Lebensläufe promovierter Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 − insgesamt 6500 Personen – unter die Lupe genommen und den fast schon zur Gewissheit gewordenen Glaubenssatz erschüttert, der Weg bis in die Spitzen der Wirtschaft und der Gesellschaft führe allein über Bildung, Anstrengung und Leistung.
Aufstieg durch Leistung statt durch Privilegien und Herkunft war nicht nur das Credo der aus Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangenen Sozialdemokratie, sondern aller Parteien im Deutschen Bundestag gewesen. Die Aufstiegsperspektive war eines der Kernversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Sie galt als Beweis einer trotz aller sozialen Gegensätze gerechten Ordnung, denn damit konnte doch jeder seines eigenen Glückes Schmied werden.
Hartmann hatte herausgefunden, dass das Sprichwort für die Topetagen der Wirtschaft nicht galt und für die Justiz nur mit Einschränkungen zutraf. Am häufigsten fanden sich noch „Glücksschmiede“ in der Wissenschaft und in der Politik. Er hatte den Glauben widerlegt, die Rekrutierung der Eliten erfolge vorrangig anhand der individuellen Leistung. Zugleich hatte der Forscher reichlich Wasser in den Wein der Bildungspolitiker gegossen. Sie hatten erwartet, die Bildungsexpansion würde nicht nur den Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen erleichtern, sondern auch den Aufstieg in Elitepositionen. Dies bestätigten Hartmanns Untersuchungen nicht.
Der Darmstädter Professor fand außerdem heraus, dass neben der Leistung noch etwas anderes über eine Spitzenposition in Großkonzernen und an den Bundesgerichten entscheidet: die richtige Herkunft, die Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum. In den 400 größten deutschen Unternehmen waren die Aussichten auf eine Position im Vorstand oder in der Geschäftsführung bei vollkommen gleicher Qualifikation (Studiendauer, Promotionsalter, Auslandssemester etc.) für Kinder aus dem Großbürgertum durchschnittlich dreimal so hoch wie für Promovierte aus der restlichen Bevölkerung. Für Kinder aus dem Bürgertum waren sie immerhin noch doppelt so gut. Wer von den Promovierten aus dem Haushalt eines leitenden Angestellten kam, hatte sogar eine zehnmal so große Chance, in die erste Führungsebene eines Großkonzerns zu gelangen wie sein fachlich gleich guter Kommilitone aus einer Arbeiterfamilie. Hatte ein Promovierter einen Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied zum Vater, waren dessen Chan cen auf einen Topjob siebzehn mal besser.
Hartmann behauptete nicht, die Wirtschaftselite sei keine Leistungselite. Die Nieten-in-Nadelstreifen-Polemik sei, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sogar unsinnig. Aber Leistung allein öffne nicht den Weg in die Elite.
Wer es in der Wirtschaft nach oben schaffen will, muss aus dem gehobenen Bürgertum oder dem Großbürgertum stammen, lautet Hartmanns Erfahrungssatz. Doch wie kommt es zur„Gnade der richtigen Geburt“ als wichtigstes Selektionskriterium für Top-Manager? Hartmann erläutert dies anhand der von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu7 herausgefundenen „feinen Unterschiede“, dem milieubedingten Habitus eines Kandidaten. Wer in die Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen will, muss sich ähnlich verhalten wie diejenigen, die dort schon sitzen. Er muss den gleichen „Stallgeruch“ haben, die Dress- und Benimmcodes beherrschen, über eine breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung verfügen, unternehmerisch denken, vor allem aber persönliche Souveränität ausstrahlen, keine mühsam antrainierte, sondern eine durch das Aufwachsen in einer großbürgerlichen Familie ganz nebenbei erworbene Souveränität. Nun kann man mit dem Kolumnisten und Hannoveraner Sozialwissenschaftler Holger Rust sagen, die Wirklichkeit tanze der Statistik mit ungezählten Einzelfällen auf der Nase herum. Trotz der Mutmaßung, dass Spitzenpositionen durch „soziale Adoption“ vergeben würden, seien letztlich alle Herkunftsmilieus vertreten. Aber solche Einwände fechten Hartmann nicht an. Klaus Kleinfeld, dessen Vater sich vom Arbeiter zum Betriebsingenieur hoch gearbeitet hat, und der selbst Heinrich von Pierer als Siemens-Chef folgte, zählt ebenso wie BMW-Chef Norbert Reithofer, der in einem Metzgerhaushalt groß wurde, für Hartmann zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Nur zwischen 13 und 16 Prozent schaffen es nach seinen Forschungsergebnissen auch ohne den richtigen „Stallgeruch“ in das Topmanagement. Erlernen könne man vielleicht Dress- und Benimm-Codes, beim bildungsbürgerlichen Wissen werde es schwierig, der selbstverständliche Umgang mit diesem Wissen gelinge kaum. Schon das Gefühl, ein Manko zu haben, sorge für Unsicherheit.
