Читать книгу Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf - Страница 13
ОглавлениеAbtauchen gibt es für Andrea Nahles nicht. Nach einer langen Wahlnacht stellt sie sich im Morgenmagazin des 28. September 2009 den Fragen des ARD-Korrespondenten. Die SPD hat 11,2
Prozentpunkte verloren. Sie ist auf 23,03 Prozent abgestürzt. Es ist das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl, eine historische Niederlage. Für Andrea Nahles ist die Chance vertan, Bildungsministerin in einer von Frank-Walter Steinmeier geführten Regierung zu werden. Die stellvertretende SPD-Vorsitzende versucht gar nicht erst, das Ergebnis schönzureden, spricht von einem massiven Vertrauensverlust, aber auch der festen Absicht, das Vertrauen zurück zu gewinnen. Sie prophezeit, dies werde kein Sprint sondern ein Mittelstreckenlauf. Der Optimismus, der sie auszeichnet, ist an diesem Morgen nach der Wahlniederlage verhalten, das Lächeln durchzogen von Nachdenklichkeit und Entschlossenheit. Das Ergebnis sei kein Signal für ein „Weiter so“, sagt Frau Nahles in das Mikrofon des Reporters. Mehr nicht. Über die nun anstehende Erneuerung der SPD will sie zunächst hinter verschlossenen Türen sprechen.
Trotz der erdrutschartigen Verluste der SPD zieht Andrea Nahles 2009 wieder in den Bundestag ein. Die rheinland-pfälzische SPD hatte sie auf den sicheren Platz 1 ihrer Landesliste gesetzt. Denn den Wahlkreis Ahrweiler, in dem sich Andrea Nahles wieder um ein Direktmandat beworben hat, gewinnt auch 2009 Mechthild Heil von der CDU. Zwar hat Mechthild Heil über vier Prozent weniger Erststimmen als bei der Bundestagswahl 2005 erhalten, aber Andrea Nahles hat gegenüber 2005 elf Prozentpunkte eingebüßt und nur noch 24,9 Prozent der Erststimmen gewonnen. Einen kleinen Nahles-Bonus gibt es im Wahlkreis 199 dennoch, denn mit nur 21,9 Prozent hat die SPD bei den Zweitstimmen noch schlechter abgeschnitten.
Hätten sich die Bürger im gesamtem Wahlkreis Ahrweiler so entschieden wie die Wähler in Weiler, der Heimatgemeinde von Andrea Nahles, wäre ihr das Direktmandat sicher gewesen. Andrea Nahles gewinnt in Weiler 54 Prozent der Erststimmen, doppelt so viel wie die SPD Zweitstimmen. Rechnet man den zwei Kilometer entfernt gelegenen Ortsteil Niederelz hinzu leben 532 Einwohner in der Gemeinde.
Den Heimvorteil in Weiler verdankt Andrea Nahles der Bodenständigkeit der Familie Nahles und ihrer Heimattreue, vielleicht auch ein wenig dem Fest, zu dem sie das ganze Dorf auf ihren Hof eingeladen hat. Vater Nahles hat den alten Backes auf ihrem Hof angeheizt, Andrea Nahles und ihre Mutter backen herrlich duftendes Brot und Kuchen, die von ihrem Vater destillierten Obstbrände sorgen für beste Stimmung. Andrea Nahles wohnt auf dem über 250 Jahre alten Bauernhof ihrer Urgroßeltern mütterlicherseits. Ihr Vater, der Maurermeister Alfred Nahles, hat ihn restauriert und modernisiert. Auf dem nahen Reiterhof steht ihr Pferd „Siepke“, ein großer schwarzer Friese mit buschiger Mähne.
Die Familie Nahles engagiert sich im Dorf. Der Vater hat den Kirchenchor gegründet und lange geleitet, ihr jüngerer Bruder hat die Orgel in der Kirche gespielt, heute sitzt ihre Cousine auf der Orgelbank. Andrea Nahles Mutter, eine Ex-Finanzangestellte, ist im Verwaltungsrat der Pfarrgemeinde und für deren Kasse zuständig.