Die Regel sieht für Hartmann so aus: Die deutsche Wirtschaftselite rekrutiert sich seit Jahrzehnten zu über vier Fünfteln aus dem Bürger- und Großbürgertum. Ungefähr jeder zweite Spitzenmanager kommt aus dem Großbürgertum. Ein weiteres Drittel stammt aus dem Bürgertum und nur 15 Prozent kommen aus der Arbeiterschaft und den Mittelschichten, zu denen 96,5 Prozent der Bevölkerung zählen. Hartmanns Fazit: eine geschlossene Gesellschaft.
Geschlossen auch hinsichtlich der Geschlechter. Frauen haben in dieser Elite immer noch den Status von Paradiesvögeln, denn die deutschen Eliten sind männlich. Allerdings hat sich der Anteil der Frauen in Elitepositionen zwischen 1981 und 1995 von drei auf dreizehn Prozent erhöht. Aber diesen Zuwachs führt Hartmann fast ausschließlich auf die Politik und von ihr stark beeinflusste Sektoren zurück.
Eine umfangreiche Studie, die ein Team der Wirtschaftsuniversität Wien unter der Leitung von Professor Wolfgang Mayrhofer über die Karrierewege deutschsprachiger Manager8 anfertigte, kam zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Hartmann.
Trotz der Symbolkraft der Elite und den in ihr vertretenen Ausnahmen reichen diese nicht aus, um eine Gesellschaft insgesamt als durchlässig oder undurchlässig, als Abstiegs- oder Aufstiegsgesellschaft zu beurteilen. Hartmann zögert angesichts dürftiger Daten, der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt ein Etikett aufzukleben. In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren nach seiner Auffassung soziale Aufstiege vor allem in Berufen leichter, für die, wie für den Journalismus, keine formalen Zugangsvoraussetzungen galten, weil der Krieg große Lücken gerissen hatte und Millionen Flüchtlinge einen neuen Start versuchen mussten. In der Politik habe es deutlich mehr soziale Aufstiege als heute gegeben. In klassischen akademischen Berufen, in der Verwaltung und in der Justiz, für die das Studium die Eingangsvoraussetzung geblieben war, sei intergenerative Mobilität selten gewesen. Das habe sich erst in den siebziger Jahren geändert. Zwar will Professor Hartmann die Bundesrepublik des Jahres 2010 nicht als eine „Absteigerrepublik“ bezeichnen, jedoch ist sie für ihn eine zunehmend gespaltene Republik. Der Trend zur Polarisierung sei unverkennbar. Er sieht einen immer größer werdenden Prozentsatz von Menschen, deren Chancen auf einen Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt gering seien. Der Anteil derjenigen, die nur 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen Einkommens erzielten, habe sich verdreifacht. Zugleich habe sich der Anteil derjenigen verdoppelt, die mehr als 130 Prozent des Durchschnittseinkommens erreichen. Die statistische Mitte schrumpfe.
Zu diesem Ergebnis kam auch dass Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Nach der DIW-Studie (10/2008) ist die Mittelschicht9 in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2006 um rund fünf Millionen Personen geschrumpft. Der Anteil der Bezieher mittlerer Einkommen in der gesamten Bevölkerung ging von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 54 Prozent (rund 44 Millionen) im Jahr 2006 zurück. In den 80er Jahren gehörten in Westdeutschland rund zwei Drittel der Bevölkerung zur mittleren Einkommensschicht. Auch im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung blieb die Mittelschicht weitgehend stabil. Während anschließend aber die Mittelschicht schrumpfte, verfestigten sich die Schichten an den Rändern der Einkommensverteilung. Die unterste Einkommensschicht wuchs seit 2000 um knapp sieben Prozent und betrug im Jahr 2006 über ein Viertel der gesamten Bevölkerung.
Für diese Zunahme machen die DIW-Forscher nicht nur die konjunkturelle Schwächephase in dem beobachteten Zeitraum, sondern auch die Änderung der Beschäftigungsstruktur, die Zunahme der Zeitarbeit, der befristeten Arbeit, der Teilzeitarbeit und der geringfügigen Arbeit verantwortlich.
Der obere Einkommensbereich wuchs um zwei Prozent und lag im Jahr 2006 bei über einem Fünftel der Bevölkerung. Dieser Zuwachs ging ausschließlich auf die Gruppe mit dem höchsten Einkommen zurück. Soweit die DIW-Forscher. Ob sich dieser Trend auch in dem Aufschwung des Jahres 2007 mit einem realen Wachstumsplus von 2,5 Prozent und einem Anstieg der Erwerbstätigenzahl um 1,2 Millionen fortgesetzt hat, ließ sich zu Jahresbeginn 2010 so wenig beurteilen wie die Auswirkungen der schweren Rezession mit einem Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes 2009 um fast 5 Prozent und dem Anstieg der Kurzarbeiterzahl auf 1,3 Millionen. Der Sachverständigenrat Wirtschaft urteilte in seinem Jahresgutachten 2009/2010, im Vergleich zur Situation Mitte der 1980er Jahre sei in Deutschland und in vielen anderen OECD-Ländern eine Zunahme der Ungleichheit zu verzeichnen. Der Rat konstatierte wie das DIW eine Verfestigung an den Rändern der Einkommensverteilung.
Hartmann hat beobachtet, dass der Zugang zu Führungspositionen nach unten und zur Mitte immer stärker abgeschottet wird. Viele empfänden heute sozialen Aufstieg nicht mehr als ein Versprechen und als Chance, sondern als Bedrohung ihrer erreichten Position. In der Mitte selbst lebten viele in der Angst abzusteigen, aber es gebe immer noch Aufsteiger, wenn auch weniger als Absteiger.
Selbst im Bildungssystem überwiege nach der vierten Klasse, nach der 40 Prozent eines Jahrganges auf höhere Schulen − einschließlich der Fachoberschulen − wechselten, der Abstieg und nicht der Aufstieg. Es gebe dann noch kleine Schüleranteile, die auf Umwegen den Hochschulzugang erreichten, aber eine wirkliche Durchlässigkeit des Bildungssystems sei damit nicht gegeben, meint Hartmann.
Die Fachhochschulen, die ehemaligen Ingenieurschulen, seien früher dominiert worden von sozialen Aufsteigern, heute seien sie immer mehr zu Reservehochschulen für Akademikerkinder geworden, die die allgemeine Hochschulreife nicht geschafft haben. Sie retteten eher einen Status als ihn zu erhöhen.
Wer sich dieses Bild zu eigen macht, mag leicht zu dem Schluss kommen, wir lebten in einer Absteigerrepublik. Dafür finden sich unter Hartz-IV-Beziehern plakative Beispiele. Neben den Schatten gibt es jedoch auch Licht. Forschungsergebnisse des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass sich mit dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) die Arbeitsmarktchancen für diesen Personenkreis verbessert haben. „Daraus ist vorsichtig abzuleiten, dass sich die Arbeitsmarktpolitik auch und gerade im Rahmen des SGB II auf dem richtigen Weg befindet. Es wurde die Basis dafür geschaffen, einer Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit entgegenzuwirken und eine Überwindung der Arbeitsmarktkrise bei der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung zu beschleunigen“, hieß es in dem Bericht10. In dieser Studie zogen die IAB-Forscher eine Bilanz der fünf Jahre, seit denen das SGB II mit der Einführung der Grundsicherung galt. Kernstück des SGB II ist eine umfassende Aktivierung, die auf eine Stärkung der Eigenverantwortung und Autonomie der Betroffenen zielt. Auch wenn dies noch nicht voll zum Tragen komme, habe die strukturelle Arbeitslosigkeit verringert werden können, urteilten die Arbeitsmarktforscher. Es gibt also keinen Grund, alles schwarz in schwarz zu malen.
Mehrere IAB-Studien der letzten Jahre belegen, dass die Teilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im SGB II generell zu einer Verbesserung der individuellen Eingliederungschancen beiträgt. So konnte gezeigt werden, dass arbeitsmarktnahe Instrumente – wie Eingliederungszuschüsse und betriebliche Trainingsmaßnahmen – bei Hartz-IV-Empfängern ähnlich gut wirken wie bei Arbeitslosengeldbeziehern nach dem SGB III. Das IAB berichtete auch über erste Ergebnisse zur Förderung der beruflichen Weiterbildung (FbW) im SGB II. Sie verdeutlichen, dass Weiterbildungsmaßnahmen auch im Bereich der Grundsicherung ein effektives Instrument sein können.