Andrea Maria Nahles wächst in einem gut katholischen Elternhaus auf. Sie besucht die Zwergschule im Ort, in der ein Lehrer die erste und die zweite Klasse zusammen in einem Raum unterrichtet, wird Messdienerin und arbeitet in einer ökumenischen Jugendgruppe mit.
Nach der Grundschule wechselt sie auf die Realschule, obwohl sie eine Gymnasialempfehlung hat. Die Eltern trauen es sich finanziell nicht zu, die Tochter und ihren Sohn gleichzeitig auf das Gymnasium zu schicken. Das traditionelle Rollenbild im Kopf, entscheiden sie, dass Andreas Bruder das Gymnasium besuchen, die Tochter auf die Realschule gehen und eine Banklehre beginnen soll. Der Bruder besucht das Gymnasium und macht später als Arzt Karriere.
Andrea Nahles bleibt bis zur zehnten Klasse auf der Realschule. Ihre Realschullehrer setzen sich dafür ein, dass sie auf das Gymnasium wechselt. Sie nimmt noch auf der Realschule an Vorbereitungskursen teil, verbessert unter anderem ihr Englisch, und geht mit fünf anderen Schülern auf das Gymnasium. Statt die Spätwechsler zu ermutigen, legen es einige Gymnasiallehrer darauf an, die ehemaligen Realschüler vorzuführen. Ein Deutschlehrer nimmt Andrea Nahles sechs Wochen immer wieder dran, um zu beweisen, dass Realschüler wenig können. Das Bloßstellen gelingt jedoch nicht. In Deutsch ist Andreas Nahles ein Ass. „Es war wirklich übel. Statt die Durchlässigkeit zu fördern, erwartete mich zunächst eine Kette von Entmutigungen.“
Sie muss zudem in der Zeit des Wechsels von der Realschule auf das Gymnasium viele Wochen wegen eines Sehnenabrisses im Krankenhaus verbringen. Die Hälfte ihrer Gymnasialzeit kann sie nur mit Krücken gehen. Obwohl schon der Übergang auf das Gymnasium und die körperlichen Beeinträchtigungen viel Kraft erfordern, übernimmt sie noch die Chefredaktion der Schülerzeitung „Morjen“. Einmal findet eine Redaktionssitzung bei ihr im Krankenhaus statt. Sie macht ein gutes Abitur. Alle fünf ehemaligen Realschüler liegen mit ihren Abiturnoten im oberen Drittel.
Zweifel, ob sie das Abitur schafft, hat Andrea Nahles nicht gehabt. Aber von ihrer Selbstwirksamkeit ist sie nicht einhundertprozentig überzeugt. In ihrem kurz nach der Bundestagswahl 2009 erschienen Buch „Frau, gläubig, links. Was mir wichtig ist“ wirbt sie für eine „Kultur des Zweifels“. Im Gespräch sagt sie: „Ich bin immer von Selbstzweifeln geprägt gewesen, habe sie mir aber nicht anmerken lassen. Ich habe jedoch einen guten Antritt, überwinde Zweifel und entscheide schnell. Diese Entscheidungsstärke zeichnet mich aus. Ich stehe auch zu meinen Entscheidungen, selbst wenn sie sich als falsch erweisen“. Dieses Verhalten hat sie von klein auf gelernt. In der Nahles-Familie gibt es kein „Vertun“, was man angefangen hat, muss man, so gut es geht, zu Ende bringen. Halbe Sachen macht Andrea Nahles nicht. Für sie gilt immer „volle Kraft voraus“. Sie ist wie ihr Vater ein Energiebündel. Vorsicht und exaktes Planen hat sie von der Mutter gelernt, die Wert darauf legt, ihre Kinder früh zur Selbstständigkeit zu erziehen.
Einen der wichtigsten Werte der Familie Nahles lebt die Großmutter vor: ein starkes Arbeitsethos. Sie führt die sechsjährige Andrea an Aufgaben und Pflichten in der Familie heran und bereitet sie darauf vor, dass das Leben kein Zuckersch lecken ist.