Auch der Niedriglohnbereich ist nicht für alle dort Beschäftigten eine Sackgasse. Das IAB kam in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass etwa 13 Prozent der Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor anfangen – also etwa jedem Achten – der Aufstieg in einen besser bezahlten Bereich gelingt11. Jeder fünfte Mann schafft den Aufstieg, von den Frauen nur jede zehnte.
Wer sich um Details bemüht, findet viele Daten für eine differenzierte Beurteilung und Korrektur des Bildes einer Absteigerrepublik.
Eine Studie, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2009 für das Roman-Herzog-Institut zum „Recht auf Aufstieg“ angefertigt hat, zeigte, dass die Aufstiegschancen der Deutschen besser sind, als sie meinen. Die Einkommensmobilität bewegt sich in Deutschland im internationalen Rahmen. Die Aufstiegschancen, gemessen am Einkommen, sind nicht einmal in den USA wesentlich höher. Sowohl in Deutschland als auch in den USA schaffen jeweils rund ein Drittel der Menschen aus der untersten Einkommensschicht den sozialen Aufstieg. Zieht man die Daten des Sozio-Ökonomischen Panels für 1995 und 2007 heran, sind sogar 55 Prozent der Menschen in Deutschland in der Einkommensschichtung aufgestiegen, die meisten davon allerdings nur in die beiden nächst höheren Einkommensgruppen. Fünf Prozent schafften es in die höchste Einkommensgruppe. Die tatsächliche Aufwärtsmobilität ist erheblich höher als die wahrgenommene Chance auf einen Aufstieg. Allerdings kommt auch das IW zu dem Befund, dass sich die Aufwärtsmobilität der untersten Einkommensschicht in den letzten Jahren verringert hat. Dies führen die Autoren der Studie jedoch unter anderem auf den Wandel der Haushaltsstrukturen zu mehr Ein-Personen- und Alleinerziehenden-Haushalten zurück.
Besonders hoch ist die Einkommensmobilität von Universitätsabsolventen. Fast drei Viertel von ihnen konnten sich binnen zwölf Jahren um eine oder mehrere Einkommensgruppen verbessern. Die Daten der IW-Arbeitsmarktexperten zeigen, dass sozialer Aufstieg auch in Deutschland vor allem von der Leistung abhängt − also über Bildung und Arbeit erfolgt.
Dies bestätigt auch eine Wiederholungsbefragung der Hochschul-Informations-System GmbH von Universitäts- und FH-Absolventen unter dem Titel „Aufgestiegen und erfolgreich“. Zehn Jahre nach dem 1997 abgelegten Examen waren 16 Prozent (FH) bzw. 13 Prozent (Uni) der Absolventen leitende Angestellte. Zusammen mit den Gruppen der wissenschaftlichen Angestellten und der Selbstständigen bzw. Freiberufler sowie der Beamten nahmen die Absolventinnen und Absolventen zu ganz überwiegenden Anteilen angemessene Positionen ein. Die Einkommen der Vollzeiterwerbstätigen nach FH- oder Universitätsstudium lagen inklusive aller Zulagen durchschnittlich gleichermaßen hoch.
Besonders viele soziale Aufsteiger im Sinne der Generationenmobilität gibt es unter den Professoren der Ingenieurwissenschaften und der Informatik. Nach Befragungen der Forscher Manfred Nagel und Gerhard Müller12 haben 64 Prozent der Befragten Eltern, die beide nicht studiert haben. Überdurchschnittlich viele Professoren stammen aus handwerklich geprägten Familien. Die in letzter Zeit gesunkene Zahl der sozialen Aufsteiger in den Ingenieurwissenschaften erklären die Forscher mit dem Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft und der Zunahme der Akademikerquote. Kinder sozial „Angekommener“ könnten nun einmal selbst keine sozialen Aufsteiger mehr werden. Wie sehr Bildung und Weiterbildung Karrieren fördern, zeigen die Ergebnisse der Aufstiegsfortbildung. Im Handwerk machen Jahr für Jahr mehr als 20 000 Gesellen die Meisterprüfung. Als Motiv für die Meisterprüfung geben die Jungmeister vor allem den Wunsch an, beruflich voranzukommen und persönlich aufzusteigen. Die Meisterschule bleibt damit die wichtigste Aufstiegsfortbildung für die nichtakademischen Teile der Gesellschaft. 2010 strebte – wie in den Vorjahren – fast die Hälfte der Meisterjahrgänge in die Selbstständigkeit. Knapp ein Zehntel ist bereits selbstständig, für die anderen steht dieser Schritt in absehbarer Zeit an.
Was junge Handwerker motiviert, die Meisterprüfung abzulegen, haben die Handwerkskammern13 in den Jungmeisterumfragen 2010 wissen wollen. Mehr als die Hälfte gibt als Grund „die Freude an der Weiterbildung“ an. Fast zwei Drittel äußern den Wunsch nach beruflichem Aufstieg. Auch das Kernmotiv „berufliche Selbstständigkeit“ wird durch die Umfrage bestätigt. Jeweils rund vier von zehn Befragten betonen den Zusammenhang „Meisterprüfung – Selbstständigkeit“ und „Aufstieg durch Selbstständigkeit“. Im Meisterbrief sehen sie die Basis für verantwortliche Aufgaben als Führungskraft im Angestelltenverhältnis. Bei den Industrie- und Handelskammern haben seit der Wiedervereinigung mehr als 830 000 Menschen eine Prüfung als Fachkaufmann, Fachwirt, Industriemeister, Bilanzbuchhalter oder Betriebswirt gemacht. Die Weiterbildung hat sich für sie gelohnt: 70 Prozent sind aufgestiegen oder haben einen größeren Verantwortungsbereich erhalten, 61 Prozent haben mehr verdient.
Der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen der Weiterbildung wird sich noch erhöhen, wenn in den kommenden Jahrzehnten aufgrund des demografischen Wandels der Fachkräftemangel zunehmen und sich der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft beschleunigen wird. Je nach Berechnungsart könnte das deutsche Erwerbspersonenpotenzial bis 2025 um bis zu sieben Millionen schrumpfen. Die voraussehbaren Engpässe auf dem Arbeitsmarkt können kaum durch eine höhere Zuwanderung überwunden werden. Not tun eine höhere Erwerbsbeteiligung der Älteren und der Frauen sowie eine Qualifizierung für die stark expandierenden unternehmensnahen Dienstleistungen. 2008 und 2009 haben etwa ein Viertel aller Beschäftigten an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen. Das ist ein guter, aber kein ausreichender Wert. Wer sich qualifiziert, wird angesichts des steigenden Fachkräftemangels weitaus bessere Beschäftigungs- und Aufstiegschancen als in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haben.
Beim Blättern im „Buch der Bildungsrepublik“14 findet man Dutzende von faszinierenden Aufstiegskarrieren gerade auch von Migranten oder deren Kindern. Handicaps und Benachteiligungen von jungen Menschen mit einer familiären Zuwanderungsgeschichte abzubauen, ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern auch der Ausschöpfung des Nachwuchspotenzials, auf das die alternde und schrumpfende deutsche Gesellschaft angewiesen ist. Wie groß diese Herausforderung ist, spiegelt sich darin, dass 40 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien − fast dreimal so viele wie deutsche Jugendlichen − keinen beruflichen Abschluss haben und 17,5 Prozent die Schulen ohne Abschluss verlassen. Die Wahrscheinlichkeit von Hauptschülern mit einem Migrationshintergrund eine Lehre zu beginnen, liegt nur bei 32 Prozent, fast 60 Prozent landen zunächst in Übergangssystemen. Das erhöht nicht nur die Armutsgefahr und das Risiko der Arbeitslosigkeit, sondern erschwert die Integration.