Ihr starkes Interesse an der Geschichte sensibilisiert Andrea Nahles schon in der Schule für die Politik. Hinzu kommt der Einfluss der Ökobewegung. Als in Kaiseresch und Mayen, im Umkreis von 15 Kilometern zu Weiler, gleich zwei Müllverbrennungsanlagen gebaut werden sollen, engagiert sich die Siebzehnjährige in einer vom BUND für Umwelt und Naturschutz koordinierten Bürgerinitiative. Beide Anlagen werden nicht gebaut. Andrea Nahles erkennt, dass man mit Argumenten und Mehrheiten in den Stadträten etwas verändern kann.
Mit 18 Jahren tritt Andrea Nahles 1988 der SPD bei. Der Zufall will es, dass die SPD in diesem Jahr 125 Jahre alt wird. Wenige Wochen später gründet sie in Weiler einen SPD-Ortsverein.
Als Grund für ihren Eintritt in die SPD nennt Andrea Nahles ihren Gerechtigkeitssinn. Die Gesellschaft sei 1988 in dem über viele Jahrzehnte von der CDU regierten Rheinland-Pfalz noch sehr hierarchisch strukturiert gewesen. Wer zu den „besseren Leuten“ gehören wollte, habe Unternehmer oder ein hohes Tier in der CDU sein müssen.
Andrea Nahles arbeitet neben der Schule als freie Mitarbeiterin der Rheinzeitung. Sie will damals noch Journalistin werden. Durch ihre freie journalistische Tätigkeit erhält sie Einblick in die Kommunalpolitik und in die Arbeit der Parteien. Sie gewinnt den Eindruck, für junge Frauen wie sie, die Ehrgeiz haben und etwas bewegen wollen, sei kein Platz in der Union. Diese von ihr empfundene Situation in der Union verletzt für sie die Chancengerechtigkeit der Geschlechter, eine von ihr immer wieder gemachte Erfahrung. Hinzu kommt die Überzeugung, solidarisch helfen zu müssen, wenn andere auf Unterstützung angewiesen sind, so wie es ihre Mutter tut, als sie die Vormundschaft für eine blinde Tante übernimmt.
Gerechtigkeit üben heißt für Andrea Nahles aber vor allem, Partei zu ergreifen für die Benachteiligten und Wehrlosen, für Schüler, die von anderen gemobbt werden oder für einen Schüler aus einer sozial schwachen Familie, der von den Lehrern nicht gefördert sondern besonders schlecht behandelt wird. Solche Vorfälle werden in der Familie Nahles diskutiert und als ungerecht gebrandmarkt. Wenig Sympathie gibt es in der Familie für jene, die arbeiten könnten, aber es nicht tun. Ein bedingungsloses Grundeinkommen wird auch die spätere Politikerin Andrea Nahles immer ablehnen.
Nach dem Abitur am Gymnasium in Mayen studiert Andrea Nahles ab 1990 an der Bonner Universität Politik, Philosophie und Germanistik. Als sie Bundesvorsitzende der Jungsozialisten wird und eine 60-Stunden-Woche hat, muss sie das Studium zunächst ruhen lassen. Sie schließt es aber trotz der Doppelbelastung ab, als Magistra Artium bei dem Germanisten und Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Fohrmann, dem späteren Rektor der Universität. Der Titel ihrer Magisterarbeit lautet: „Über die Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman“. Sie sei insofern für ihre Arbeit in der SPD gut vorbereitet gewesen, sagt sie mit einem verschmitzten Lachen, weil Katastrophen in den Beziehungen zwischen Parteimitgliedern auch immer wieder vorkommen. Auch das konzeptionelle Denken, das vernetzte Denken in systemischen Zusammenhängen habe sie im Studium gelernt. Dieses strukturierte Denken, das gute Gefühl für Menschen und für Situationen habe ihr in der politischen Arbeit sehr geholfen. Die 2004 angefangene Promotion über „Walter Scotts Einfluss auf die Entwicklung des historischen Romans in Deutschland“ kann sie nicht beenden. Die vorgezogene Bundestagswahl 2005 kommt dazwischen. Sie entscheidet sich gegen eine universitäre Laufbahn und für eine politische Karriere. „Mich drängt es, etwas zu bewegen und zu gestalten.“