Die Frage, wohin Deutschland steuert, entscheidet sich auch an der Antwort, welche Ausbildungs- und Aufstiegschancen es seinen Migranten bietet. Fast jeder fünfte Einwohner Deutschlands (19 Prozent) bzw. 15,6 Millionen von 82,1 Millionen hatte 2008 einen Migrationshintergrund. Darunter waren 7,3 Millionen Ausländer und 8,3 Millionen Deutsche. Aus der Türkei stammten 2,9 Millionen. Im Handwerk haben 400 000 bis 450 000 Mitarbeiter (acht bis neun Prozent gegenüber 7,1 Prozent in der Gesamtwirtschaft) einen ausländischen Pass, aber noch weitaus mehr kommen aus eingebürgerten Migrantenfamilien. Und in den Lehrgängen der Bildungsstätten des Handwerks haben weitaus mehr, nämlich 70 bis 80 Prozent der Teilnehmer einen Migrationshintergrund. Um den Trend zu verdeutlichen, formuliert der Zentralverband des deutschen Handwerks: „Der Meister der Zukunft ist ein Türke“. „Der Türke“ steht als Synonym für eine Person mit Migrationshintergrund. Damit will das Handwerk bewusst machen, dass es aufgrund des demografischen Wandels immer schwieriger werden wird, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft für eine handwerkliche Ausbildung zu interessieren. Die Gruppe der Migranten stellt für das Handwerk ein großes Potenzial zur Nachwuchssicherung dar, und an Aufstiegswillen mangelt es den meisten Migrantenkindern nicht. Stellvertretend für viele andere benennt es der in seinen ersten Schuljahren unter einer Legasthenie leidende Fernsehmoderater, der „fröhlichste Morgenwecker der Nation“, Cherno Jobatey: „Mein Ticket aus den Berliner Hinterhöfen war Bildung, Wissen, Glück und jede Menge harte Arbeit.“15
Wie die hier zusammengetragenen Daten zeigen, sind die Alternativen „Absteiger- oder Aufsteigerrepublik“ nicht zur Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung geeignet. Die „Absteigerrepublik“ ist ein Zerrbild, das die von Millionen Menschen wahrgenommen Aufstiegschancen ausblendet, die „Aufsteigerrepublik“ ist ein Wunschbild, das das Schrumpfen der Mittelschicht und die Abstiege in die Hartz-IV-Grundsicherung ignoriert.
Doch die Polarisierung der Gesellschaft in „die da unten“ und „die da oben“ hat zugenommen. Zumindest scheint es so, wenn man den Medien Glauben schenkt. Nach dem Motto „Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht“ finden sich Berichte über Probleme und Versäumnisse öfter auf den Titelseiten als Meldungen über Gelungenes. In manchen Fällen ist es auch die Angst, der „Hofberichterstattung“ verdächtigt zu werden, die die Medien lieber zur überkritischen Brille greifen lässt.
Erstaunlicherweise scheint die heutige junge Generation in Deutschland von den Schreckensmeldungen unberührt. Sie hat sich weder durch die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 noch durch die unsicher gewordenen Berufsverläufe und -perspektiven von ihrer optimistischen Grundhaltung abbringen lassen. Fast zwei von drei Jugendlichen blicken ihrer Zukunft zuversichtlich entgegen und fast drei von vier sind überzeugt davon, sich ihre beruflichen Wünsche erfüllen zu können. Mit dieser guten Nachricht wartete die Shell-Jugendstudie des Jahres 2010 auf. Für die Studie wurden mehr als 2.500 Jugendliche im Alter von zwölf bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Glaubens- und Wertvorstellungen sowie ihrer Einstellung zur Politik befragt. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Die Jugend des Jahres 2010 zeichnet sich durch Optimismus und Selbstvertrauen aus, persönlicher Erfolg ist ihr wichtig, Fleiß und Leistungsbereitschaft stehen bei den meisten hoch im Kurs.
Die jungen Menschen wollen aus ihrem Leben etwas machen, vorwärts kommen, Erfolg haben und aufsteigen. So fatalistisch, wie andere Umfragen Glauben machen, sind viele nicht. Sie ahnen oder wissen auch, dass sie die Unternehmer ihres Lebens sind, dass der Schlüssel zum persönlichen Erfolg bei ihnen selbst liegt, bei ihrer Bildungs- und Leistu ngsbereitschaft.
Wie kann man sie in diesem Bemühen besser unterstützen als mit Beispielen, mit Vorbildern, die sie ermutigen, an die eigene Kraft zu glauben, an die eigene Selbstwirksamkeit, wie dies die Psychologen nennen. Der römische Dichter und Philosoph Seneca wusste: „Die Menschen glauben den Augen mehr als den Ohren. Lehren sind ein langweiliger Weg, Vorbilder ein kurzer, der schnell zum Ziel führt.“ Im Grunde ist es ein ganz altmodisches Konzept, weswegen in den Medien Anregungen und Tipps gerne von „Prominenten“ gegeben werden. Man muss aber nicht prominent sein, um ein gutes Vorbild abzugeben. Die folgenden Porträts zeigen solche Vorbilder. Sie kommen aus unterschiedlichen Welten, aber alle haben sie aus den Steinen, die ihnen im Weg lagen, schöne Dinge gebaut. Sie haben keinen Fahrstuhl zum Erfolg vorgefunden. Der schweißtreibende Weg nach oben führte sie über eine Treppe mit vielen Stufen. Was sie eint, ist der Mut, den ersten und viele weitere Schritte zu tun, um ihre Vorstellung von Erfolg und Glück zu verwirklichen.