Einen Masterplan für ihre politische Karriere hat Andrea Nahles nicht. Durch die Gründung des Ortsvereins in Weiler werden die Untergliederungen des Jungsozialisten und der Landespartei auf sie aufmerksam. Nahles wird schnell stellvertretende Kreisvorsitzende, dann Kreisvorsitzende der Jusos in Mayen-Koblenz, 1992 stellvertretende Juso-Landesvorsitzende. Mit 23 Jahren führt sie ab 1993 den Landesverband der Jusos. Sie will für zwei Jahre Landesvorsitzende bleiben, um danach ihr Studium zu beenden. Im Mai 1995 gibt sie deshalb den Landesvorsitz der Jusos auf. Aber es kommt anders. Im Mai tagt auch der Juso-Bundeskongress in Gera. Der Juso-Vorsitzende Thomas Westphal wird mit einer Mehrheit von nur zwei Stimmen gewählt, die Wahl wird erfolgreich angefochten. Thomas Westphal, der knapp gewählte neue Vorsitzende, verzichtet bei der fälligen Wahlwiederholung auf eine erneute Kandidatur.
Nun suchen die Delegierten einen Kandidaten, der nicht in die Strömungskämpfe involviert ist, am besten eine Frau. Das trifft nur auf Andrea Nahles, die ehemalige Landesvorsitzende aus Rheinland-Pfalz zu. Andrea Nahles erbittet sich eine Bedenkzeit von zwei Wochen, denn eigentlich will sie ihr Studium beenden. Sie entschließt sich jedoch zu kandidieren, weil die Jusos in einer schweren Krise stecken. „ Es ist ein Zufall der Geschichte, dass ich Juso-Bundesvorsitzende geworden bin. Hätte ich gewusst, was auf mich zukommt, hätte ich damals „Nein“ gesagt.“ Auf Andrea Nahles stürmt ein „Hurrikan“, eine gewaltige Arbeitslast zu. Gleich am ersten Tag nach ihrer Wahl erhält sie zwanzig Interviewanfragen. An einen schnellen Abschluss des Studiums ist nicht zu denken. Aber sie steht zu ihrer Entscheidung.
Sie schließt als Juso-Vorsitzende eine strategische Allianz mit dem Vorsitzenden der IG Metall-Jugend. Beide organisieren in Frankfurt eine „Kohl-muss-weg“-Kampagne, an der sich 40 000 Jugendliche beteiligen. Die Zusammenarbeit konzentriert sich auf das Thema Ausbildung und Arbeit. Es wird Andrea Nahles politisches Kernthema. Ihre Rede auf dem außerordentlichen Jugend-Parteitag der SPD 1996 bringt für sie den Durchbruch in der Partei. Oskar Lafontaine überlässt ihr die Hauptbühne. Er hat Andrea Nahles Rede, bevor sie diese hält, gelesen, ungeachtet der darin auf ihn enthaltenen Angriffe für gut befunden und trotz der Einwände des damaligen SPD-Bundesgeschäftsführers Franz Müntefering auf die Hauptrede verzichtet. Die „Welt“ schreibt, die Nachwuchspolitikerin nutzt die Gelegenheit und liest den in die Jahre gekommenen Enkeln gehörig die Leviten. „Erst habt ihr die Alten überrannt – so weit okay – und dann habt ihr aus Konkurrenzangst die Jungen über Jahre hinweg einfach weggebissen.“ Für solche Sätze gibt es stürmischen Applaus.
Nahles und die Jusos kämpfen auf dem Parteitag dafür, Betriebe, die nicht ausbilden, mit einer Umlage zur Kasse zu bitten. Nahles im Juso- Jargon: „Wer nicht ausbildet, wird umgelegt.“ Der Parteitag beschließt gegen den Widerstand von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder die Ausbildungsumlage.
Lafontaine wird Andrea Nahles Förderer. Andrea Nahles ahnt damals noch nicht, dass die wechselseitige Unterstützung für sie Folgen haben wird. Andrea Nahles wird 1997 ordentliches Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und bleibt bis 1999 Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Beim Machtwechsel 1998 zieht sie über die rheinland-pfälzische Landesliste in den Bundestag ein. Die Lafontaine-Anhängerin hat zwar nur Platz 12 auf der SPD-Liste erhalten, aber angesichts von 41,3 Prozent der Zweitstimmen für die Landes-SPD reicht der Platz für den Einzug in den Bundestag. Im Jahr 2000 wird Nahles stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Sozialordnung der SPD-Bundestagsfraktion. In diesem Jahr gründet sie auch das „Forum Demokratische Linke 21“ in der SPD, die Nachfolgeorganisation des Frankfurter Kreises. Anders als 1998 schafft Andrea Nahles bei der Bundestagswahl 2002 nicht den Einzug in den Bundestag. Die Liste der SPD in Rheinland-Pfalz erhält nur noch 38,2 Prozent der Zweitstimmen. Nahles fehlen 34 Stimmen. Sie hat zwar Platz 11 auf der Landesliste bekommen, der ist aber bei dem erwarteten schlechteren Abschneiden der SPD ein Wackelplatz. Eine Kampfkandidatur um einen besseren Landeslistenplatz kann sie nicht wagen, weil ein Teil der Bezirks- und Unterbezirksvorsitzenden ihr immer noch übel nimmt, dass sie auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995 Oskar Lafontaine und nicht den Rheinland-Pfälzer Rudolf Scharping unterstützt hat. Die gerade zur Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählte Andrea Nahles und weitere 60 Jungsozialisten unter den Delegierten haben damals für Lafontaine votiert und zur Abwahl Scharpings als SPD-Vorsitzendem beigetragen.
Das vergisst die Landespartei der Rheinland-Pfälzerin nicht so schnell. An der Spitze der Landes-SPD steht damals Kurt Beck, der Rudolf Scharping viel zu verdanken hat. Andrea Nahles büßt noch nach Jahren für ihre Parteinahme zugunsten Lafontaines. Lafontaine hat allerdings bereits im März 1999 alle seine politischen Ämter niedergelegt. Nahles und viele andere Lafontaine-Anhänger in der SPD fühlen sich von ihm betrogen. Nach der Bundestagswahl 2002 arbeitet Andrea Nahles im Berliner Büro der IG Metall, behält aber ihr Bürgerbüro im Wahlkreis Ahrweiler bei. Sie leistet konzeptionelle Arbeit um das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften zu verbessern, organisiert Hospitanzen von Gewerkschaftsjunioren bei Bundestagsabgeordneten und lernt Verwaltungsstellen der IG Metall kennen. Der von der IG Metall gewünschte Blick von außen auf ihre Organisation fällt, was die Gleichstellung von Mann und Frau anbelangt, kritisch aus. „Ein ziemlicher Macho-Laden“, kommentiert Nahles ihre Erfahrungen. Beeindruckt ist sie von der Kompetenz der IG Metaller, die ihr mit guten Kenntnissen der Betriebe in der Region und ihrem ökonomischen Sachverstand imponieren.
Die Zeit von 2002 bis 2005 hätte meinen politischen Tod bedeuten können, sagt Nahles im Rückblick. Aber ihre Partei-Karriere endet nicht, sondern gewinnt an Tempo. Sie wird mit einem Spitzenergebnis wieder in den Parteivorstand gewählt und rückt im Dezember 2003 in das Parteipräsidium auf.
Ihre innerparteiliche Position festigt Andrea Nahles, als sie der damalige SPD-Chef Gerhard Schröder mit der Entwicklung des Konzeptes der Bürgerversicherung beauftragt. „Ich bin nur so weit gekommen, weil ich konzeptionell, weil ich politisch inhaltlich gearbeitet habe“, urteilt Andrea Nahles. Das sieht auch ein Teil der Medien so, wenn auch mit einem alarmierenden Unterton. „Lange nichts gehört von Andrea Nahles. Jetzt ist sie plötzlich wieder da − und gilt gar als Hoffnungsträgerin der SPD. Denn die ehemalige Juso-Chefin hat ein neues Amt: Sie ist Leiterin der „Projektgruppe Bürgerversicherung“, schreibt die FAZ Mitte Mai 2004 unter der Überschrift: „Eine linke Sirene schreckt die Reichen“. Zwar fehlt in dem Konzept, das die Arbeitsgruppe Ende August 2004 vorlegt, die Einbeziehung der Mieteinkünfte in die Beitragspflicht, aber zum Reichenschreck taugt es immer noch. „Es ist politisch gewollt, dass diese Kapitaleinkünfte zur Finanzierung der Krankenversicherung herangezogen werden“, erläutert Nahles gegenüber verdi.de. „Denn die Bürgerversicherung ist auch eine Antwort auf die demografische Entwicklung: Wenn wir keine zusätzlichen Finanzierungsquellen finden, wird der Beitrag als Folge der Altersstruktur unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren deutlich steigen. Wir halten es für den besten Weg, bei den Kapitaleinkünften anzusetzen. Denn damit trifft man diejenigen, die wirtschaftlich gut dastehen.“ Ihre Rolle als konzeptionelle Vorarbeiterin füllt Nahles auch als Leiterin einer Projektgruppe zu Mindestlöhnen und einer Arbeitsgruppe zur Leiharbeit aus. „Ich habe als Präsidiumsmitglied politische Positionierungen meiner Partei gründlich und erfolgreich vorbereitet“, sagt Andrea Nahles mit leichter Verärgerung, weil dies in allen Berichten über sie unterschlagen werde.
Zusammen mit Wolfgang Thierse macht sie sich im Sommer 2007 auch an die Überarbeitung des Entwurfs für das neue Grundsatzprogramm der SPD, das im Oktober 2007 verabschiedete Hamburger Programm. Der Entwurf sei garantiert nicht mehrheitsfähig gewesen. Nahles schreibt die Einleitung sowie die Kapitel Europa, Arbeit und Soziales teilweise neu. Das Grundsatzprogramm schärft das Profil der SPD als der linken Volkspartei.
Andrea Nahles ist inzwischen in den Bundestag zurückgekehrt. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat sie die rheinland-pfälzische SPD auf den sicheren Platz vier der Landesliste gesetzt. Als Ende 2009 ihr Buch „Frau, gläubig, links“ erscheint, kommentieren viele Medien, das Buch diene der Imagekorrektur. In den Leitmedien sei Nahles auf die Rolle der ewigen SPD-Linken und Ränke schmiedenden Königsmörderin festgelegt. Sie sei über die falschen Zuschreibungen genervt. Als Königsmörderin sieht sie sich in der Tat nicht.
Als im Oktober 2005 die Ministerposten in der großen Koalition verteilt werden, gibt Andrea Nahles ihre Kandidatur für das Amt der Generalsekretärin bekannt. Alle sich damals aus dem personellen Tableau der Partei ergebenden Kriterien treffen auch auf sie zu: sie ist jung, weiblich und links und hat zudem mit der Bürgerversicherung bewiesen, dass sie konzeptionell arbeiten kann. Als sie ihre Kandidatur anmeldet, sei keine andere Kandidatur auf dem Markt gewesen, korrigiert Nahles die Darstellung des Ablaufes in einigen Medien. Details will Nahles nicht nennen, solange bestimmte Politiker noch in politischen Funktionen aktiv sind.
Ihre Kandidatur sei positiv in der Partei aufgenommen worden. Sie habe für diese Kandidatur auch eine klare Mehrheit im Parteivorstand bekommen. Erst eine Woche später habe der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering über eine Ticker-Meldung verbreiten lassen, dass er den SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel bei einer Kandidatur für das Amt des Generalsekretärs unterstützt. Wasserhövel habe zwar als guter Organisator gegolten, aber als Repräsentanten der Partei in der Öffentlichkeit hätte ihn kaum jemand gesehen, erst recht nicht als eine eigenständige Stimme der Partei gegenüber Franz Müntefering. Ein solches Gegengewicht halten viele in der SPD für unverzichtbar, weil Müntefering Vizekanzler der großen Koalition werden sollte und dadurch besonders stark in die Koalitionsdisziplin eingebunden gewesen wäre. Die sich anbahnende Eskalation ist für Nahles nicht erkennbar, schließlich hat sie mit Müntefering und Wasserhövel bislang gut zusammengearbeitet. Sie sieht ihre Kandidatur als ein Angebot und eine Ergänzung, eine deutliche Mehrheit im Parteivorstand teilt ihre Perspektive. Versuche, den heraufziehenden Eklat in letzter Minute zu verhindern, scheitern.
In die Abstimmung im Parteivorstand über die Nominierung des Generalsekretärs geht sie nicht mit dem Gefühl zu gewinnen, sondern knapp zu verlieren. Das Ergebnis überrascht sie: der Parteivorstand schlägt sie mit einer Mehrheit von 23 zu 14 Stimmen als Generalsekretärin vor. Die überdeutliche Mehrheit signalisiert, dass sich Unzufriedenheit in der Partei ein Ventil gesucht hat. Andrea Nahles kann sich über ihren Triumph nicht eine Sekunde freuen. Ihr ist sofort klar, dass dieses Stimmenergebnis für Müntefering demütigend ist. Müntefering tritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurück. Andrea Nahles will sich nicht auf ein Angebot des neuen Parteichefs einlassen, stellvertretende Parteivorsitzende zu werden. Die SPD-Rechte macht auch entschieden Front dagegen. Der Sprecher des konservativen „Seeheimer Kreises“, Johannes Kahrs, sagt der ARD vor der Entscheidung über Nahles’ neue Rolle, es dürfe keine Belohnung für die „Königsmörderin“ geben. „Ich halte es für absurd, dass jemand als Königsmörderin belohnt wird, der mit seiner Sturheit die Partei in die Krise geführt hat.“
Nahles sieht sich nach ihrem Empfinden in Teilen der Partei einer Treibjagd ausgesetzt. Prominente SPD-Politiker fordern von ihr, sie solle sich für ihre Kandidatur entschuldigen. Das lehnt Nahles ab. Sie nimmt sich selbst aus dem Spiel, kandidiert weder als Generalsekretärin noch als SPD-Vize-Vorsitzende. Sie steht am Nullpunkt ihrer Karriere, zieht sich nach Weiler zurück. Die Eltern berichten ihr, dass die Bildzeitung mit zwei Leuten im Dorf gewesen sei und fast jeden befragt hätte. Doch keiner im Dorf habe irgendetwas Schlechtes über Andrea Nahles gesagt. Die „Bild“-Reporter ziehen wieder ab und bringen keine Zeile über ihre Recherche in Weiler. „Es hat mir gut getan, dass mein Dorf so hinter mir steht“, kommentiert Nahles diese Erfahrung.
Über den unerwarteten Rücktritt Münteferings und den tragischen Verlauf ihrer Kandidatur denkt sie auch heute noch nach. Sie zweifelt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Kandidatur zurückgezogen zu haben. Sie habe aber nicht voraussehen können, dass Münteferings Nachfolger an der Parteispitze, Matthias Platzeck, krank werden und dessen Nachfolger Kurt Beck nicht reüssieren würde. Ihr Verhältnis zu Kurt Beck ist mittlerweile sehr gut, sie steht auch in dessen bitteren Stunden an seiner Seite. Das Kesseltreiben gegen den neuen SPD-Vorsitzenden Beck findet sie ungerecht. Sie ist davon überzeugt, dass der Absturz der SPD auf damals 26 Prozent in den Umfragen nicht an einer Person liegt, sondern an der Politik der SPD und am Glaubwürdigkeitsdefizit der Partei. Auf dem Karlsruher Parteitag am 16. November 2005 kommt es zu einer Geste der Versöhnung zwischen Müntefering und Nahles. Die Delegierten wählen sie mit einer deutlichen Mehrheit von 323 Stimmen im ersten Wahlgang wieder in den Parteivorstand. Nahles ist erleichtert. Sie hat in der Partei noch eine Zukunft, zieht wieder in das Präsidium ein und wird im Oktober 2007 mit fast 75 Prozent der Delegierten- stimmen zur stellvertretende SPD-Vorsitzenden gewählt. Wenige Monate später wird sie auch stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Der SPD-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 2009, Frank-Walter Steinmeier, beruft sie in sein Kompetenzteam. Darin ist sie für Bildung zuständig.
Nach dem Wahldebakel der SPD bei der Bundestagswahl 2009 unternimmt Andrea Nahles auf dem Dresdener SPD-Parteitag im November 2009 einen zweiten Anlauf, Generalsekretärin der SPD zu werden. „Die Welt“ schreibt bereits am 11. Oktober über die künftige Generalsekretärin: „Andrea Nahles – eine Anti-Merkel prägt die SPD. Mit ihrem künftigen Posten als Generalsekretärin hat Andrea Nahles ihre Traumrolle gefunden. Schon seit Jahren prägt sie die Politik der SPD und hat viele linke Positionen durchgesetzt. In Acht nehmen müssen sich jetzt nicht nur konservative Parteikollegen, sondern auch die Bundeskanzlerin.“ Am 13. November 2009 nach dem Kirchgang wettet Andrea Nahles mit Prälat Karl Jüsten um eine Flasche Rotwein, dass sie auf dem Parteitag nur 70 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen werde. Jüsten schätzt 80 bis 85 Prozent. Nahles wird mit 69,6 Prozent der Stimmen zur Generalsekretärin gewählt. „Ich könnte fast alle Delegierten, die mich nicht gewählt haben, namentlich nennen“, sagt die neue Generalsekretärin. Die Netzwerkerin Nahles kennt ihre Partei, die Abneigung der Parteirechten gegen sie, aber auch die Enttäuschung einiger Linker. Sie habe schon als stellvertretende SPD-Vorsitzende klar gemacht, dass sie nicht mehr Sprecherin der Parteilinken sei, erklärt Nahles die Stimmeneinbußen bei ihrer früheren Hausmacht. „Ich arbeite jetzt aus dem Zentrum der Partei für die Partei. Nur so kann ich meiner Aufgabe gerecht werden.“
Natürlich hätte sie sich über einige Prozentpunkte mehr gefreut, aber sie weiß, dass sie mit ihrer politischen Vita, mit ihren Konflikten, nicht everybody’s darling sein kann. Als zentrales Ziel ihrer Politik nennt Nahles: Arbeit zu schaffen, gute, Existenz sichernde Arbeit, statt mit Sozialtransfers den Mangel an Arbeit erträglich zu machen. Diese Orientierung auf Arbeit zeichne Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und sie aus. „Gerechter Lohn für gute Arbeit“ ist für sie ein immer aktueller Gerechtigkeitsbegriff.
Auch nach einem langen, mit Terminen voll gestopften Arbeitstag zeigt Andrea Nahles keine Stresssymptome, ist sie hoch konzentriert, obwohl der Tag für sie um 6:30 Uhr in der Frühe beginnt. Das preußische Arbeitsethos ist ein Familienerbe, ihre unerschöpfliche Energie wohl auch. Doch was feuert dieses politische Kraftwerk an? Nach Erfolgen ist sie nicht supereuphorisch, nach Niederlagen nicht tief deprimiert. Sie weiß, dass beides kommt und geht. „Entscheidend ist meine innere Haltung. Ich versuche aus jeder Situation das Beste zu machen.“ Diese lebensbejahende, optimistische und zupackende Grundhaltung spiegelt sich in ihrem Motto: „Carpe diem“− nutze den Tag. „Wenn ich nicht die Grippe habe, gehe ich optimistisch in jeden Tag. Ich bin auch kein Ego-Typ. Ich weiß, dass mir vieles im Team besser gelingt als allein. Deshalb bin ich gern Generalsekretärin der SPD.“